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Lust_auf_literatur

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 18.03.2023

Starkes Debüt!

Keine gute Geschichte
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▪️„Arielle, die Meerjungfrau“ ist eine gute Geschichte. Zumindest für Arielles Mutter, die den Disneyfilm so toll fand, dass sie ihrer Tochter den Namen der kleinen Meerjungfrau gab.
Jetzt ist die Mutter ...

▪️„Arielle, die Meerjungfrau“ ist eine gute Geschichte. Zumindest für Arielles Mutter, die den Disneyfilm so toll fand, dass sie ihrer Tochter den Namen der kleinen Meerjungfrau gab.
Jetzt ist die Mutter verschwunden und aus der kleinen Arielle ist eine erwachsene Frau geworden, die ihrer alten prekären Hood entkommen ist und karrieretechnisch so richtig was aus sich gemacht hat.

▪️Doch so schnell entkommt man seiner Herkunft nicht. Ihre Großmutter, die sie nach dem frühen Verschwinden ihrer Mutter großgezogen hatte, ist gesundheitlich angeschlagen und könnte laut der Sozialarbeiterin ihre Hilfe gebrauchen. Und da bei Arielle das psychologische Kartenhäuschen sowieso in sich zusammengefallen ist, kehrt sie in ihr altes Essener Heimatviertel zurück. Ihr Kinderzimmer wartet bereits unverändert auf sie.
Ihr Aufenthalt verlängert sich, als sie sich mit Meryem, der Sozialarbeiterin anfreundet und auch andere Kontakte aus Jugendzeiten wieder aufwärmt. In der Nachbarschaft sind zwei Mädchen verschwunden und die Ich-Erzählerin Arielle fängt an, Fragen zu stellen…

▪️Lasst euch von meiner entschärften kurzen Zusammenfassung des Settings nicht täuschen, der Einstieg in diesen sozialen Brennpunkt ist hammerhart und schmerzhaft. Roys Ich-Erzählerin ist desillusioniert und zynisch und manche ihrer Denkweisen könnte man aus bildungsbürgertümlicher Distanz zum Milieu als politisch nicht korrekt bezeichnen.
▪️Ich bin sofort schwer angefixt von Roys direkter Geschichte und ihrer Schreibweise. Bin krass fasziniert von der Innenwelt Arielles, die kaputt gegangen ist durch ihre schwere Kindheit und Jungend und nur durch den hauchzarten Glauben an die ursprüngliche Liebe ihrer Mutter zusammengehalten wird. Sie ist fest davon überzeugt, dass ihre Mutter damals nicht freiwillig verschwunden ist und sieht Parallelen zu den verschwundenen Mädchen.

▪️Die Beschreibungen der verschiedenen Figuren und Schicksale in diesem Essener Randbezirk gefallen mir richtig gut, sie wirken authentisch, ohne sie unserem Voyeurismus und Urteil auszusetzten. Der Kern des Romans ist stark, entlarvt er doch das Märchen der sozialen Gleichheit und Durchlässigkeit und übt Kritik am Klassensystem, dem man so schwer entkommen kann.
Im letzten Viertel, als die Ereignisse sich überschlagen, schlägt Roy zwar einen guten Spannungsbogen, verliert mich aber ein bißchen, weil mir das tendenziell zu überladen und konstruiert wird. Wer das, anders als ich, mag, wird mit einem runden Abschluss belohnt.

▪️Ein lesenswerter und großartiger Debütroman, der gleichzeitig durchrüttelt und unterhält!

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Veröffentlicht am 06.03.2023

Analysierendes und unterhaltsames Psychogramm

Siegfried
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🔸Antonia Baum begleitet mich schon länger durch mein Leseleben, und zwar mit ihren Kolumnen und Artikel in der ZEIT.

Auf ihren Roman „𝐒𝐈𝐄𝐆𝐅𝐑𝐈𝐄𝐃“ habe ich mich deshalb sehr gefreut. Schon die Leseprobe ...

🔸Antonia Baum begleitet mich schon länger durch mein Leseleben, und zwar mit ihren Kolumnen und Artikel in der ZEIT.

Auf ihren Roman „𝐒𝐈𝐄𝐆𝐅𝐑𝐈𝐄𝐃“ habe ich mich deshalb sehr gefreut. Schon die Leseprobe war vielversprechend, der Roman selbst gute, subtil gesellschaftskritische Unterhaltung.

🔸Wer ist Siegfried? Baum schreibt den Roman aus Blickwinkel einer Ich-Erzählerin, deren Mutter einen Ehemann hat, der Siegfried heißt, der aber nicht der Vater der Ich-Erzählerin ist.
Um diesen Siegfried kreisen drei Generationen von Frauen: seine Mutter Hilde, die ihn vergöttert, seine Ehefrau, die er betrügt und kleinmacht, und seine Tochter, die Erzählerin, deren Selbstbild er bis weit in ihr Erwachsenenalter prägen wird.
Die Figur Siegfried steht für mich sinnbildlich für unsere immer noch stark patriarchal geprägte Gesellschaft, die Generationen von Frauen unterschiedlich beeinflusst.

🔸Baum beginnt ihren Roman damit, dass die Ich-Erzählerin beschließt in die Notfallambulanz der Psychiatrie zu fahren. Die Frau hat eindeutig Issues. Welche genau das sind, wird im weiteren Verlauf in Rückblenden auf ihre Kindheit, ihre konfliktbeladene Ehe und ihre schwierige Beziehung zu Männer deutlich.
Es wird deutlich wie sehr das Nachkriegstrauma, das Hildes Generation erlebt hat, bis heute in Form von Härte und Selbstdisziplin gegen sich selbst, weitergegeben wird.

„𝘈𝘣𝘦𝘳 𝘸𝘪𝘦 𝘪𝘮𝘮𝘦𝘳, 𝘸𝘦𝘯𝘯 𝘦𝘴 𝘮𝘪𝘳 𝘴𝘤𝘩𝘭𝘦𝘤𝘩𝘵 𝘨𝘪𝘯𝘨, 𝘸𝘢𝘳 𝘷𝘰𝘯 𝘢𝘶ß𝘦𝘯 𝘯𝘪𝘤𝘩𝘵𝘴 𝘻𝘶 𝘴𝘦𝘩𝘦𝘯, 𝘥𝘪𝘦 𝘖𝘣𝘦𝘳𝘧𝘭ä𝘤𝘩𝘦 𝘸𝘢𝘳 𝘪𝘯𝘵𝘢𝘬𝘵.“

Auch Siegfried hat dieses Erbe verinnerlicht und paart diese innerliche und äußerliche emotionale Distanz mit kapitalistischem Leistungsstreben. Alles Weibliche und Liebevolle, das er mit Schwäche assoziiert, verachtet er und prägt damit das Selbstverständnis seiner Ziehtochter als Frau.

𝘔𝘦𝘪𝘯 Ä𝘶ß𝘦𝘳𝘦𝘴 𝘸𝘢𝘳 𝘴𝘦𝘩𝘳 𝘨𝘦𝘱𝘧𝘭𝘦𝘨𝘵, 𝘥𝘪𝘦 𝘔ä𝘯𝘯𝘦𝘳 𝘶𝘯𝘥 𝘪𝘤𝘩 𝘩𝘢𝘵𝘵𝘦𝘯 𝘚𝘦𝘹, 𝘶𝘯𝘥 𝘥𝘢𝘣𝘦𝘪 𝘸𝘢𝘳 𝘮𝘪𝘳 𝘦𝘪𝘯𝘦 𝘚𝘢𝘤𝘩𝘦 𝘣𝘦𝘴𝘰𝘯𝘥𝘦𝘳𝘴 𝘸𝘪𝘤𝘩𝘵𝘪𝘨: 𝘥𝘪𝘦 𝘉𝘦𝘩𝘢𝘶𝘱𝘵𝘶𝘯𝘨 (𝘪𝘩𝘯𝘦𝘯 𝘶𝘯𝘥 𝘮𝘪𝘳 𝘴𝘦𝘭𝘣𝘴𝘵 𝘨𝘦𝘨𝘦𝘯ü𝘣𝘦𝘳), 𝘪𝘤𝘩 𝘸ü𝘳𝘥𝘦 𝘥𝘪𝘦𝘴𝘦𝘯 𝘚𝘦𝘹 𝘸𝘰𝘭𝘭𝘦𝘯, 𝘪𝘤𝘩 𝘸ü𝘳𝘥𝘦 𝘪𝘩𝘯 𝘮ö𝘨𝘦𝘯, 𝘸𝘦𝘪𝘭 𝘪𝘤𝘩 𝘮𝘰𝘤𝘩𝘵𝘦 𝘸𝘢𝘴 𝘔ä𝘯𝘯𝘦𝘳 𝘮𝘰𝘤𝘩𝘵𝘦𝘯, 𝘸𝘦𝘪𝘭 𝘪𝘤𝘩 𝘸𝘢𝘳 𝘸𝘪𝘦 𝘴𝘪𝘦.“

„𝘞𝘪𝘦 𝘴𝘦𝘩𝘳 𝘪𝘤𝘩 𝘥𝘪𝘦 𝘋𝘪𝘯𝘨𝘦 𝘥𝘶𝘳𝘤𝘩 𝘴𝘦𝘪𝘯𝘦 𝘈𝘶𝘨𝘦𝘯 𝘴𝘢𝘩, 𝘸𝘪𝘦 𝘴𝘦𝘩𝘳 𝘪𝘤𝘩 𝘥𝘶𝘳𝘤𝘩 𝘪𝘩𝘯 𝘩𝘪𝘯𝘥𝘶𝘳𝘤𝘩 𝘥𝘢𝘤𝘩𝘵𝘦.“

🔸Viele wichtige Themen klingen in diesem komplexen Roman von Baum durch, wobei es der/dem Leser:in überlassen bleibt, in eine tiefere Deutungsebene abzutauchen oder bei der individuellen Geschichte der Erzählerin zu bleiben. Baums Schreibstil ist wunderbar leicht und unterhaltsam und gehaltvoll zugleich.

Für mich ein schönes und wertvolles Leseerlebnis, das mit emotional beschäftigt hat.

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Veröffentlicht am 24.02.2023

Atmosphärisch!

Rosa Schleim
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⚫️ Ein seltsamer, merkwürdiger Roman.

Die erzählte Geschichte ist schwer greifbar und sehr atmosphärisch.
Der rosa Schleim zieht sich als Motiv immer wieder durch den Roman. Die Menschen bestehen aus ...

⚫️ Ein seltsamer, merkwürdiger Roman.

Die erzählte Geschichte ist schwer greifbar und sehr atmosphärisch.
Der rosa Schleim zieht sich als Motiv immer wieder durch den Roman. Die Menschen bestehen aus ihm, er ernährt sie, er bedroht sie, er ist natürlich und wiedernatürlich gleichermaßen.

⚫️ Eine Frau irrt durch eine dystopische Welt an einer unbekannt Küste. Es dauert ein paar Seiten bis ich mir aus den Andeutungen ein Szenario erwächst. Giftige, ätzende, alles abtötende Algen haben die Meere vergiftet. Wenn Wind aufkommt wird das Gift an die Küste geweht und infiziert die Menschen. Es beginnt mit Juckreiz, dann fällt die Haut in Schuppen ab, bis die Infizierten sich buchstäblich häuten.
Die Menschen ziehen sich ins Landesinnere zurück, die Gesellschaft steht kurz vor dem Kollaps. Die ökologische Apokalypse hat längst die Landwirtschaft und Nahrrungsketten zusammenbrechen lassen.
Die Ich-Erzählerin kümmert sich gegen Bezahlung um einen kleinen Jungen, der einen nicht genannten Gen-Defekt hat, der ihm permanenten Hunger verursacht (ich habe eine starke Vermutung um welchen es sich handelt). Zudem kümmert sie sich um ihre Mutter, die sich weigert ins Landesinnere zu ziehen und um ihren chronisch infizierten Ehemann im Krankenhaus, bei dem die Krankheit mysteriöserweise nicht fortschreitet. Mit ihm verbindet sie eine seit Kindertagen komplizierte Beziehung, die in Rückblenden immer wieder aufblitzt. Ebenso denkt die Erzählerin viel über die Beziehung zu ihrer Mutter und zu ihrem Mutterersatz nach.
⚫️ Das Kümmern um andere mit und ohne Bezahlung und die damit verbundenen Abhängigkeiten stehen im Mittelpunkt dieses Romans. Können wir unsere eigenen Wünsche frei erkennen? Doch was sind und wollen wir ohne Verantwortung für andere?

⚫️ Für mich macht nicht dieses Thema den Reiz des Romans aus, dazu ist mir das alles zu abstrakt und zu vage ausformuliert. Was mir gut gefallen hat, ist die greifbare Atmosphäre, die Trías mit ihrer lyrischen Sprache erschafft. Eine Atmosphäre von Verlorenheit, Einsamkeit und Zerfall. Ich lasse mich haltlos ohne Anker durch den Roman treiben genauso wie die Erzählerin durch eine zerstörte Welt.

Mir hat es durchaus gefallen mich ganz auf diese Atmosphäre einzulassen, und denke der Roman kann Leser:innen ansprechen, die sehr spezielle und sprachlich abstrakte Romane mögen. Lasst euch überraschen!

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Veröffentlicht am 02.02.2023

Lesenswert!

Die Perfektionen
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Ich las diesen schmalen Roman in einem Rutsch durch. Dieses subtile Porträt zweier Leben faszinierte mich unter anderem auch deshalb, weil es, oberflächlich gesehen, mit meinem Leben und sozialen ...

Ich las diesen schmalen Roman in einem Rutsch durch. Dieses subtile Porträt zweier Leben faszinierte mich unter anderem auch deshalb, weil es, oberflächlich gesehen, mit meinem Leben und sozialen Umfeld nicht viel gemein hat.
Theresia Enzenberger nennt diesen Roman auf dem Klappentext einen Berlinroman, lakonisch, satirisch, glänzend.

Damit ist klar, wo der Roman spielt: in Berlin, diesem pulsierenden, facettenreichen melting pot.
Latronico beginnt seinen Roman mit einer ausufernden detailreichen Beschreibung einer Wohnung, besser gesagt mit dem Bild einer Wohnung. Die Wohnung ist hip wie in hipster, voller shabby chic, gewollt unangestrengt lässig und mit den unvermeidlichen Monstera Pflanzen. Mein inneres Auge weiß genau wie diese Wohnung aussieht, auf hunderten Instagram Fotos und Lifestyle Magazinen sah es sie schon.
Es ist die Wohnung des nach Berlin gezogenen Pärchens Anna und Tom. Beide arbeiten selbständig als Graphik Designer, sie sind jung und das Leben ist unkompliziert und schön.
Diese Unkompliziertheit bringt schon in diesen ersten Berliner Jahren eine gewisse Unverbindlichkeit und Beliebigkeit mit sich, die sich auf Freundschaften, Arbeitsleben und Sexleben gleichermaßen ausdehnt. In Anna und Tom keimt eine Unzufriedenheit, die beide aber nicht greifen oder benennen können.

„Sie fürchteten zufrieden zu sein, weil sie sich zufriedengegeben hatten.“

Die perfekten Bilder, denen sich beide ohne Unterlass auf Social Media aussetzten, verstärkt das Gefühl von innerer Leere und Sinnlosigkeit, ohne dass sie es merken oder gar ändern könnten.

Als sich mit den Jahren Berlin verändert, gentrifizierter wird, und ihre Freunde in ihre jeweiligen Heimatländer zurückkehren oder eine Familie gründen, wächst in Anna und Tom die Sehnsucht nach einem neuen Aufbruch.

Ich habe den Begriff „Generationenporträt“ zu diesem Roman gelesen. Anna und Tom werden nicht als Individuen beschrieben, sondern sind Stellvertreterinnen für ein sehr kosmopolitisches urbanes Umfeld, in dem sicher nicht ihre ganze Generation zu Hause ist. Doch dieses innere Bild von dem perfekten Leben, das immer nur oberflächlich perfekt aussieht, sich aber nie perfekt anfühlt, steht universell für die Suche nach einem Leben mit Bedeutung und Sinnhaftigkeit, nach dem wir alle streben.

Mir hat Latronicos vielschichtiger und interpretationsoffene Roman sehr gut gefallen. Ich las ihn eher als beschreibend, denn als wertend. Latronico überlässt es mir als Leser
in ein persönliches Fazit zu ziehen oder aber auch nicht. Zu überlegen, ob ich selbst in den „Gefängnissen des Überflusses“ stecke.

Für mehr Buchvorstellungen besucht mich auf Instagram (@lustaufliteratur)!

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Veröffentlicht am 03.08.2024

Vielschichtiger Roman über Suchende

Taumeln
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Das ist mein erster Roman von Sina Scherzant. Ihr Debüt „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ hatte ich 2023 trotz des vielversprechenden Titels wegen akuter Leseüberlastung ausgelassen. ...

Das ist mein erster Roman von Sina Scherzant. Ihr Debüt „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ hatte ich 2023 trotz des vielversprechenden Titels wegen akuter Leseüberlastung ausgelassen. Dafür habe ich jetzt bei ihrem zweiten Roman, verführt durch die interessante Kurzbeschreibung und die vielversprechende Leseprobe, zugegriffen.

Luisas Schwester Hannah ist seit mehr als zwei Jahren verschwunden. Niemand weiß, wo die junge Frau ist und Luisa vermutet, dass ihrer Schwester etwas zugestoßen ist. Doch als die polizeilichen Ermittlungen keinerlei Spuren ergeben, verlaufen die groß angelegten privaten Suchaktionen irgendwann im Sand. Nur ein kleiner, harter Kern von acht Menschen rund um Luisa trifft sich regelmäßig am Wochenende, um weitere Teilabschnitte des Waldes zu durchsuchen.
Nicht der rätselhafte Fall der verschwundenen Schwester, sondern diese Gruppe von Menschen und Luisa selbst steht im Zentrum von Scherzants neuem Roman.

Obwohl die meisten von ihnen Hannah nicht mal kannten, hat jede*r von ihnen seine eigene innere Motivation, an den Suchaktionen teilzunehmen.
Beispielsweise der mittelalte Junggeselle Frank. Er ist vereinsamt, fühlt sich im Leben gescheitert und ist auf der Suche nach sozialen Kontakten und nach einem Daseinszweck.

“Ihr Verlust hat ihm eine Art Hobby beschert und einen Grund, am Samstag aufzustehen, zu duschen, sich einen Kaffee zu machen, obwohl das Lämpchen schon blinkt, obwohl die Maschine entkalkt werden müsste, aber dafür hat er an den meisten Samstagen keine Zeit, denn er wird gebraucht, im Wald, da warten sie auf ihn.”

Die Suchenden wachsen zu einer kleinen Schicksalsgemeinschaft zusammen, die man fast Freundschaft nennen könnte. In Luisas eigenem Leben wurde durch das Verschwinden ihrer Schwester die Stoptaste gedrückt und die Familie schwer und nachhaltig erschüttert. Sie führen ein Leben wie in einem Wartezimmer.

Scherzant greift in ihrem Roman viele Themen auf. Manche wie Depressionen und die Konkurrenz unter Schwestern, werden nur angedeutet. Andere, wie das Thema Einsamkeit, werden stärker ausgearbeitet. Das gelingt ihr meiner Meinung nach gut, auch wenn eine klarere Fokussierung auf weniger Inhalte vielleicht noch stärker gewesen wäre.
Auch literarisch variiert Scherzant mit verschiedenen Stilmitteln, Tempi und Erzählformen, was sehr gut ihr schriftstellerisches Können zeigt, aber in meinen Augen vielleicht auch etwas zu beliebig verwendet wird.
Viele der von ihr verwendeten Bilder und die sprachliche Ausgestaltung finde ich richtig gut, wie beispielsweise der starke und interpretationsoffene Schluss.


Besonders gefällt mir, dass Scherzant zeigt, wie im Alltag viel von der Aufmerksamkeit, die wir unseren Mitmenschen und vor allem den Menschen die wir lieben, widmen sollten, verloren geht. Geht ein Mensch verloren, bekommen diese verschenkten Augenblicke neues Gewicht.

„Taumeln“ ist nicht die Geschichte, wie das Rätsel der verschwundenen Hannah gelöst wird. Es ist vielmehr die vielschichtig erzählte Geschichte von Menschen, die nicht nur im Wald, sondern im Leben auf der Suche sind.

Für mich vielleicht kein Highlight, aber ein interessanter und lesenswerter Roman einer vielversprechenden Autorin und Schriftstellerin.

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