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Veröffentlicht am 28.08.2024

Der Weg in die Freiheit

Sing, wilder Vogel, sing
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Mitte des 19. Jahrhunderts in Irland: Die Menschen leiden an einer großen Hungersnot, da mehrere Kartoffelernten ausgefallen sind. Ihre englischen Grundherren helfen wenig bis gar nicht, sondern demütigen ...

Mitte des 19. Jahrhunderts in Irland: Die Menschen leiden an einer großen Hungersnot, da mehrere Kartoffelernten ausgefallen sind. Ihre englischen Grundherren helfen wenig bis gar nicht, sondern demütigen die Iren und nehmen ihnen das verpachtete Land weg. Als die junge schwangere Honora, ihr Mann William und die Menschen aus dem Dorf Doolough hören, dass sie in der nächstgrößeren Stadt Louisburgh englische Beamte treffen sollen, die ihnen Notrationen zugestehen könnten, brechen sie auf. Für viele wird es ein Fußmarsch in den Tod, aber für Honora wird es der Beginn von etwas Neuem.

Großartig! Ein ergreifender Roman, der auf wahren Ereignissen beruht und der die Geschichte lebendig werden lässt. Die Autorin gibt all den Namenlosen in ihrem unendlichen Leid eine Identität und erlaubt es ihnen, sich in der Gestalt von Honora zu manifestieren. Mit ihr erstehen all die Gedemütigten, Gestrandeten und Heimatlosen wieder auf, sie gibt uns Hoffnung, dass allem Leid immer auch etwas Gutes innewohnt und es einen Weg zur wahren Bestimmung gibt.

Formal ist der Roman in 2 Teile, Irland und Amerika, aufgeteilt, die wiederum in einzelne Kapitel unterteilt sind, und die Handlung erstreckt sich über mehrere Jahre. Interessant ist, dass der Prolog mitten in der Geschichte einsetzt und nicht den Anfang oder das Ende markiert. Für Honora ist das im Prolog beschriebene Ereignis natürlich durchaus ein einschneidendes Erlebnis, aber nicht das einzige. Das Nachwort der Autorin und das Interview mit ihr erläutern ihre Herangehensweise und geben Einblick darüber, wie sehr sie die Geschichte des Dorfes Dooloughs bewegt hat. Diese tiefe Berührtheit lässt sie unglaublich gut in die Geschichte einfließen, als Leser ist man sofort gefesselt von den Figuren und was sie erdulden müssen und ich habe sehr intensiv mitgelebt.

Der Fokus liegt auf Hauptfigur Honora, die in ihrer Andersartigkeit durchaus polarisiert. Sie ist klug, still und eigenwillig und irgendwie aus der Zeit gefallen. Honora ist eine Nomadin, sie kann sich nicht in bestehende Strukturen einfügen, Menschen verstehen sie nicht und behandeln sie deshalb oft als Fremde. Sie wirkt anziehend auf Männer, doch diese können besonders mit ihrem starken Willen und ihrem Freiheitsdrang wenig anfangen und versuchen sie einzusperren und ihren Willen zu brechen. Sie erfüllt keine der ihr zugedachten Rollen, wird aber gegen ihren Willen in solche gedrängt. Dennoch ist sie liebevoll, loyal und pflichtbewusst und durch ihre zähe Hartnäckigkeit übersteht sie mehrfach hoffnungslose oder lebensbedrohliche Situationen. Ihren Geist, ihre Zweifel und Ängste vergräbt sie tief in ihrem Innern. Ihre Persönlichkeit ist so vielfältig, dass man ihrer nicht vollkommen gerecht werden kann. Auch die anderen Charaktere sind gut herausgearbeitet und lassen in ihren Eigenschaften vielfältige Persönlichkeiten erkennen, wie etwa die Verräterin Mary, der ihr Verrat zum Verhängnis wird, der eigentlich wohlmeinende Prosper, der Honoras Wesen auch nicht versteht, oder Ignatius, der so gar nichts Sympathisches an sich hat.

Honoras Streben nach Freiheit liegt in ihrem Wesen und die Zeichen hierfür finden sich schon bei ihrer Geburt, bei der ein Rotkehlchen ins Haus und wieder hinausflog. Durch dieses, in den Augen ihrer Landsleute schlechte Omen wird sie als Unglücksrabe gebrandmarkt. Vögel spielen generell eine wichtige symbolische Rolle im Buch und für Honora, sie tauchen an entscheidenden Stellen in Honoras Leben auf, stehen für Freiheit und Lebensfreude, sie beobachtet und beneidet sie. Honoras Wanderung zwischen den Welten spiegelt sich in den verschiedenen Ländern Irland und Amerika wider, sie stehen für gegensätzliche Lebensweisen. Auch wenn sie in Amerika zunächst ebenfalls schlimme Demütigungen und Einschränkungen erfährt, steht es für Freiheit, und so ist es nur folgerichtig, dass sie ihre Selbstbestimmung bei einem nicht-weißen, nicht-sesshaften Mann findet, für den das Rotkehlchen im Gegenteil ein gutes Omen ist, der die gleichen Erfahrungen gemacht hat und der nun ebenfalls außerhalb der Gesellschaft steht. Er ist ihr Seelenverwandter, mit dem sie durch die Prärie ziehen und unter freiem Himmel schlafen kann.

Fazit: Das ergreifende Portrait einer Frau, die ihren Weg sucht und die allen Widrigkeiten zum Trotz ihre wahre Bestimmung in einem fernen Land findet. Honoras Reise nach Amerika steht sinnbildlich für eine ganze Nation, die sich ebenso wie Honora in ihrem Streben nach Unabhängigkeit erst von ihrem Unterdrücker abnabeln und der ihr zugedachten Rolle entfliehen musste, um ihre Würde wieder zu erlangen und endlich selbstbestimmt zu leben. Ein Buch, das sich nicht einfach so herunterlesen lässt und das auch nichts für schwache Nerven ist. Ein Roman, der nicht zum Lachen, aber zum Nachdenken anregt, zu Herzen geht und lange nachhallt.

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Veröffentlicht am 02.08.2024

Was ist die Formel für Freundschaft?

Pi mal Daumen
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Oscar ist ein 16-jähriger Überflieger mit Adelstitel, autistischen Zügen und einem imaginären Freund. Er studiert Mathematik und ist am liebsten für sich. Zu viele Menschen auf einem Haufen sowie Lärm ...

Oscar ist ein 16-jähriger Überflieger mit Adelstitel, autistischen Zügen und einem imaginären Freund. Er studiert Mathematik und ist am liebsten für sich. Zu viele Menschen auf einem Haufen sowie Lärm und Dreck machen ihn nervös. Als sich ausgerechnet die über 50jährige Moni im Hörsaal neben ihn setzt und er gezwungenermaßen mit ihr eine Lerngruppe bilden muss, findet er das äußerst ärgerlich. Andererseits braucht er für einige Scheine einen Partner, warum also nicht Moni, die seiner Überzeugung nach eh nicht lange durchhalten wird? Nicht nur Moni, auch sein Studium hält manche Überraschung für ihn bereit, mit der er nicht gerechnet hat.

Wundervolle, warmherzige und liebevolle Betrachtung zweier Außenseiter, des Entstehens ihrer ungewöhnlichen Freundschaft und der leisen Warnung, dass man Menschen niemals unterschätzen sollte. Unterschiedlicher als Oscar und Moni kann man kaum sein. Alter, soziale Herkunft, Charakter, alles ist diametral entgegengesetzt, und doch sind sie seelenverwandt. Sehr subtil und zögerlich entsteht diese Freundschaft und lange gehen beide von völlig unterschiedlichen Annahmen aus. In einem haben sie nämlich, ohne es zu wissen, die gleiche Wahrnehmung: dass der andere ohne ihre Hilfe vollkommen verloren wäre.

Das Buch liest sich unglaublich gut herunter, man muss schmunzeln, den Kopf schütteln und will ein ums andere Mal dazwischen gehen. Die Autorin hat einen sehr menschlichen Blick auf ihre Protagonisten und beschreibt ihre Macken mit einem Augenzwinkern, ohne jemals kitschig oder gar verächtlich zu werden. Ohne große Action, aber mit viel Gefühl für Situationskomik erzählt sie das Geschehen aus der Perspektive von Oscar. Viele seiner Äußerungen und Annahmen sagen mehr über ihn aus als über die anderen und als aufmerksamer Leser erkennt man die Ironie dahinter. Oftmals erschließen sich einem die wahren Umstände in Nebensätzen oder zwischen den Zeilen, Oscar hingegen braucht für alles Zwischenmenschliche ein bisschen länger. Aber auch ihm dämmert schließlich, dass Moni nicht die Dumpfbratze ist, für die er sie hält.

Moni habe ich von der ersten Sekunde an geliebt. Sie ist Familienmensch, warmherzig, hilfsbereit, auffällig ohne es zu wollen, mit mehreren Jobs, drei Enkeln und überforderter Tochter, eine Macherin, immer da, wenn man sie braucht. Dabei klug, völlig unterschätzt von ihrem Umfeld und klein gehalten von ihrem sogenannten Lebensgefährten. Ganz vorurteilsfrei ist Moni aber auch nicht, denn sie hält Oscar allein nicht für überlebensfähig. Sie behandelt ihn wie einen zugelaufenen Welpen, während er sich fragt, was eine wie sie in einem Hörsaal zu suchen hat. Beide werden eines Besseren belehrt und für sie spricht, dass sie im Laufe der Geschichte ihre Meinung voneinander überdenken und sich in ihrer Persönlichkeit weiterentwickeln. Aber auch die anderen Figuren haben gut herausgearbeitete Charaktereigenschaften und der eine oder andere war auch für Überraschungen gut, wie etwa Professor Herbst oder Monis Vater.

Das Hardcover Exemplar kommt im Übrigen schön gebunden mit Einband und Lesezeichen daher. Der Eindruck, dass es komplett Oscars Werk ist, wird dadurch verstärkt, dass der von ihm gezeichnete Stammbaum von Monis Familie vorne und hinten abgedruckt ist und es mehrere Fußnoten mit seinen vermeintlichen Kommentaren gibt. Und ja, es geht auch um Mathe.

Fazit: Sehr kurzweilig, humorvoll und einfach wunderschön ist es zu lesen, wie sich diese beiden so unterschiedlichen Menschen aneinander annähern und zu Freunden werden. Ein bisschen Mathe-Affinität ist von Vorteil, aber nicht zwingend vonnöten. Und ein Familiengeheimnis von Moni wird auch noch aufgedeckt, so ein bisschen wenigstens. Ansonsten für all diejenigen bestens geeignet, die schöne Geschichten mit charaktervollen Figuren lieben und mit ihnen mitleben können.

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Veröffentlicht am 15.07.2024

Ein Buch wie ein Gemälde – Annäherung in Zeiten des Lockdowns

Mitternachtsschwimmer
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Ballybrady, ein kleines Dorf an der irischen Küste: Die alleinstehende Grace lebt zurückgezogen, liebt nächtliches Schwimmen im Meer und verdient ihr Geld mit quilten und der Vermietung ihres Elternhauses ...

Ballybrady, ein kleines Dorf an der irischen Küste: Die alleinstehende Grace lebt zurückgezogen, liebt nächtliches Schwimmen im Meer und verdient ihr Geld mit quilten und der Vermietung ihres Elternhauses an Touristen. In dieses soll für eine Woche der Städter Evan einziehen, der um seine verstorbene Tochter trauert, an deren Tod er sich die Schuld gibt, und dessen Ehe zu zerbrechen droht. Eine Woche, um wieder zurück ins Leben zu finden. Dann kommt der Lockdown und er sitzt fest, abgeschnitten von der Außenwelt, mit Abstandhalten und Maskenaufziehen und mit Menschen, die ihm fremd sind.

Ein wundervoller Roman, dessen leise Töne sich ins Herz eingraben, dessen Figuren voller Persönlichkeit und Gefühl sind und dessen Tiefsinnigkeit berührt. Wer Action oder große Worte erwartet, ist hier falsch. Stattdessen findet der geneigte Leser ein atmosphärisch dichtes Geschehen inmitten rauer Natur, die schroffen Felsen und das tosende, mysteriöse Meer sind ebenso fühlbar wie die unterdrückten und intensiven Gefühle, die nach und nach ans Licht kommen. Der Stil der nordirischen Autorin ist bildgewaltig und pointiert, ohne aufbrausend oder kitschig zu sein. Einfühlsam beschreibt sie alle Nuancen der Persönlichkeit ihrer Figuren, die in ihrer Komplexität nichts zu wünschen übrig lassen.

Grace lässt sich vielleicht am ehesten mit harte Schale, weicher Kern umschreiben, obwohl das nicht annähernd ihrer Tiefsinnigkeit, ihrer Nähe zur Natur und ihre Liebe zur Heimat und ihren Liebsten erfasst. Grace ist ein komplexer Charakter, in all ihrer Ruppigkeit liebevoll und besorgt, mal hilfsbereit und zugewandt, im nächsten Moment wieder distanziert und von ihren Mitmenschen genervt. Grace ist bindungsscheu, einsiedlerisch, grüblerisch, unprätentiös, eine gute Beobachterin, dabei bissig in ihren Kommentaren und trocken in ihrem Humor. Ihr Trauma trägt sie mit Würde und vergräbt es in sich. Man erfährt nie, was ihr widerfahren ist, und das höchste Zugeständnis ist die bloße Erwähnung des Ereignisses Evan gegenüber.

Evans Charakter ist nicht minder vielschichtig, obwohl er mich anfangs an einen Welpen erinnert hat, der tollpatschig und weltfremd hinter Grace her tapst, die ihn mehrfach retten und ihm die Welt erklären muss. Man liest aber schnell, dass auch er ein schweres Päckchen zu tragen hat, an dem er zu zerbrechen droht. Die permanenten verbalen Attacken seiner Frau Lorna, ihre Gegnerschaft zu ihm und seiner Meinung haben seine Entscheidungsgewalt und sein Selbstbewusstsein untergraben, der Tod seiner Tochter gibt ihm den Rest.

Verschiedene Ereignisse in der Geschichte geben ihr die Wendungen, die sie spannend machen und die man nicht unbedingt vorhergesehen hat. Das Eintreten des Lockdowns, das Eintreffen von Evans tauben Sohn Luca und die Rettung des Kormorans, um nur einige zu nennen, rufen ein Umdenken der Figuren und das Ingangsetzen einer Entwicklung hervor. Die Menschen interagieren anders miteinander und ihr Blick aufeinander ändert sich. Der Lockdown soll die Menschen auf Abstand halten und isolieren, in Ballybrady bewirkt er Nähe und aufeinander zugehen. Evan erkennt, dass er seinen Sohn vernachlässigt hat und dass das Leben nach dem Tod seiner Tochter weiter geht und sogar schön sein kann. Grace wiederum lernt, dass Evan nicht der arrogante verweichlichte Städter ist, denn durch die Rettung des Kormorans beweist er Mut und wird menschlich. Sie sieht seinen tiefen Kummer und erkennt darin den Spiegel ihres eigenen Leids. Schön ist, wie sie gemeinsam aus dem Tal herausfinden und so gibt es am Ende Zeichen des Lichts und der Hoffnung.

Fazit: Wunderschöner Einband, wunderschönes Buch! Auch wenn Grace mein Lieblingscharakter war, fand ich die Herausarbeitung und Tiefsinnigkeit der anderen Figuren nicht weniger faszinierend. Von ihrem männlichen Gegenstück Evan über Luca und Lorna und nicht zuletzt den Dorfbewohnern, sie alle haben Persönlichkeit und Tiefe. Die Autorin hat einen intensiven Blick auf die Umwelt und die Menschen und ein tiefes Mitgefühl. Wie viel Grace in ihr selbst steckt? Wer weiß, der Roman lädt jedenfalls zum Abtauchen ein und macht Lust auf mehr von ihr.

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Veröffentlicht am 18.03.2024

Nicht schon wieder! Verliebt in den eigenen Chef

Because of You I Want to Stay
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In Josies Leben läuft es gerade gar nicht rund: Ihr Freund Nathan hat sie verlassen und, da er auch ihr Chef ist, ihr die Kündigung in seinem Labor nahegelegt. Frustriert und zutiefst verletzt begleitet ...

In Josies Leben läuft es gerade gar nicht rund: Ihr Freund Nathan hat sie verlassen und, da er auch ihr Chef ist, ihr die Kündigung in seinem Labor nahegelegt. Frustriert und zutiefst verletzt begleitet sie ihre Freundin Liv nach Martha’s Vineyard, um dort in den Ferien zu jobben und sich über ihren weiteren Lebensweg Gedanken zu machen. Eine neue Liebe kommt in ihren Plänen eigentlich nicht vor, wäre da nicht der charismatische Blake Sullivan, alteingesessener Einheimischer. Und ihr Chef.

Hach und seufz! Sehr schön geschriebene Liebesgeschichte mit super sympathischen Figuren vor der wild-romantischen Kulisse der US-amerikanischen Ostküste. Die Autorin trifft genau den richtigen gefühlvollen Ton, ohne ins Kitschige abzudriften, und spickt das Ganze mit einer glaubwürdigen Prise an Irrungen und Missverständnissen, die gut zur Geschichte passen. Gut herausgearbeitete, vielschichtige Charaktere, die ein Päckchen mit sich herumtragen und denen man daher die Zweifel und manch eine eher krasse Aktion abnimmt. Sie wirken authentisch und vor allem mit Josie habe ich schön mitgelitten. Sie ist hin und hergerissen zwischen ihrem Trennungsschmerz und ihrer Anziehungskraft zu Blake und steht an einem Scheideweg in ihrem Leben. Erschwerend kommt noch die Trennung von ihren Eltern und ihrem Wunsch, es allen recht zu machen. Wunderbar in diesem Zusammenhang ist ihre beste Freundin Liv, die ihr mehr als einmal den Kopf zurechtrückt und sie zum Nachdenken und damit auf den für sie richtigen Weg bringt. Insofern macht Josie durchaus eine Entwicklung durch, sie emanzipiert sich von den Vorstellungen anderer und erkennt, dass es besser ist, das in ihren eigenen Augen Richtige zu tun.

Blake war mir mitunter zu schön, um wahr zu sein, doch auch er ist ein sympathischer Charakter mit Ecken und Kanten und mit Vorbelastung. An sich hätte Josie aufgrund seiner Vorgeschichte eher erkennen müssen, wie manche seiner Handlungen und Worte motiviert sind, aber das Nichterkennen ist wohl ihrer Verletzlichkeit und ihrer Selbstzweifel geschuldet. Da es aus Josies Perspektive in der Ich-Form geschrieben ist, erhält man besonders zu Josies Innenleben intime Einblicke. Sie ist wohltuend unaufgeregt und uneitel und reflektiert sehr viel. Es ist jedenfalls wunderbar zu lesen, wie die beiden sich wie zwei Satelliten umkreisen und sich einmal anziehen, ein anderes Mal wieder abstoßen. Auch die anderen Figuren sind schön beschrieben und interessant, und ich fand zudem die bildhaften Beschreibungen der Umgebung faszinierend und bekam direkt Lust hinzureisen. Der sehr flüssige und eingängige Stil der Autorin macht das Ganze zu einer vergnüglichen und kurzweiligen Lektüre und ist zum Abtauschen gut geeignet. Nebenbei erfährt man auch einiges über die anderen Sullivan-Brüder Flynn und Jacob sowie die Freundinnen Liv und Hannah und ahnt, dass sich auch da jeweils Liebesgeschichten anbahnen.

Fazit: Wunderbare und kurzweilige Forbidden-Love-Geschichte zum Abtauchen und Wohlfühlen mit TOP-Aussichten auf eine Enemy-to-Lovers und eine Friends-to-Lovers Geschichte, die sich gut lesen und bei der sich gut mitleben lässt. Für alle, die ein romantisches Lesevergnügen suchen. Ich freue mich jedenfalls schon auf ein Wiedersehen im wundervollen Martha‘s Vineyard mit lieb gewonnen Figuren.

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Veröffentlicht am 15.01.2024

Von Besatzern und Kriminellen und von Vätern und Söhnen: Eddie Girals 2. Fall

Paris Requiem
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Paris, Herbst 1940: Édouard „Eddie“ Giral, ein aus dem Ersten Weltkrieg traumatisiert zurückgekehrter ehemaliger Soldat, arbeitet im von den Nazis besetzen Paris bei der Polizei als Inspektor. Keine leichte ...

Paris, Herbst 1940: Édouard „Eddie“ Giral, ein aus dem Ersten Weltkrieg traumatisiert zurückgekehrter ehemaliger Soldat, arbeitet im von den Nazis besetzen Paris bei der Polizei als Inspektor. Keine leichte Aufgabe, denn seine Ermittlungen führen ihn nicht nur in die dunkelsten Ecken der französischen Hauptstadt und aufs platte Land, in Jazz-Klubs und in die Oper, sondern auch in die Hauptquartiere der verschiedenen Behörden der deutschen Besatzer. So ist es auch in seinem neuen Fall: Ausgebremst von seiner eigenen Behörde und immer überwacht und verfolgt von der Pariser Unterwelt und den deutschen Geheimdiensten versucht er, den Mord an einem französischen Kleinkriminellen aufzudecken. Dabei stochert er nicht nur in deutschen und französischen Wespennestern herum, sondern bringt die Haute Volée der deutschen und französischen organisierten Kriminalität gegen sich auf.

Ein halbes Jahr nach Eddies spektakulärem ersten Fall, die Toten vom Gare d‘Austerlitz, führt ihn sein nicht weniger grausamer zweiter nun in die Pariser Jazz-Klubs. Eddie bekommt es hierbei nicht nur mit halbgaren Klubbesitzern und französischen Kleinkriminellen zu tun, sondern mit dem organisierten Verbrechen. Außerdem darf er sich erneut mit sämtlichen deutschen Behörden, der Gestapo, der Wehrmacht und der Abwehr in Gestalt seines alten Gegenspielers Major Hochstetter herumschlagen. Nicht zuletzt steht er sowohl psychisch als auch physisch immer mit einem Bein am Abgrund. Seine Kriegstraumata sind noch lange nicht überwunden und mit dem Wiederfinden seines Sohnes, dem er zur Flucht verhalf, bekommt sein Leben nun eine sehr viel persönlichere Komponente. Um seinem Sohn keinen Schaden zuzufügen, würde er alles tun. Es macht ihn aber auch erpressbar.

Fidelio, Beethovens einzige Oper, spielt eine Schlüsselrolle in der Geschichte und das Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Nicht zuletzt ist es ähnlich einer Oper in Ouvertüre und Akten eingeteilt. Obwohl sich die Handlung nur über etwa drei Monate erstreckt, ist die Geschichte sehr kompakt und vollgepackt mit Personen, Handlungssträngen, Nebenschauplätzen und undurchsichtigen Akteuren. Alte Bekannte wie Eddies Chef und Partner in Crime Dax tauchen ebenso auf wie neue Figuren aus Eddies Vergangenheit und Gegenwart. Der Autor bleibt seinem Stil treu und entwirft tiefschürfende Charaktere, bissige Dialoge und ein authentisches, von den Nazis besetztes Paris, das in seiner Bitterkeit und Düsternis kaum zu überbieten ist. Nahtlos übernimmt der Autor seine Komposition aus Buch eins in dieses zweite und es verwundert nicht, dass er seinen Anti-Helden erneut in Abgründe schauen lässt.

Eddie als Figur polarisiert durchaus, er wie auch die anderen Charaktere bestechen durch ihre starken, komplexen Persönlichkeiten und ein jeder muss einen Weg finden zu überleben. Nichts ist nur schwarz oder weiß, niemand ist nur gut oder nur böse und jeder von ihnen hat nachvollziehbare Gründe für das, was er tut. Obwohl man tief eintaucht in die Geschichte und absolut mit Eddie mit leben kann, muss man doch mehr als einmal schlucken und sich fragen, was man wohl an seiner Stelle getan hätte. Er bewegt sich auf einem sehr schmalen Grat zwischen Recht und Gerechtigkeit und Selbstherrlichkeit, indem er beispielsweise auf der einen Seite Menschen hilft, andere jedoch in den Abgrund stößt. Indem er sie verrät, sichert er sein eigenes Überleben in der Hölle der besetzten Stadt, in der die Stimmung kippt und in der die Besatzer ihre Macht nunmehr brutal ausspielen. Sehr gut fand ich die Einführung des zu Anfang etwas zwielichtigen Polizei-Kollegen Boniface, dessen Verhältnis zu Eddie eine Entwicklung durchläuft und den ich als starke Ergänzung zu ihm empfand.

Fazit: Für wen die Totenmesse gelesen wird, mag jeder nach der Lektüre selbst entscheiden. Fakt ist, die Geschichte ist ein sehr spannender Fall, auf gleichbleibend hohem Niveau erzählt, mit komplexen Figuren und ebensolchen Handlungssträngen. Es ist nicht die Zeit für ein Happy End, und Eddie vermag zwar die Zusammenhänge erkennen, die wahren Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen vermag er jedoch nicht. Er löst zwar die ihm aufgebürdeten Aufgaben, zieht jedoch keine Befriedigung daraus. Vor dem Lesen dieses Buch sei auf jeden Fall die Lektüre des ersten Bandes empfohlen, man versteht die Zusammenhänge und Eddies Motive sehr viel besser. Es ist kein klassischer Whodunnit-Krimi, sondern ein Thriller in historisch ebenso düsteren wie verstörenden Zeiten, in der der Gerechtigkeit nicht zu hundert Prozent Genüge getan werden kann.

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