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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein Lesehighlight!

Kerbholz
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Eine englische Familie verunglückt 1978 an der wilden Küste Neuseelands mit dem Auto. Die Eltern sterben, ihre drei Kinder bleiben verletzt zurück und landen nach einigen Strapazen auf einer Farm mitten ...

Eine englische Familie verunglückt 1978 an der wilden Küste Neuseelands mit dem Auto. Die Eltern sterben, ihre drei Kinder bleiben verletzt zurück und landen nach einigen Strapazen auf einer Farm mitten im Nirgendwo. Hier führen die älteren Leute Martha und Peters ein zurückgezogenes, naturverbundenes Dasein, nehmen die traumatisierten Geschwister jedoch bereitwillig, wenn auch nicht ganz uneigennützig bei sich auf. Ihr altes Leben unwiderruflich zwischen dichten Büschen und reißenden Flüssen begraben, gehen die Kinder sehr unterschiedlich mit ihrer neuen Situation um. Während das Mädchen sich gut einlebt und der Jüngste in seiner eigenen Welt versinkt, schmiedet der Älteste wacker Fluchtpläne. Er wird auf keinen Fall an diesem Ort bleiben, um keinen Preis der Welt.

In einem zweiten Handlungsstrang wird die Tante der Kinder 30 Jahre später in England über einen Fund informiert, der traurige Gewissheit bringt, aber auch Fragen aufwirft: menschliche Knochen mit ihrer DNA und direkt daneben ein Kerbholz, eine Art altertümlicher Schuldschein.

Menschen verschwinden, das ist eine traurige Tatsache. Manche tauchen irgendwann wieder auf, andere werden nur noch tot gefunden oder – schlimmstenfalls – nie wieder gesehen. Ein solches Szenario ist Gegenstand dieses großartigen Romans und wird von Carl Nixon (eine weitere grandiose Neuentdeckung für mich) mit feinem psychologischen Gespür und eingebettet in die raue Natur Neuseelands beleuchtet. Wie übersteht ein Kind den Verlust seiner Eltern und damit aller Gewissheiten, welche seelischen Ressourcen kann es mobilisieren, um nicht daran zu zerbrechen? Was bedeutet Familie und Zugehörigkeit, ein sicheres Zuhause, und können wir selbst entscheiden, glücklich zu sein, unser Schicksal anzunehmen?

Ich sag´s, wie es ist. „Kerbholz“ hat mich direkt in den Bann gezogen, enorm begeistert und überrascht. Ich bin nur so durch die Seiten geflogen und hab diese klug konstruierte, spannende Geschichte richtiggehend aufgesaugt, hab diese lebendige Sprache genossen, die eine intensive Atmosphäre verströmt und Tage später noch immer in mir nachklingt. Highlight!

Übersetzt von Jan Karsten.

„Der Mann lief weiter. Von nun an waren das Einzige, was für Katherine existierte, der nächste Schritt. (…) Viel später würde sie sich darüber ärgern, nicht besser auf den Weg, den sie zurücklegten, geachtet zu haben. (…) Jeder Ort, den sie erreichten, schien erst durch ihre Ankunft ins Leben gerufen zu werden. Und sobald sie weitergingen, war dieser Teil des Waldes auch schon wieder aus der Welt verschwunden. Nein, sie würde niemals allein zurückfinden, nicht in hundert Jahren.“ S. 92

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Veröffentlicht am 17.09.2024

Leider viel zu kurz!

Unten im Tal
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Es ist das Jahr 1994. In einem winzig kleinen Tal an der Sesia treibt ein Tier sein Unwesen. Eine Spur getöteter Hunde säumt seinen Weg, die Menschen sind besorgt und spekulieren, ob Hund oder Wolf dahinter ...

Es ist das Jahr 1994. In einem winzig kleinen Tal an der Sesia treibt ein Tier sein Unwesen. Eine Spur getöteter Hunde säumt seinen Weg, die Menschen sind besorgt und spekulieren, ob Hund oder Wolf dahinter steckt, brechen auf zur Jagd auf den Mörder und Unruhestifter. Doch auch den mit dem Fall betrauten Forstpolizisten Luigi beschäftigen mehr Dinge, als seinem Seelenfrieden gut tun. Seine Frau Elisabetta erwartet ihr erstes Kind, sein etwas missratener, kleiner Bruder Fredo ist nach Jahren der Abwesenheit zurückgekehrt, um sich seinen Teil des Elternhauses zu holen, trinkt aber die Tage durch und wirbelt auch sonst einigen Staub auf. Leben und Tot, Natur, Mensch und Tier prallen hier und jetzt für einen kurzen Moment aufeinander und knüpfen ein Band, hauchen ihre gemeinsame Geschichte in die Welt.

„Unten im Tal“ von Paolo Cognetti ist ein in dichten Vignetten erzählter, multiperspektivischer Roman über Familie und Loyalität, über die innere Zerrissenheit der Menschen in einem Dorf, wo Fortschritt und Tradition kollidieren, der einen intensiv eintauchen und einen authentischen Blick erhaschen lässt. Er hat nur leider ein großes Manko - er ist viel zu kurz!

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Veröffentlicht am 27.07.2024

Über das Verstehen und die Versöhnung mit dem Schweigen

Vati
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Nach „Die Bagage“, der Geschichte ihrer Familie mütterlicherseits, spürt Monika Helfer in dem Nachfolger nun literarisch ihrem „Vati“ nach, tastet sich an den Mann heran, der zeitlebens so wenig greifbar ...

Nach „Die Bagage“, der Geschichte ihrer Familie mütterlicherseits, spürt Monika Helfer in dem Nachfolger nun literarisch ihrem „Vati“ nach, tastet sich an den Mann heran, der zeitlebens so wenig greifbar schien. Es ist ein zärtliches Erinnern an einen gedanklich oft abwesenden, leicht in der Unschärfe liegenden Vater und dessen große Liebe für Bücher, sein Vermächtnis an sie und die größte Konstante ihrer Beziehung. Mit wenigen Worten, ohne verschwenderische Umschreibungen und Ausschmückungen, ja, fast nüchtern und dabei gleichsam dicht und lebendig erzählt die Autorin über das Hadern mit der Familie und der Herkunft, über das Verstehen und die Versöhnung mit dem Schweigen.

Bei aller Einfachheit gelingt es Monika Helfer in mir ganz starke Gefühle zu erzeugen. Ich bilde mir ein, es sei ein Teil meiner Geschichte, es sei vielleicht meine Tante, die hier berichtet. Es schwingt eine Atmosphäre mit, die mich in das Haus meiner Großmutter versetzt, mitten hinein in die Bagage meiner Mutter, so unglaublich vertraut und tröstlich. Fast schleichend begleitet mich in den letzten Jahren derselbe Gedanke, wenn ich ein Buch zuklappe. Unweigerlich frage ich mich, was meine Mutter wohl zu diesem Buch sagen würde, denn auch uns verband die Leidenschaft für Geschichten, die viel Raum für Gespräche und Diskussionen bot. Ich weiß, die Monika Helfer hätte sie gemocht.

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Veröffentlicht am 27.07.2024

Ein sehr poetischer Coming of Age-Roman

Freischwimmen
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„Angesehen werden ist das eine, gesehen werden etwas ganz anderes.“ S. 121

Es sind Sätze wie diese, die „Freischwimmen“ von Caleb Azumah Nelson ausmachen. Spitze Sätze von großer Intensität, die unter ...

„Angesehen werden ist das eine, gesehen werden etwas ganz anderes.“ S. 121

Es sind Sätze wie diese, die „Freischwimmen“ von Caleb Azumah Nelson ausmachen. Spitze Sätze von großer Intensität, die unter die Haut gehen und dort nachhallen. Jetzt, Tage später, kommen mir seine Worte immer wieder in den Sinn und halten mich mehr gefangen, als ich geahnt hatte.

Du und sie. Nur Personalpronomen, keine Namen. Mehr schenkt uns der Autor nicht und überlässt seine Protagonisten damit einer sicher sehr bewusst eingesetzten Anonymität, welche mich zu Beginn ein bisschen auf Distanz hielt, dann aber plötzlich ganz nah heranholte, zur direkten Beobachterin machte. Schon bei eurer ersten Begegnung erkanntet ihr euch. Beide schwarz, jung, Künstler, ja, doch das war es nicht (alleine). Eure Verbindung geht tiefer; von außen gut verborgen liegen die Verletzungen, trieben in genau diesem Moment an die Oberfläche und euch beide unaufhaltsam aufeinander zu.

„Was ist eine Verbindung? Was ein Riss? Was ein Bruch?“ S. 30

„Freischwimmen“ ist der Struggle eines jungen Menschen, für den Sicherheit nicht existiert und das Leben ein Kraftakt ist, überleben heißt; zu lieben hinausschwimmen, das sichere Ufer verlassen bedeutet - und zu riskieren, unterzugehen. Es ist die Geschichte einer tiefen, ersten Liebe und großer Freundschaft und des schmalen Grats zwischen beidem. Ein sehr poetischer Coming of Age-Roman, der die zarte, geschundene Seele eines jungen Mannes freilegt, dem nur noch die Flucht in die Passivität bleibt.

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Veröffentlicht am 27.07.2024

Lässt mich nicht los

Der Verdacht
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Eine Mutter, die ihr Kind nicht lieben kann. Ein Kind, das das Böse in sich tragen soll. Und die logische, nur konsequente Frage: ist beides wie bei einer Marionette miteinander verknüpft, hängt das eine ...

Eine Mutter, die ihr Kind nicht lieben kann. Ein Kind, das das Böse in sich tragen soll. Und die logische, nur konsequente Frage: ist beides wie bei einer Marionette miteinander verknüpft, hängt das eine untrennbar mit dem anderen zusammen? Können wir unserer eigenen Geschichte entfliehen, hinauswachsen über das, was wir erlebt haben, was unser Erbe ist; uns besser verhalten als sich uns gegenüber verhalten wurde, einfach besser sein?

„In diesen schlaflosen Nächten […] begriff ich allmählich, dass wir alle aus etwas gewachsen sind. Dass wir die Saat weitertragen und dass ich Teil ihres Gartens war.“ S. 57

Ich habe selten ein Buch gelesen, das so starke, ambivalente Gefühle in mir ausgelöst und ein so körperliches Unbehagen bereitet hat wie „Der Verdacht“ von Ashley Audrain. Ich habe drei Kinder, hatte relativ problemlose (von Kind zu Kind leichtere) Geburten und von Anfang an keinerlei Bindungsschwierigkeiten. Mir ist klar, dass das nicht immer und bei jeder Frau so reibungslos abläuft und ich bin ehrlich und immer wieder aufs Neue dankbar für dieses Glück. Dennoch - oder gerade deswegen - ist es mir anfangs schwer gefallen, mich auf dieses Buch, diese wirklich grausame Geschichte einzulassen. Kurz gesagt - ich wollte sie eigentlich nicht (weiter)lesen. Bereits nach wenigen Seiten sträubte sich alles in mir instinktiv dagegen diese Worte in meinen Kopf hinein und bis runter in mein Herz sinken zu lassen. Ich wollte einfach nur meine Kinder in den Arm nehmen und ihnen sagen, wie lieb ich sie habe; wollte das Thema gar nicht näher an mich heran lassen. Und doch konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen, war wie gebannt von diesem intensiven, aufwühlenden Pageturner und habe ihn letztendlich geradezu verschlungen. Eine klare Leseempfehlung von mir und gleichzeitig eine große Warnung vor der ganzen Thematik - die Geschichte arbeitet auch jetzt, Tage später, noch ganz arg in mir und lässt mich nicht los.

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