Stress beim Hund
„(…) Stress wird individuell vollkommen unterschiedlich wahrgenommen. Stress entsteht also nicht per se durch eine bestimmte, klar zu umreißende Situation oder durch eine Herausforderung, sondern allein ...
„(…) Stress wird individuell vollkommen unterschiedlich wahrgenommen. Stress entsteht also nicht per se durch eine bestimmte, klar zu umreißende Situation oder durch eine Herausforderung, sondern allein dadurch, wie etwas bewertet wird. Das macht das Thema Stress unheimlich komplex.“
„Stress lass nach“ ist ein Sachbuch von Sabine Zemla. Es erschien im Mai 2023 im Kynos Verlag.
Es beschäftigt sich mit dem Thema Stress beim Hund, welcher heutzutage leider ein immer größeres Problem ist. Die Rahmenbedingungen für die Hundehaltung haben sich verändert, der menschliche Alltag ist hektischer und lauter als früher, der Hund soll häufig als treuer Begleiter „überall“ mit hin und hat dazu ein eigenes Wochenprogramm mit Agility, Hundetreffen und Co... Doch nicht jeder Hund verarbeitet diesen Alltag gleich und nicht jeder hat gelernt, mit Stressoren umzugehen. In ihrem Buch beschreibt die Autorin, welche selbst Hundephysiotherapeutin und Anti-Stress-Trainerin ist, sehr umfassend, wie Stress entsteht und wie man ihn in den Griff bekommen bzw. den Hund unterstützen kann.
Das Buch ist unterteilt in acht Hauptabschnitte sowie weitere Unterkapitel. Wichtige Informationen werden immer wieder in anschaulichen, farblich abgesetzten Kästchen zusammengefasst. Diese Zusammenfassungen haben mir sehr gefallen, denn der Inhalt ist schon sehr umfangreich und man muss man sich beim Lesen deutlich konzentrieren. Ebenfalls abgerundet und veranschaulicht werden die Texte durch gut ausgewählte Zeichnungen, Abbildungen und Bilder. Der Schreibstil ist dabei sachlich, aber nicht langweilig.
Die Autorin setzt sich ausführlich mit Stress auseinander und beschreibt diesen auf allen Ebenen. Sie erklärt, wie Stress im Körper entsteht, wie er sich auf Körper und Verhalten auswirken kann und wie man ihn managen kann.
Viele Erkrankungen lassen sich tatsächlich auf Stress zurückführen und auch Verhaltensauffälligkeiten können entstehen, wenn der Hund dauerhaft gestresst ist. Letztlich verhält es sich bei ihm nicht viel anders als beim Menschen. Zu viel Stress macht krank.
Neben der Folgen von Stress, beschreibt Sabine Zemla aber auch, welchen Einfluss die Ernährung des Hundes haben kann, welche Trainingsstrategien am wenigsten Stress auslösen, welche Therapien man einsetzen kann und natürlich, wie man gestresste Hunde als Halter unterstützen kann. Beleuchtet wird auch, was der Mensch von seinem Hund erwartet, was Stimmungsübertragung bedeutet und wie der Halter in stressigen Situationen gelassen bleiben kann.
Ich habe durch das Buch vielen wertvollen Input bekommen, hätte mir aber gerade bei den Anleitungen für die praktischen Übungen deutlich mehr Informationen gewünscht. So werden zum Beispiel einige Massageübungen beschrieben, die Erklärung ist dann aber für mich nicht detailliert genug, um sie ohne weitere Hilfe auch tatsächlich anwenden zu können.
Darüber hinaus gibt es ein paar Aussagen im Buch, die ich eher hinterfragen würde. So beschreibt die Autorin, dass gegen Artgenossen gerichtete Aggressionen „in der Regel“ daran liegen, dass sich der Hund bei seinem Halter „nicht geborgen und sicher“ fühlen würde. Man müsste daher in eine bessere Bindung investieren, um die Aggression zu mindern. Dass eine gute Bindung zum Hund wichtig ist und ihn bei Stress unterstützt, ist natürlich klar. Dass diese, wie die Autorin auch mehrfach betont, durch Bedürfnisbefriedigung und fairen, positiven Umgang mit dem Hund erreichbar ist, steht für mich ebenfalls außer Frage. Aggressionen gegen Artgenossen haben aber meines Erachtens ihre Ursache eher nicht in einer schlechten Bindung zum Halter. Wahrscheinlicher sind zum Beispiel Unsicherheiten, Ängste, Frust, Schmerzen oder negative Lernerfahrungen des Hundes, die es zu bewältigen gilt. Dass der Halter nicht genug Sicherheit vermittelt, ist für mich ein Mythos, wobei fehlende Unterstützung in einer für den Hund schwierigen Situation durch den Halter natürlich auch Unsicherheit beim Hund auslösen kann. Vielleicht hat die Autorin es auch genauso gemeint und sich an dieser Stelle lediglich unglücklich ausgedrückt. Ebensolche Bedenken habe ich zu einem Trainingsbeispiel zum Verbellen anderer Hunde am Zaun und noch bei wenige weiteren Äußerungen, die für mich wirken, als ob die Autorin sich hier in veralteten Denkmustern verheddert, von welchem man mittlerweile weiß, dass sie unzutreffend sind. Da dies die Autorin selbst an anderen Stellen im Buch klar beschreibt („Was natürlich absolutes Zutrittsverbot ins Lernstübchen hat, sind Strafe, Druck, Ungeduld und Geiz. Strafe verursacht immer Stress.“), scheint es für mich aber im Gesamtkontext tatsächlich einfach unglücklich ausgedrückt.
Überzeugend ist für mich ebenfalls das umfangreiche Literaturverzeichnis am Ende des Buches.
Alles in allem vermittelt Sabine Zemla viele gute Hintergrundinformationen, die alle im Kontext Stress stehen und die man natürlich noch unendlich weiter ausführen könnte. Manches sollte man kritisch hinterfragen und obwohl das Werk der Autorin schon sehr umfangreich ist, ist es meiner Ansicht nach trotzdem nur ein Einstieg in ein wirklich komplexes Thema. Für interessierte Hundehalter*innen kann es aber definitiv ein guter Leitfaden sein und erste Impulse zur Stressminimierung beim Hund geben. Mir persönlich haben gerade die Fallbeispiele am Ende, die umfangreichen Erklärungen zum Thema Stressentstehung sowie der Blick auf den Menschen selbst sehr gut gefallen.
Zu berücksichtigen ist natürlich, dass ein Buch niemals einen Tierarztbesuch oder die individuelle Beratung durch einen Hundetrainer/Verhaltensberater/Physiotherapeuten (…) ersetzen kann und soll.
Das Buch von Sabine Zemla gefiel mir insgesamt sehr gut, ist aber mit 350 Seiten sicherlich keine leichte Kost. Von mir es gibt es daher 4 von 5 Sternen und eine Leseempfehlung, wenn man sich mit dem Thema Stress beim Hund auseinandersetzen möchte.