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Veröffentlicht am 26.04.2024

Träumen hat keine Altersbegrenzung

Kleine Kratzer
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„Mich macht dieses Buch glücklich!“, stellte Elke Heidenreich nach der Lektüre fest - und mich ebenfalls! Wenn du denkst, alte Frauen gehörten aufs Abstellgleis geschoben und unsichtbar gemacht, scroll ...

„Mich macht dieses Buch glücklich!“, stellte Elke Heidenreich nach der Lektüre fest - und mich ebenfalls! Wenn du denkst, alte Frauen gehörten aufs Abstellgleis geschoben und unsichtbar gemacht, scroll bitte direkt weiter, sieh einfach woanders hin. Dann ist das hier definitiv nicht dein Buch! Die betagten Damen in diesen 13 Erzählungen fluchen derb, haben leidenschaftliche Gefühle, üben Rache und schrecken auch vor Mord nicht zurück, wenn’s sein muss. Da ist kein Hauch von Angst zu spüren, von Rücksichtnahme und Bescheidenheit, von Greisentum und nahendem Tod, oh nein, jetzt wird abgerechnet. Mit dem eigenen Leben, den Ansprüchen anderer, diesem allzu gerne hervorgekramten Bild der tattrigen Omi mit ihren Stricksachen und ihrem gedanklichem Verweilen im Gestern. Intimität, Verliebtsein, Lust? Aber doch bitte nicht mehr nach dem 60. Geburtstag! Wer will sowas hören, geschweige denn davon lesen, fragt ihr? Ich. Und ihr alle solltet es auch tun, denn die 80jährige Debütantin Jane Campbell weiß genau, wovon sie schreibt, und das sind die Sehnsüchte und Wünsche von Frauen wie uns, unseren Müttern, Schwestern und Töchtern, Ehefrauen und Geliebten. Frauen, die wir einmal sein werden.

„Das Altern wird oft als eine Phase der Kumulation dargestellt, der Anhäufung von Krankheiten, Beschwerden, Falten, aber in Wirklichkeit ist es ein Prozess der Enteignung. Freiheit, Respekt, Lust, all das, was man früher so selbstverständlich besessen und genossen hat, wird einem nach und nach genommen.“ S. 44

Manche Geschichten dieser Anthologie sind ganz klar, andere muten traumähnlich an, der Realität entrückt. Um Selbstbestimmung geht es, um den herben Verlust der Mündigkeit, um Einsamkeit, aber auch um die Frage, was in unserer Welt eigentlich wirklich von Wert ist, woran sich unser eigener Wert bemessen lässt. Ernste Themen werden hier also verhandelt, doch mit viel englischem, zuweilen auch bitterbösem Humor, denn diese Unterschätztheit birgt eine ungeahnte, verheißungsvolle Chance auf Freiheit, die auszukosten unsere Protagonistinnen nur zu gerne bereit sind. Denn sie wagen noch immer, zu träumen.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Eine Heldin, getrieben von dem unbändigen Willen zu überleben

Tiere, vor denen man Angst haben muss
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Vor langer Zeit las ich mit „Kraniche und Klopfer“ von Axel Brauns ein Buch, das mich tief berührt hat. Als ich nun in Alina Herbings neuen Roman und damit in Madeleines Geschichte eintauchte, erinnerte ...

Vor langer Zeit las ich mit „Kraniche und Klopfer“ von Axel Brauns ein Buch, das mich tief berührt hat. Als ich nun in Alina Herbings neuen Roman und damit in Madeleines Geschichte eintauchte, erinnerte ich mich direkt wieder an die Adinas. In beiden geht es um Verwahrlosung, um den Verlust des unbeschwerten Kindseins. Ein Leben außerhalb der Gesellschaft, das einsam macht, innerlich aushöhlt, und das unter größter Anstrengung geheim gehalten werden muss. In beiden Romanen verlieren die Mütter schleichend die Kontrolle über den Alltag, während die Väter sich der Verantwortung schlichtweg entziehen. Und in beiden werden Lebenssituationen geschildert, die leider nur zu real sind.

Madeleine ist 16, eine junge Frau, die sich zum ersten Mal verlieben sollte, mit Freundinnen quatschen und lachen, Pläne für die Zukunft schmieden. Doch nach dem Umzug aus Lübeck in ein kleines Dorf in Mecklenburg verändert sich vieles. Da ist kein Raum für Luftschlösser, keine Energie für ein Später, ein Vielleicht. Da ist nur die Kälte, die in jede Ritze des alten Hofes dringt, der Efeu, der sich seinen Weg ins Haus bahnt, die Mutter, die entweder weg ist, Tiere retten, oder mit den Gedanken bei eben diesen. Die kleine Schwester, die sich nur noch von Äpfeln ernährt und immer dünner wird. Alles nicht so schlimm, findet die Mutter, das härtet ab und überhaupt wird fließendes Wasser überschätzt, ist der Hundebiss nicht so tief und nähen darf man den eh nicht. Und sie hat ja Recht irgendwie, es geht ja. Und wer kümmert sich sonst um die armen Tiere, um all die traumatisierten Hunde, die Wildschweine vor der Tür und die zig Mäuse im Gebälk?

Alina Herbing skizziert in „Tiere, vor denen man Angst haben muss“ eindringlich die fließende Grenze zwischen Zivilisation und Natur. Den Traum eines guten, einfachen Lebens, der in Hundepisse und Chaos ertrinkt, an den Anforderungen des echten Lebens zerschellt. „Eine berührende Heldin, der man gebannt folgt auf ihrer Suche nach Geborgenheit“ sagt Kristine Bilkau und genau das ist sie, eine Heldin voller Wut, angeknackst, aber auch getrieben von dem unbändigen Willen zu (über)leben.

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Veröffentlicht am 27.07.2024

Über den Sinn des Lebens

Auf der anderen Seite des Flusses
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Ein Mann verlässt am Morgen sein Haus, quert innerhalb weniger Stunden einen Fluss und eine Landesgrenze, riskiert viel und muss erst alles verlieren, bevor er zu sich selbst zurückfinden kann.

Der argentinische ...

Ein Mann verlässt am Morgen sein Haus, quert innerhalb weniger Stunden einen Fluss und eine Landesgrenze, riskiert viel und muss erst alles verlieren, bevor er zu sich selbst zurückfinden kann.

Der argentinische Autor spielt auf faszinierende Art und Weise mit dem uns gesellschaftlich anerzogenen Bild dessen, was Richtig und was Falsch, welches Lebensmodell unbedingt erstrebenswert und welches verwerflich ist. Eingebettet in das südamerikanische Lebensgefühl zeichnet Pedro Mairal das Portrait eines Mannes in seinen besten Jahren, dem die Verantwortung für Frau und Kind, der Erwartungsdruck der Gesellschaft und die finanzielle Last über den Kopf wächst - ohne, und das hat mir ausgesprochen gut gefallen, mit dem Finger auf vermeintlich Schuldige zu zeigen oder Partei zu ergreifen. Lässt ihn sich in Tagträumen und Erinnerungen verlieren, gedanklich ab- und umherschweifen, das Leben und seine früheren Entscheidungen Revue passieren; beschreibt dessen Ringen um Selbstbestimmung und persönliche Freiheit. Lucas taumelt und strauchelt, fällt, und dann plötzlich - Stille, Gewissheit. „Auf der anderen Seite des Flusses“ entscheidet sich die Zukunft des Protagonisten, offenbart sich die Fragilität des Glücks.

Ein schmales Büchlein mit umso gewichtigerem Inhalt über den Sinn des Lebens, das Scheitern an Vorstellungen, und ein empathischer, einfühlsamer Blick hinter die Midlife-Crisis. Sprachlich bestechend und mit humorvollen Untertönen.

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Veröffentlicht am 27.07.2024

Rasant wie ein Actionfilm

Der Junge, der das Universum verschlang
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„Der Junge, der das Universum verschlang“ von Trent Dalton ist ein wunderbarer, etwas mystisch angehauchter Coming of Age-Roman, der mich von der ersten Seite an fesseln und innerhalb weniger Tage durch ...

„Der Junge, der das Universum verschlang“ von Trent Dalton ist ein wunderbarer, etwas mystisch angehauchter Coming of Age-Roman, der mich von der ersten Seite an fesseln und innerhalb weniger Tage durch seine 550 Seiten tragen konnte. Wir begleiten den 12jährigen Eli, der in einem heruntergekommenen Vorort Brisbanes unter denkbar schlechtesten Bedingungen aufwächst; der Vater unter dubiosen Umständen von der Bildfläche verschwunden, die Mutter ein (ehemaliger) Junkie, der Stiefvater ein Drogendealer. Einen Jungen, dessen Bruder nicht sprechen, dafür aber umso mehr zu sehen vermag, dessen beste Freunde und Babysitter verurteilte Schwerverbrecher sind. Eli sucht inmitten dieses Chaos mit anrührender Aufrichtigkeit den richtigen Weg, einen guten Weg, doch erst einmal gilt es groß zu werden, die Gliedmaßen weitestgehend beisammen zu halten und herauszufinden, wie man im Angesicht des Falschen, des Schlechten, des Schäbigen seine Würde und Menschlichkeit bewahrt. Immer auf der Suche nach Helden (jeder Junge braucht doch einen Helden, oder?) und Antworten verliert Eli den Glauben an das Gute niemals und findet seinen eigenen Weg „um das Haus niederzubrennen oder die Welt in Brand zu stecken“. S. 339

Der frühe Verlust des Vaters und damit eines verlässlichen Vorbilds, Perspektivlosigkeit und Hoffnung, Traumata und deren Bewältigung, die Macht der Phantasie und des festen Glaubens, wahre Freundschaft und die erste Liebe, der Zauber der Zeit und ein toter blauer Zaunkönig - all das steckt verrückter Weise in diesem Roman, der nur zum Teil fiktiv ist, verarbeitet der Autor doch große Teile seiner eigenen Biografie darin, und das spürt man in jedem Satz. Der Ton ist authentisch schnoddrig, jugendlich-flapsig und dennoch von Herzlichkeit geprägt, das Tempo so rasant wie in einem spannenden Actionfilm. Dalton konnte mit dieser Geschichte einen großen Erfolg in seiner Heimat Australien verzeichnen und auch wenn am Ende alles etwas zu gut ineinander greift, um noch realistisch zu sein, habe auch ich sie mit Begeisterung (und der einen oder anderen Rührungsträne im Augenwinkel) gelesen.

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Veröffentlicht am 27.07.2024

Zu recht ein Klassiker

Farm der Tiere
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George Orwell ist meine Neuentdeckung des Jahres, seit ich vor ein paar Monaten mit großer Begeisterung „1984“ in der Übersetzung von Gisbert Haefs (und überhaupt zum ersten Mal) las. Nun habe ich endlich ...

George Orwell ist meine Neuentdeckung des Jahres, seit ich vor ein paar Monaten mit großer Begeisterung „1984“ in der Übersetzung von Gisbert Haefs (und überhaupt zum ersten Mal) las. Nun habe ich endlich auch diesen zeitlosen Klassiker kennengelernt und bin erneut schwer beeindruckt von Orwells Weitblick und Klugheit. Zum Inhalt von „Farm der Tiere“ möchte ich gar nicht viele Worte verlieren, jede/r wird die grobe Story kennen oder zumindest das berühmte Zitat „Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher als andere“, welches die Kernthese der Geschichte erfasst und eine dermaßen explizite Kritik am Kommunismus und an der Stalin-Diktatur darstellt, dass es mich unwillkürlich schaudert - und mir Bewunderung abringt, bedenkt man das Jahr der (Erst)Veröffentlichung, 1945. Orwells Märchen zeigt auf wenigen Seiten die Unmöglichkeit der absoluten Gleichheit auf, beschreibt, wie menschliche Triebe wie Machthunger und Unterdrückung die Idee pervertieren, schnöde Schmeicheleien den Menschen manipulieren und jedes rationale Denken ausradieren, die Wahrnehmung bis aufs Äußerste verzerren. Die metaphorische, mitunter an Übertreibung grenzende Übertragung menschlicher Eigenschaften auf die Tiere brachte mich während des Lesens häufig zum Schmunzeln oder Schlucken, der große Aha-Effekt blieb jedoch aus. Ich hatte nicht das Gefühl, etwas grundlegend Neues zu entdecken; die ungeheuerliche Brisanz des Themas damals hat sich durch Bildung und Aufklärung bis heute doch etwas verloren, wenn die Geschichte auch nichts an Kraft und Genialität eingebüßt hat.

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