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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein ambivalenter Text

Geordnete Verhältnisse
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Faina ist zehn als sie in den 90er-Jahren ihre Heimat, die Ukraine, verlässt und mit ihrer Familie nach Deutschland umsiedelt. Auf der neuen Schule lernt sie Philipp kennen, der sich mit Freundschaften ...

Faina ist zehn als sie in den 90er-Jahren ihre Heimat, die Ukraine, verlässt und mit ihrer Familie nach Deutschland umsiedelt. Auf der neuen Schule lernt sie Philipp kennen, der sich mit Freundschaften schwer tut, und doch nichts sehnlicher wünscht als einen Freund. Und hier ist sie nun, Faina, mit ihren ebenfalls roten Haaren sein perfektes Gegenstück. Erst werden die „Oladuschkis" geteilt, russische Zucchinipuffer, bald die gesamte freie Zeit. Philipp beginnt langsam, das Mädchen zu vereinnahmen, ihm die Welt zu erklären, es von den anderen abzuschotten. Er bringt Fainas Unordnung in Ordnung, sortiert die Dinge für sie, sorgt für klar geordnete Verhältnisse. Nach der Schule trennen ihre Wege sich, zu unterschiedlich sind ihre Erwartungen an das Leben und aneinander. Philipp ist ehrgeizig und baut sich eine finanziell sichere Existenz auf: seine sozialen Beziehungen bleiben vage, während er sein grundsätzlich fehlendes, sexuelles Interesse an anderen Menschen zu verbergen versucht. Faina dagegen ist ein Freigeist, leichtfüßig tanzt sie durch die Welt, lässt sich einmal hierhin, einmal dorthin treiben. Und als sie ein paar Jahre später in Schwierigkeiten gerät, ist es Philipp, der ihr sofort in den Sinn kommt, der ihr freimütig aushilft und sie wieder in seinem strukturierten Leben aufnimmt, ihr einen festen Platz darin einräumt und Sicherheit (an)bietet. Doch zu welchem Preis?

Uff, definitiv keine leichte Kost, Lana Lux 'neuer Roman, diese Anatomie eines Femizids. Ziemlich schnell ist klar, dass das hier nicht gut enden wird, wenngleich der große Knall bis zum Ende auf sich warten lässt und dann irgendwie gar nicht so laut knallte, wie erwartet. Mir nicht so um die Ohren flog, wie er es angesichts der Thematik eigentlich sollte. Die Geschichte entwickelt einen starken Sog, ist sprachlich und erzählerisch top. Der Autorin gelingt es, den Tater nicht zu dämonisieren und das Opfer nicht zum wehrlosen Opfer zu machen. Diese Ambivalenz empfand ich als große Stärke des Textes, doch gleichzeitig löste irgendetwas daran ein diffuses Unwohlsein in mir aus, fühlten sich Form und Inhalt disharmonisch an, leicht verzerrt, ohne, dass ich genau benennen könnte, woran es liegt.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein Leuchtfeuer des Erzählens

Leuchtfeuer
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Die Division Street liegt in einem Vorort mit gepflegten Rasenflächen, Schaukeln auf den Veranden und Kinderfahrrädern auf den Auffahrten. In der Nr. 18 leben Ben und Mimi Wilf mit ihren beiden Kindern ...

Die Division Street liegt in einem Vorort mit gepflegten Rasenflächen, Schaukeln auf den Veranden und Kinderfahrrädern auf den Auffahrten. In der Nr. 18 leben Ben und Mimi Wilf mit ihren beiden Kindern und genau hier steht auch eine majestätische Eiche. Seit Jahrhunderten schon wacht sie über alles, sieht Paare zu Familien, umsorgte Kinder zu leichtsinnigen Teenagern, Häuser wieder leer werden. So manches Geheimnis bewahrt er in seiner dicken Rinde, der Zauberbaum, wie die Kinder der Straße ihn seit jeher nennen, und auch die Wilfs haben ein tragisches Ereignis in sein Innerstes gebannt und nie wieder ans Tageslicht geholt. Bis sich in dieser Nacht die Seelen eines einsamen kleinen Jungens und einer alten Dame begegnen, der Kreis sich schließt.

„Leuchtfeuer“ ist wahrhaftig ein Leuchtfeuer des Erzählens, eine bildgewaltige, lebensbejahende Familiengeschichte, wie nur die Amerikaner sie so tiefgründig wie leichtfüßig aufs Papier oder die Leinwand bringen können. Die Autorin Dani Shapiro adaptiert den Roman dieser Tage höchstpersönlich als Serie für das Fernsehen und ich unterstelle ihr ganz frech, dass sie das bereits während des Schreibens wusste. Die in mehreren Zeitebenen und von unterschiedlichen Stimmen erzählte Geschichte eignet sich nämlich ganz hervorragend dafür, und ich bin richtig gerne hineingetaucht, hab mit Waldo die Sterne bewundert und ihren Trost gespürt, die Sicherheit, die ihre bloße Anwesenheit bietet.

Das hier ist das Leben und alles ist verbunden. Wir werden geboren und wir sterben und dazwischen lachen wir und weinen, erkennen, dass wir einander so nah und gleichzeitig unfassbar fremd, mit Glück gesegnet und dabei tieftraurig sein können. Dass Kinder von dem Moment an, wo sie den Mutterleib verlassen, eigene Wesen sind, unmöglich zu formen und festzuhalten. Unmöglich sie nicht mit jeder Faser zu lieben. Dass Geheimnisse nie geheim bleiben, dass sie wachsen und wuchern und an die Oberfläche drängen. Dass aus den dunkelsten Augenblicken größte Schönheit entwachsen kann.

„Er versucht gar nicht erst, das alles zu verstehen. Er weiß nur, dass er einem Muster folgt, das er nicht immer klar erkennt. Es ist nicht fassbar, chimärisch, voller Sackgassen und jäher Brüche. Man vergisst leicht, danach zu suchen. Aber wenn es sichtbar ist, so wie jetzt, erhellt es seinen Weg wie ein Komet, der durch den Nachthimmel schießt. Er muss ihm nur vertrauen und folgen. Und das wird für sein ganzes Leben gelten. Er wird diese Strömung in sich wahrnehmen, ein Kraftfeld, das ihn mit der Welt verbindet, die er als fast elfjähriger Junge wahrnahm. Er wird nicht wissen, wer ihn da durch Zeit und Raum berührt, aber er wird wissen, dass er nicht allein ist.“ S. 277

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Veröffentlicht am 27.07.2024

FeelGood-Roman mit kleinen Abzügen in der B-Note

Der Wal und das Ende der Welt
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Kaum ein Buch ist mir in den letzten Jahren so häufig begegnet und ans Herz gelegt worden, wie „Der Wal und das Ende der Welt“ von John Ironmonger, der Roman, der wie eine wahr gewordene Prophezeiung daherkommt, ...

Kaum ein Buch ist mir in den letzten Jahren so häufig begegnet und ans Herz gelegt worden, wie „Der Wal und das Ende der Welt“ von John Ironmonger, der Roman, der wie eine wahr gewordene Prophezeiung daherkommt, und bereits auf den ersten Seiten stellte sich ein leises Gefühl von Verstehen ein. Rachel Joyces „Harold Fry“ kam mir prompt in den Sinn, „Bären füttern verboten“ von Rachel Elliott ebenso; Feel Good-Romane in sehr britischem Stil mit einem leicht bissigen, ironischen Humor und viel Herz und Empathie.

Eine Legende ist Joe Haak, der Mann, der eines seltsamen Tages an der Seite eines Wales am Strand eines Fischerdorfes in Cornwall angespült wurde. Wie ein Wunder, oder wenigstens ein Wink des Schicksals, erscheint beider Auftauchen den 307 Einwohnern des Dorfes St. Piran und schon bald gewinnt der Investment-banker aus London ihr Vertrauen - und das Herz einer jungen Dame namens Polly. Als seine Analysen eine weltweite Grippe-Epidemie vorhersagen, trifft Joe aufgrund eines alten Versprechens eine folgenschwere Entscheidung, die die Gemeinschaft auf die Probe stellt; die Kraft aller ist gefragt- und der unbedingte Glaube an die Menschlichkeit.

Wie David gegen Goliath oder wie die aufmüpfigen Gallier gegen Cäsars Imperium mutet der Widerstand dieses kleinen Dorfes gegen eine existenzielle, alles bedrohende Krise an, die unserer aktuellen Situation wirklich beängstigend nahe kommt. Der Blick Ironmongers auf die Menschen hat dabei etwas Zärtliches, Märchenhaftes; er sieht sie in der Idealvorstellung einer besseren Welt, an die ich wider besseren Wissens gerne glauben möchte. Eine Parabel auf das Leben und die Menschlichkeit aber auch eine kluger Blick auf unsere globalisierte Welt und wie alles bis ins Kleinste zusammenhängt. Auch von mir gibt es das Prädikat Lesenswert - mit kleinen Abstrichen in der B-Note wegen ein paar Längen im Mittelteil, des mitunter etwas liederlich anmutenden Frauenbildes, das der Autor hier vermittelt und des, für meinen Geschmack, etwas zu kitschigen Endes.

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Veröffentlicht am 27.07.2024

Irrungen und Wirrungen

Glück hat einen langsamen Takt
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Mechtild Borrmann gehört für mich zu den stärksten, deutschsprachigen Autor*innen der letzten Jahre, ich habe mehrere ihrer (Kriminal)Romane mit großer Begeisterung gelesen. Umso gespannter war ich nun ...

Mechtild Borrmann gehört für mich zu den stärksten, deutschsprachigen Autor*innen der letzten Jahre, ich habe mehrere ihrer (Kriminal)Romane mit großer Begeisterung gelesen. Umso gespannter war ich nun auf die Veröffentlichung ihres Erzählbandes, die passender Weise in eine Zeit mit meiner neu entdeckten Lust auf Kurzgeschichten fiel. Die Autorin widmet sich in „Glück hat einen langsamen Takt“ den Irrungen und Wirrungen des Lebens; kurze Momentaufnahmen gewähren einen intimen Blick auf die Wendepunkte, die „points of no return“, an dem ihre Figuren an die Grenzen der Belastbarkeit und des Erträglichen stoßen - und sie überschreiten. Um Mord geht es, um Selbstmord, Eifersucht, Verrat und Schuld aber auch um Loyalität, Mitgefühl und das gar nicht so alltägliche Glück in den kleinen Dingen.

Ich mag Kurzgeschichten mittlerweile sehr und ich mag auch diesen Fokus auf ein kleines Stückchen Leben, eine einzelne Szenerie, aber hier ist der Blick mitunter sehr knapp geraten; ein bisschen zu flüchtig, um die Schwere der Themen und das Bild als Ganzes erfassen zu können. Sprachlich wie zu erwarten stark, manchmal vielleicht etwas arg blumig, fehlt es den Erzählungen doch an der Komplexität und Vielschichtigkeit, die Mechtild Borrmanns Romane ohne Zweifel aufweisen und auszeichnen. Zusätzlich führte die reine Masse an „Kürzest“-Geschichten durchaus schwereren Inhalts dazu, dass mich jede einzelne nicht auf die Art und Weise emotional erreichen konnte, wie sie es in geringerer Anzahl und mit etwas mehr Tiefe sicher vermocht hätten.

Ein solider, guter Erzählband, den ich gerne gelesen habe und leider doch nicht ganz uneingeschränkt weiter-empfehlen mag; wenngleich es in Anbetracht der grandiosen Bücher, die ich zuletzt gelesen habe und mit denen sich mir ein Vergleich quasi zwangsläufig aufdrängt, definitiv meckern auf sehr hohem Niveau ist. Sehr gerne empfehle ich dagegen Borrmanns Romane „Die andere Hälfte der Hoffnung“, „Trümmerkind“ und „Wer das Schweigen bricht“.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Etwas zwiegespalten

Die Optimisten
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„Die Optimisten“ von Rebecca Makkai (übersetzt von Bettina Abarbanell) haben mich in mancherlei Hinsicht heraus gefordert. Meine Erwartungen waren aufgrund der extrem positiven Bewertungen hier bei Bookstagram ...

„Die Optimisten“ von Rebecca Makkai (übersetzt von Bettina Abarbanell) haben mich in mancherlei Hinsicht heraus gefordert. Meine Erwartungen waren aufgrund der extrem positiven Bewertungen hier bei Bookstagram sehr hoch, was selten eine gute Voraussetzung ist. Bereits nach den ersten Seiten fühlte ich mich ganz arg an die Männergruppe rund um Jude in Hanya Yanagiharas „Ein wenig Leben“ erinnert, was mich dann eine ganze Weile beschäftigt und leider auch ein bisschen von dieser Geschichte distanziert hat, weil sie dem direkten Vergleich mit diesem Herzensbuch von mir einfach nicht standhalten konnte. Die erste Hälfte des recht umfangreichen Romans verging dann unspektakulär und ohne, dass ich mich nennenswert mit den Figuren identifizieren oder tiefere Sympathien entwickeln konnte, was auch daran lag, dass mir manches Verhalten nicht nachvollziehbar oder geradezu irrational erschien (wie auch Yales Entscheidungen gegen Ende des Romans). Doch irgendwann merkte ich plötzlich, dass ich weiterlesen wollte; wissen wollte wie es den Protagonisten weiterhin ergeht. Sehen, ob der Kunstdeal mit der interessanten, alten Nora klappt oder doch noch von ihrem unsympathischen Sohn verhindert wird; erfahren, ob Yale und Charlie sich trotz der furchtbaren Diagnose und dem Vertrauensbruch wieder annähern können; dabei sein, wenn Fiona (hoffentlich) ihre Tochter wieder findet und ihr Leben eine neue Wendung nimmt. Doch, ich begann diese Geschichte und ihre Protagonisten zu mögen, sie als eigenständig wahrzunehmen und nicht mehr im direkten Vergleich zu Jude und seinen Freunden; sie nabelte sich quasi ab und konnte aus deren Schatten treten. „Die Optimisten“ ist mitunter wirklich harte Kost, thematisiert es doch den Ausbruch von AIDS in den 80er Jahren in Amerika und die daraus resultierende Konfrontation mit der eigenen Existenz und Vergänglichkeit; den Umgang mit unfassbarem Verlust und Schmerz, den besonders Fiona ertragen muss und der ihr weiteres Leben stark prägen soll. Über ein paar Längen und die mir persönlich etwas zu arg sexualisierte (Beziehungs-)Ebene der Protagonisten habe ich einfach beherzt hinweg gelesen und der Abschluss der Geschichte hat mich dann doch sehr berührt zurück gelassen. Abschließend kann ich sagen, dass es mir große Freude gemacht hat, dieses Buch zu lesen, dem enormen Hype kann ich mich wegen der oben genannten Kritikpunkte aber nicht ganz anschließen.

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