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Veröffentlicht am 15.08.2024

Eine Reise in die 4. Dimension?

Pi mal Daumen
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„Pi mal Daumen“, der neue Roman von Alina Bronsky, ist ein Buch über Vorurteile, Freundschaft, Toleranz, das Verfolgen der eigenen Träume und zu sich Finden, egal wann im Leben, und tatsächlich auch über ...

„Pi mal Daumen“, der neue Roman von Alina Bronsky, ist ein Buch über Vorurteile, Freundschaft, Toleranz, das Verfolgen der eigenen Träume und zu sich Finden, egal wann im Leben, und tatsächlich auch über die Schönheit der Mathematik, ohne ein Wissenschaftsroman zu sein, das über weiter Strecken souverän in der 5-Sterne-Zone surft und nur ganz am Ende diese leider dann doch noch verlässt.
Der Roman kommt in einem leider sehr altbackenen Cover, was mich beinahe dran vorbeischauen hätte lassen, wäre der Titel nicht so pfiffig (ein Wort, des Covers würdig).
Erzählt wird, aus der Perspektive von Oscar, die einzigartige Begegnung von eben Oscar und Moni beim Mathematikstudium. Oscar, 16 Jahre alt, mit Inselbegabung, Autismus, Synästhesie und noch anderen Besonderheiten aufgewachsen, Animefan, Liebhaber von Tofu mit Erbsen, Struktur und absoluter Ehrlichkeit begegnet an seinem von ihm von Kindheit an geplanten Beginn des Mathematikstudiums Moni, 53, trägt Knallfarben und Leoprints, hat die Sonne im Herzen und den kessen Spruch auf der Zunge, immer eine riesige Tasche mit allem möglichen und noch riesigeren Brotdosen dabei, drei Nebenjobs, drei zu betreuende Enkel und alles, nur keine Struktur. Und: Sehr viel Liebe und Toleranz für Oscar und seine Eigenarten – ganz am Ende werden wir auch erfahren, warum.
Zwischen diesen beiden so ungleichen Menschen entspinnt sich eine zauberhafte Annäherung und Schicksalsgemeinschaft, während sie beide auf ganz unterschiedliche Art und Weise darum kämpfen, ihren Lebenstraum wahrwerden zu lassen. Die Figuren sind alle skurril und dennoch so glaubwürdig, das ganze Setting des Mathematikstudiums wird so perfekt beschrieben, man atmet die Hörsaalluft förmlich beim Lesen. Immer wieder schreibt Bronsky Sätze, die man sich direkt ausdrucken und irgendwo an die Wand pinnen möchte, z.B. „Wir studieren eine Gnade, sondern Mathematik.“ Moni und Oscar sind zwei Hauptcharaktere, die mensch einfach lieben muss, wie sie da beharrlich und absonderlich durchs Leben schreiten und wir immer tiefer in dieses Leben, seine Verstrickungen und jede Menge Emotionen eintauchen. Und über all dem schwebt die Mathematik, die die meisten von uns wahrscheinlich mit Schmerzen und schlimmen Schulerinnerungen verbinden, die hier aber auch ihre leuchtende Seite schreibt. Bronsky lässt Oscar die wohl schönste Liebeserklärung an die Mathematik formulieren, die ich jemals gelesen habe. Würde es gelingen, diesen Blick auf die Mathematik in der Schule zu vermitteln, das wäre ein Gamechanger.
Über weite Strecken des Buches war ich komplett gebannt und konnte gar nicht aufhören zu lesen und mit Moni und Oscar zu leben, zu lieben, zu lachen, zu kämpfen und manchmal auch zu verlieren. Am Ende des Buches allerdings wurde ich enttäuscht, da sehr viele lose Fäden in der Luft hängen bleiben und sich die Geschichte in die Phantastik rettet. Und auch wenn es die 4. Dimension, die immer wieder im Buch vorkommt, gibt, ist das Buch zuvor durchweg so real und dreidimensional, dass das spontane Ausgrätschen hier für mich keinen Sinn ergibt und mich leider etwas leer und sehr unbefriedigt zurückgelassen hat, da mehrere zentrale Fragen so komplett offenbleiben – und für mich entsteht hier kein offenes Ende im guten Sinne. Daher kann ich leider keine fünf Sterne geben, auch wenn das Buch diese über viele Seiten hin wirklich verdient hätte.
Dennoch eine unbedingte Leseempfehlung! Lasst euch diese herzigen Menschen und ihre zauberhafte Begegnung voller Komik und Liebe nicht entgehen!

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Veröffentlicht am 29.07.2024

Bitte schneller als schnell die Fortsetzung!

Die Toten von Veere. Ein Zeeland-Krimi
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„Die Toten von Veere“, ein Zeeland-Krimi aus der Feder von Maarten Vermeer, erschienen 2024 bei HarperCollins, ist ein Kriminalroman, der es auf unfassbar vielen Ebenen in sich hat und den mensch nicht ...

„Die Toten von Veere“, ein Zeeland-Krimi aus der Feder von Maarten Vermeer, erschienen 2024 bei HarperCollins, ist ein Kriminalroman, der es auf unfassbar vielen Ebenen in sich hat und den mensch nicht eine Sekunde aus der Hand legen kann. Eingebettet in ein sehr atmosphärisches düsteres Cover mit geprägter Schrift, das große Beklemmung ausstrahlt, schließt sich beim Lesen ein Ring ums Herz, der so schnell nicht mehr zu sprengen ist.
Es geht los, wie mensch es von Krimis kennt, wobei eigentlich sogar das schon nicht, denn das Eskalationslevel ist direkt maximal: Hoofdinspecteur Liv de Vries trifft bei der übereilten Klärung eines Selbstmordattentatfalls eine unglückliche Entscheidung und wird danach von ihrem Vorgesetzten aus der Schusslinie genommen und zur Aufklärung eines scheinbar harmlosen Vermisstenfalls in die Provinz nach Veere geschickt. Mit ihr zusammen ihre neue Kollegin Noemi Bogaard. Doch was sich dann in Veere entspinnt, ist alles andere als ein harmloser Fall, denn hier führt jede Spur zu einer weiteren Entdeckung, die immer tiefer in die Vergangenheit führen – und ihre Opfer fordern.
Vermeer schreibt unglaublich dicht und packend, sein Plot ist absolut unvorhersehbar und die Abgründe, denen er sich genussvoll widmet, sind Untiefen, gegen die das Meer nur ein flacher Priel ist. Der Handlungsstrang ist so genial, dass ich ihn am liebsten hier wiedergeben würde, um ihn würdigen zu können, aber natürlich soll rein gar nichts verraten werden!
Was verraten werden kann und muss ist aber, dass „Die Toten von Veere“ auch deshalb für alle Preise der Welt nominiert werden sollte, weil Vermeer sich auf beeindruckende Art darin einem Thema widmet, dass die Welt gerade beschäftigt: Der Rechtsruck, der durch fast alle Staaten geht. Wie er dabei einen Bogen von der Vergangenheit bis heute und morgen schlägt und Mechanismen hellsichtig aufdeckt, und das inmitten einer Krimihandlung und ohne aufzutragen mit seiner aktiven politischen Haltung, immer eingebettet in eine Krimihandlung, die sich notwendig damit verbindet und doch so deutlich in dem, was er an Zeitanalyse vermitteln will, das ist ein ganz großer Coup. Selten habe ich einen so politischen Krimi gelesen, der dabei vollkommen unaufgeregt unpolitisch ist auf der Oberfläche. Ein kleines Manko ist, dass Vermeer bei der Behandlung des Charakters von Noemi Bogaard selbst in die Rassismusfalle tritt, indem er diesem Charakter leider nur sehr wenig Fleisch und Backstory gibt im Verhältnis zu den anderen Hauptcharakteren und diese Figur sehr funktional behandelt – etwas, was er unserer Gesellschaft zu Recht vorwirft. Dafür muss es einen halben Stern Abzug geben, aber dennoch kann hier nur empfohlen werden, diesen Zeeland-Krimi (eine viel zu harmlose Kategorie!) unbedingt zu lesen. Ideal an einem Wochenende, an dem mensch nicht viel vorhat. Denn ein Weglegen: Ist kaum möglich.
Und der Cliffhanger am Ende (Böse! Böse böse böse!!!) macht große Hoffnung auf eine Fortsetzung. Bitte schnell. Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll.

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Veröffentlicht am 02.06.2024

Niemand will zu einem Passfoto werden

Ich stelle mich schlafend
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„Ich stelle mich schlafend“ von Deniz Ohde, erschienen 2024 im Suhrkamp Verlag, ist ein Buch, das mit leiser Stimme eindringlich das Aufwachen einer Gesellschaft einfordert. Auf dem Schutzumschlag in einer ...

„Ich stelle mich schlafend“ von Deniz Ohde, erschienen 2024 im Suhrkamp Verlag, ist ein Buch, das mit leiser Stimme eindringlich das Aufwachen einer Gesellschaft einfordert. Auf dem Schutzumschlag in einer Pfütze auf Asphalt, die wahrscheinlich bald verschwinden wird, eine Häuserfassade in Ockertönen – die Erinnerung an ein Leben, das einfach weggerissen werden kann und einem dennoch ein Leben lang den Spiegel vorhält, wie die Spiegelung in der Pfütze. Das Gefühl von Brache, Abrisshalde, welches das erste Kapitel vorgibt, zieht sich durch das ganze Buch, ebenso die Schwere von Asphalt und Beton, die auf dem geschilderten Leben lastet und einfach nicht weggelebt werden kann. In verschiedenen Zeitebenen taumeln wir, schleichen wir, rennen wir, frieren wir ein durch das Leben von Yasemin, einer Frau, die in einer der unendlichen möglichen Varianten erlebt, was noch immer alle Frauen erleben: Ein Aufwachsen und Dasein in der Präsenz von männlicher Gewalt, dem Frauen noch immer qua Sozialisation und fehlender gesellschaftlicher Solidarität viel zu wenig entgegenzusetzen haben.
Ohde findet durchweg starke und schöne Sprachbilder in großen Mengen in diesem Buch. Die Charaktere werden anfangs zunächst bewusst rätselhaft, wie Schemen eingeführt und sind doch schon sehr gut erahnbar, auch ihre Beziehung zueinander deutet sich gut an. Klar wird: Hier ist etwas vorgefallen, und es war nicht gut, es war toxisch – und es beschäftigt noch lange. Im weiteren Verlauf dringen wir lesend langsam tiefer in die Schichten, und die Wahrheit des Geschehens liegt vor allem zwischen den Zeilen und den Gedanken. Ohde schreibt unglaublich dicht, ich konnte kaum Luft holen beim Lesen, jeder Satz ist ein Kosmos und löst Begeisterung aus – und zeitgleich hält sie die Spannung, was nun geschehen wird, bis zum Ende hoch. Über allem schwebt permanent ein Unheil, das wabert über den Menschen, die Stimmung ist durchweg wie vor einem Gewitter, und die erlösende Sintflut will sich nicht einstellen. Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig sich Yasemin erlaubt zu leben, dauerhaft und in einer inneren Leere kreist. Sie wirkt wie ein total traumatisierter Mensch, der sich einfach kein Glück erlaubt und sich immer, einfach immer schuldig fühlt.
Der Erzähldruck lässt im letzten Drittel des Buches etwas nach, weil Ohde dringend noch politischen Inhalt unterbringen möchte, aber nicht immer zwingende Erzählanlässe dafür findet, das wirkt manchmal etwas reingepropft. Was sie erzählen will, ist aber wichtig, denn es ist das, was ALLE Frauen kennen: Wie sehr wir in einer grundsätzlichen Angst leben, immer, wie sehr wir als schuldig angesehen werden, immer, wie Täter-Opfer-Umkehr systematisch geschieht, immer, wie oft wir uns entschuldigen, immer. Ich habe kurz davor gerade „Sorry Not Sorry“ von Anika Landsteiner gelesen und kann das in dem Kontext nur jede:m ans Herz legen. „Niemand wollte zu einem Passfoto werden, es war nichts, was man selbst in der Hand hatte.“, ist ein zentraler Satz, den Yasemin denkt, als sie über Vermisstenanzeigen sinniert. Was man dagegen in der Hand hat, ist, ein Leben in der Vermeidung zu leben, wie wir es automatisiert ständig tun, ohne das hinterfragen zu können, weil wir uns nur so schützen können – und das bringen wir auch unseren Töchtern von klein auf bei. Wir kennen es alle: Erzieht nicht eure Töchter, erzieht eure Söhne – dieses Buch ist ein starkes Plädoyer dafür. Und es ist so schlimm, dass sich noch immer so wenig daran tut. Yase hat also überlebt, wie wir schon am Anfang des Buches erfahren, durch Glück, durch Zufall. Und ich ertappe mich selbst dabei, ihr Mitschuld an vielem zu geben, was sie erlebt hat, weil sie so konstant an allen Zeichen vorbeischaut, sich so einfangen lässt, sich so sehr selbst die Grube gräbt. Aber liegt dem allen nicht eine Gesellschaft zugrunde, die Frauen das von Anfang an tun lässt, die sie genau dahin erzieht, die sie noch immer in eine dauerhafte Scham zwingt? Sprachlich bleibt das Buch bis zum Schluss sehr stark. Das angedeutete Happy End hätte ich so nicht gebraucht. Spannender war es, wie Yasemin zunehmend in ihren Körper zurückfindet, der auf so vielen Ebenen versehrt ist. Da sehe ich eher den Weg – wir sollten uns nicht mehr retten lassen. Wir können selbst aufstehen und gehen.
Dieses Buch gewinnt vor allem durch all das, was nicht gesagt ist, es ist ein wortkarges Buch, trotz all der Worte in ihm, und dieses Schweigen bringt die Lesenden emotional fast um. Ein starkes Buch, das ich in einem Rutsch verschlungen habe. Wir dürfen uns nicht mehr schlafend stellen. Unser Frauenleben gehört uns.

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Veröffentlicht am 21.05.2024

Pflicht für alle

Sorry not sorry
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„SORRY NOT SORRY“ von Anika Landsteiner, erschienen bei Rowohlt Polaris, ist eines dieser Bücher, in denen mensch einfach viel zu viele Sätze anstreichen möchte. Es geht um Scham, es geht spezifischer ...

„SORRY NOT SORRY“ von Anika Landsteiner, erschienen bei Rowohlt Polaris, ist eines dieser Bücher, in denen mensch einfach viel zu viele Sätze anstreichen möchte. Es geht um Scham, es geht spezifischer um die Scham von weiblich gelesenen Menschen und eigentlich geht es im Kern vor allem auch um die Frage: Warum schweigen wir? Immernoch?
Das Buch kommt mit einem lärmenden Cover in knalligem Grün und Lila aus dem Bücherregal entgegengesprungen – und das ist gut so. Denn viel zu lange waren weiblich gelesene Menschen und ihre patriarchal gemachte Scham zum Stillsein verdonnert. Um in die Stimme zu kommen und laut zu werden, ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag. Denn es muss aufhören, dass weiblich gelesene Menschen sich schämen für Dinge, die andere ihnen antun. Eine Schlüsselstelle, gleich am Anfang des Buches: „Denn ich dachte lange Zeit, dass Scham diejenigen empfinden, denen etwas Peinliches passiert ist. Die sich fehlverhalten haben und daraufhin entblößt werden. Dieser Denkweise nach müssten sich die Täter schämen, nicht jedoch das Opfer.“ (Seite 10) Fun Fact: Dass hier nicht gegendert wird, ist kein Zufall, denn im Verlauf des Buches wird immer klarer: Die Scham ist ein Werkzeug patriarchaler Unterdrückung und kapitalistischer (oder religiöser), männlich regierter Systeme. Landsteiner analysiert die Scham anhand von vielen unterschiedlichen Facetten und unterteilt grundlegend erst einmal in Körperscham, Identitätsscham und Statusscham. Die Freunde der Scham sind Geheimhaltung, Schweigen und Verurteilung. Ihr großer Feind ist Empathie. So weit, so universell. Nicht universell ist die schon im frühkindlichen Alter geschehende Sexualisierung des weiblichen Körpers, die von Kultur und Sozialisierung anerzogenen Gründe für die weibliche Scham und die vielen falschen Glaubenssätze, die dazu führen, dass weiblich gelesene Menschen sich unter anderem nahezu manisch entschuldigen und Fehler zumeist immer erst einmal bei sich suchen. Es ist erschütternd, wie viele Themen und Belege Landsteiner innerhalb dieses, sehr gut und anschaulich zu lesenden und umfassend recherchierten, Buches findet. Körper, Geld und Wertigkeit, Single-Sein und Freiheit, Fernsehen und Kultur, Schwangerschaft, Altern, Periode, Heiraten, generell Paarmodelle, Gewalt – die Liste nimmt kein Ende. Und am Ende steht die Wut, die keine Auflösung findet.
All das ist so zwingend argumentiert und nur an so wenigen Punkten in Frage zu stellen, dass dieses Buch eine Pflichtlektüre für alle Menschen sein sollte. Ja, alle. Denn Sexismus findet überall im Denken statt, Rollenbilder sind in jedem Kopf vorhanden. Auch im weiblichen. Dass selbst Landsteiner davon nicht frei ist, ist einer der wenigen Kritikpunkte am Buch. Auch sie kommt nicht daran vorbei, an vielen Stellen doch nicht ganz frei davon zu sein, eine Partner:innenschaft als heimliches Lebensziel zu haben und dass sie, auch wenn sie Argumente dafür hat, nicht noch weitere marginalisierte Gruppen in ihrem Buch betrachtet, ist für mich ein Manko, das leicht behebbar gewesen wäre, wenn mensch sich mit anderen Autor:innen zusammengetan hätte für ein zusätzliches Kapitel. Guter Feminismus ist multiperspektivisch, darum komme ich nicht daran vorbei, einen halben Stern abzuziehen. Aber geschenkt! Was ist schon ein halber Stern angesichts dieses mutmachenden Buches. Welt, zieh dich an. Die Zeit des Schweigens ist vorbei. Anika Landsteiner spricht mir aus der Seele, wenn sie sagt: „Gegen das System muss angeschrien werden. Meine Wut ist weiblich.“ Bitte alle alle alle lesen.

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Veröffentlicht am 13.04.2025

Alles im Fluss

Flusslinien
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„Flusslinien“ von Katharina Hagena, erschienen 2025 bei Kiepenheuer und Witsch, hat mich mit seiner mäandernden Schreibweise und der Zärtlichkeit, mit der hier Figuren durch einen kurzen, aber zentralen ...

„Flusslinien“ von Katharina Hagena, erschienen 2025 bei Kiepenheuer und Witsch, hat mich mit seiner mäandernden Schreibweise und der Zärtlichkeit, mit der hier Figuren durch einen kurzen, aber zentralen Abschnitt ihres Lebens begleitet werden, begeistert.

Protagonistin des Romans ist die gerade volljährige Luzie, die nach einem traumatischen Ereignis während eines Auslandjahres in Australien zurück in Hamburg zunächst nicht wieder ins Leben findet – was nicht nur an Luzie liegt, die noch an der Bewältigung ihres Traumas zu knabbern hat, sondern vor allem auch an ihrem Umfeld, das vollkommen hilflos, teils auch grausam, mit ihr umgeht. Der einzige Mensch, dem Luzie kleine Einblicke in ihr Inneres erlaubt, ist ihre Großmutter Margrit, die in einer Seniorenresidenz nahe der Elbe lebt, über 100 Jahre alt ist – und dafür noch wundervoll fit im Kopf. Luzie hat die Schule abgebrochen, verkriecht sich in einem Schuppen am Elbstrand und geht ihrem Hobby, vielleicht auch ihrer Berufsperspektive, dem Tätowieren, nach. Doch wer Tätowieren lernen will, braucht Menschen, an denen geübt werden kann – und so schlägt Margrit vor, dass Luzie sie tätowieren solle, schließlich ist die Ewigkeit, die einem Tattoo innewohnt, für Margrit ein sehr überschaubarer Zeitraum. Zwischen den beiden steht Arthur, Fahrer der Seniorenresidenz, ein junger Mann, der auch ein Trauma zu bewältigen hat, und der viel Zeit mit einem Metalldetektor am Ufer der Elbe verbringt, auf der Suche nach etwas, das er selbst nicht wirklich beziffern kann, das er aber im Wasser verloren hat. Wir tauchen immer wieder auch ab in die Vergangenheit der ganzen zugehörigen Familien, in Freundes- und Feindesbeziehungen, in die Erfahrung des Alterns, des Jungseins – und des Aushaltens von so viel Leben.

Strukturell ist das Buch nach Tagen aufgeteilt und nach den Menschen, aus deren Perspektive wir auf die Tage schauen. Die Elbe, der Fluss, zeigt sich hier vor allem von ihrer morbiden Seite, atmosphärisch sehr stark gegriffen, und auch hier ist, wie in anderen aktuellen Publikationen, die Vertiefung der Fahrrinne Thema. Der immer weiterführende Eingriff des Menschen in die Natur, er hat immer einen Backlash, dafür ist die Elbe ein wirklich gutes Beispiel. Von Anfang an wehen die Themen Tod und Verlust durch das Buch, das Altern und Erinnern, die Spuren, die das Leben in den Menschen schreibt und der Mensch in die Welt, Verlust, Traumatisierung, Einsamkeit, die Unfähigkeit zu Kommunikation über das Eigentliche, aber auch Abenteuergeist, Lebenshunger, Leidenschaft. Und eher beiläufig aber nicht minder sichtbar: historische Ereignisse, Familienstrukturen, Naturschutz im Elbe-Gebiet, der Römische Garten Hamburgs und seine Entstehungsgeschichte, die Emanzipation der Frau im Laufe der Zeit, der spirituelle Gehalt von Tattoos, die Frage nach etwas, das die Zeit überdauert. Und über allem schwebt die Stille in ihren vielen Gesichtern, mir gefällt das richtig gut.

Die Figuren sind mir alle sehr sympathisch, es sind versehrte Einzelgänger:innen, die sich da zusammenfinden zu einer Zweckgemeinschaft, die unterfüttert ist von vorsichtiger Nähe und Vertrauen. Die Autorin schreibt flüssig und klar, viele Beschreibungen machen die Szenerie und die Menschen lebendig, manchmal gibt es aber einen Hang zu etwas sehr großer Ausführlichkeit, die bei dem sowieso eher langsamen Erzähltempo zur Herausforderung werden kann. Aber das wird aufgewogen von sehr vielen sprachlich großartigen Betrachtungen, die immer wieder aufzeigen, wie sehr unsere Sprache auch patriarchal geprägt ist. Denn ganz klar ist dieses Buch auch aus einer feministischen Perspektive geschrieben. Und nimmt viele aktuelle Themen unserer Zeit beiläufig auf, ohne sie zu vertiefen, so wie Alltag stattfindet, er ist einfach da.

Mir gefällt die Symbolik des Tätowierens in diesem Buch ausnehmend. Das Leben, das noch einmal in den Körper eingeschrieben und dadurch irgendwie festgehalten wird, das Leben, dessen Linien die Enkelin dadurch nachfährt und erfährt, der Körper, der dieses Leben noch einmal spürt, bevor er geht, die Befreiung, die beide dadurch erfahren, die Inspiration, die Luzie für ihr eigenes Leben übernimmt, die gemeinsame Handlung, die Reden und Schweigen ermöglicht, das alles ist enorm gut gegriffen.
Ein großer Kritikpunkt bleibt, der dieses so schöne Buch dann, neben vielleicht doch etwas viel Phantastik und Ausführlichkeit in Seitensträngen der Story, doch einen Stern kostet: Hier schreibt wieder eine Autorin so konsequent gegen das Patriarchat anschreibt – um dann doch die Protagonistin am Ende durch einen Mann „zu retten“. Und ich finde das falsch, unnötig und ärgerlich. Ich hätte mich sehr gefreut, wenn Luzie nur aus sich heraus und eventuell aus der Beziehung zu den vielen starken Frauen, die ihre Wege kreuzen, die nötige Kraft gefunden hätte, ihren Weg zu gehen.

Insgesamt habe ich aber ein sehr schönes, fließendes Leseerlebnis gehabt, ein Buch, gemacht für leichte Sommerabende, mit nahbaren Figuren, toller Atmosphäre und viel Nachdenklichkeit darüber, wie wir mit unseren Alten als Gesellschaft umgehen. Lesen und dann mal dem Römischen Garten in Hamburg einen Besuch abstatten!

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