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Veröffentlicht am 06.08.2024

Was müssen wir über unsere Familiengeschichte wissen, um eine glückliche Zukunft haben zu können?

Juli, August, September
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In "Juli, August, September" von Olga Grjasnowa begleiten wir Lou, eine junge Frau in den 30ern, durch diese drei Monate in einem Jahr ihres Lebens in der jetzigen Zeit. Im Juli ist Lou in Deutschland, ...

In "Juli, August, September" von Olga Grjasnowa begleiten wir Lou, eine junge Frau in den 30ern, durch diese drei Monate in einem Jahr ihres Lebens in der jetzigen Zeit. Im Juli ist Lou in Deutschland, wo sie mit ihrem Mann Sergej und der gemeinsamen kleinen Tochter Rosa lebt.

Lou ist Galeristin und schreibt an einem Buch, Sergej ist ein berühmter Pianist, viel auf Konzerten und wenig zu Hause. Die Familie ist von ihrer Herkunft jüdisch, Lou ist mit ihrer Mutter als Kind aus Russland nach Deutschland emigriert, auch ihr Mann ist jüdisch und hat Wurzeln in Russland. Die weitere Verwandtschaft lebt mehrheitlich in Israel.

Sergej und Lou beschäftigt die Frage, ob und wie sie ihrer kleinen Tochter Rosa das Jüdisch-Sein vermitteln können, das sie selbst kaum aktiv religiös praktizieren, aber ihnen doch als kulturelles und familiäres Erbe wichtig ist... und sie aber gleichzeitig davor schützen können, sich zu sehr zu exponieren. Bisher sind sie dem Thema eher durch Vermeidung begegnet, werden aber laufend vor Herausforderungen diesbezüglich gestellt, etwa, als eine Kindergartenfreundin ihrer Tochter ein Anne-Frank-Bilderbuch zeigt.

Im August trifft Lou, gemeinsam mit ihrer Mutter und mit Rosa, ihre Verwandten zur 90er-Feier ihrer Großtante auf Mallorca.

Im September begibt sie sich schließlich spontan in einem weiteren Land auf Spurensuche, um ihre Familiengeschichte und Herkunft - und vielleicht auch sich selbst und ihren momentanen psychischen Zustand - besser zu verstehen.

Das erste und letzte Drittel des Buches habe ich sehr spannend gefunden. In der Mitte - das ist der Teil, in dem hauptsächlich das Familientreffen auf Mallorca beschrieben wird - hatte es für mich gefühlt Längen (trotz der insgesamt angenehm kurz gehaltenen Kapitel), die aber wiederum möglicherweise gut das Gefühl der Langeweile, Unverbundenheit und Sich-Gegenseitig-Nicht-Verstehens der verschiedenen Familienmitglieder widerspiegeln.

Die Charaktere wirken mehrheitlich getrieben, unzufrieden und im Leben nicht sehr angekommen. Das gilt für Lou selbst genauso wie für ihren derzeitigen Ehemann, ihren geschiedenen Ex-Mann als auch für die Mehrheit der beschriebenen Verwandten. Man lebt so dahin, mit all seinen Problemen, Fragen, Zweifeln und Neurosen... und tut sich oft schwer damit, sich wirklich ehrlich miteinander zu unterhalten und sich tiefgründig aufeinander einzulassen.

Damit ist der Autorin eine gelungene Charakterisierung der psychischen Herausforderungen vieler Menschen der heutigen Zeit gelungen und sie zeigt am Beispiel einer jüdischen Familie, wie alte Geschichten und Traumata bis heute nachwirken und wie schwierig es ist, miteinander darüber zu sprechen und sie zu überwinden.

Ein treffendes Zitat dafür, das die Themen des Buches insgesamt gut zusammenfasst, findet sich auf S. 182, da sagt Lou zu ihrem Mann: "Ich weiß nicht mehr, warum wir das alles tun. Wir geben uns so viel Mühe für eine Religion, obwohl wir nicht an Gott glauben, für eine Vergangenheit, an der kaum etwas gut war, für eine Zukunft, die maximal ungewiss ist, und für eine Identität, die wir selbst nicht mehr verstehen."

Insgesamt war es ein angenehm zu lesendes Buch, das spannende Fragen aufwirft und zum Nachdenken anregt. Zum Beispiel über das Spannungsfeld Recht auf Schweigen über die eigene Geschichte (der älteren Verwandten) vs. legitimes Bedürfnis der jüngeren Generation, offene Fragen zu klären und damit vielleicht auch mehr Klarheit über die eigene Identität und Familienposition zu bekommen.

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Veröffentlicht am 28.07.2024

Transgenerationale Traumatisierung im Lichte des aktuellen Zeitgeschehens

Sobald wir angekommen sind
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Micha Lewinskys Romandebüt "Sobald wir angekommen sind" spielt in der aktuellen Zeit, in der in Mitteleuropa eigentlich immer noch viel Sicherheit und materieller Wohlstand vorhanden sind, aber die multiplen ...

Micha Lewinskys Romandebüt "Sobald wir angekommen sind" spielt in der aktuellen Zeit, in der in Mitteleuropa eigentlich immer noch viel Sicherheit und materieller Wohlstand vorhanden sind, aber die multiplen Krisen die Psychen vieler Menschen angreifen und für tiefgreifende Angst und Verunsicherung sorgen. Umso mehr gilt das für jene, die sowieso schon die Last transgenerationaler Traumata tragen, so wie den Hauptprotagonisten Ben Oppenheim, den wir in diesem Roman kennen lernen.

Ben steht eigentlich ganz gut im Leben, er lebt in Zürich, hat eine mittelmäßig erfolgreiche Karriere als Roman- und Drehbuchautor hinter sich, zwei halbwüchsige Kinder und eine Frau, mit der er in Trennung lebt und sich aus finanziellen Gründen - zwei familientaugliche Wohnungen sind im teuren Zürich für die Familie nicht leistbar - abwechselnd gemäß dem Nestmodell bei den Kindern in der ehemals gemeinsamen Wohnung aufhält. Materiell geht es der Familie nicht schlecht und im Hintergrund gibt es auch noch Bens vermögenden Vater, der bei Bedarf immer wieder mal mit kleineren Finanzspritzen aushilft. Und auch faktisch ist in der sicheren Schweiz bis jetzt kein Krieg.

Doch Ben stammt, genauso wie seine Noch-Frau und Mutter seiner Kinder Marina, aus einer jüdischen Familie, aus einer langen Linie der wenigen Überlebenden von Verfolgungen und Ausrottungsversuchen seines Volkes. Besonders verbunden fühlt er sich dem ebenfalls jüdischen Schriftsteller Stefan Zweig, an dessen Biografie in Drehbuchform er arbeitet, und der damals in den 1930er Jahren schon frühzeitig die Zeichen der Zeit erkannte und sich rechtzeitig ins sichere Brasilien rettete (wo er sich aber schlussendlich in einer depressiven Phase das Leben nahm).

Mit der Trennung von seiner Frau scheint es Ben insgesamt nicht so schlecht zu gehen, er hat schon eine neue Beziehung gefunden, mit der jungen Künstlerin und getrennt lebenden Mutter Julia Beck (ohne jüdische Abstammung und ohne ähnliche transgenerationale Traumatisierungserfahrungen). Es könnte also einiges ganz okay sein in Bens Leben, wären da nicht die tiefen Ängste davor, dass der Krieg im Osten Europas sich unerwartet und plötzlich auch auf die Schweiz ausdehnen könnte und es dann vielleicht zu spät sei für eine Flucht.

Marina und Ben haben schon öfters darüber gesprochen, was in einem solchen Fall zu tun sei, um sich selbst und vor allem die gemeinsamen Kinder zu schützen. Und dann passiert tatsächlich etwas, von dem beide denken, es könnte der letzte Auslöser gewesen sein und in einer plötzlichen Aktion fliehen die beiden ohne viel weiteres Nachdenken mit den gemeinsamen Kindern nach Brasilien, nun doch wieder als scheinbar gemeinsame Familie, und ohne Bens neue Freundin Julia und deren Sohn. Sich dort zurechtzufinden, stellt die Familie vor alle möglichen unerwarteten Herausforderungen und der noch nicht eingetretene Weltkrieg in der Schweiz bringt die Frage mit sich, ob die Flucht nicht doch überstürzt war.

Ich habe dieses Buch innerhalb kürzester Zeit ausgelesen, weil mich die Geschichte sofort gepackt hat und ich mich sehr mit den Figuren identifizieren konnte. Es spiegelt für mich sehr gut das aktuelle Zeitgeschehen und zeigt auf, wie sich dieses mit individuellen Schicksalen verknüpft und wie persönliche Ängste und intergenerationale Traumatisierungen durch die aktuellen Krisen wie durch ein Brennglas verschärft werden können.

Noch vor zehn Jahren hätte so eine plötzliche Flucht, wie sie in diesem Buch beschrieben wird, möglicherweise sehr unrealistisch gewirkt... nun kenne ich selbst einige Menschen, bei denen die Krisen der letzten Jahre ähnliche Ängste hervorgerufen haben und die sich ebenfalls sehr intensiv mit dem Gedanken daran, Mitteleuropa zu verlassen, getragen haben (und es gibt auch einige, die das ja tatsächlich getan haben).

Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Veränderungen bahnen sich langsam an, können sich aber - wie die Geschichte zeigt - durchaus auch dann sehr plötzlich zuspitzen, und oft zeigt sich erst im Nachhinein, welche Ängste vielleicht übertrieben waren und wer tatsächlich ein feines Sensorium für bevorstehende Gefahren hatte, das gemeinsam mit dem Mut zum entschlossenen Handeln diese Personen dann gerettet hat. So ist Bens und Marinas Handeln für mich insbesondere vor deren Familiengeschichte als Nachkommen Überlebender für mich sehr gut nachvollziehbar.

Sehr gut gefallen hat mir auch, dass das Buch nicht mit der Ankunft in Brasilien endet, sondern das Leben in Brasilien und die damit verbundenen Herausforderungen ebenfalls detailliert und authentisch geschildert werden. Damit macht es nachfühlbar, dass es zwar möglich ist, auszuwandern, aber sich damit nicht automatisch alle Probleme, die man im Leben hatte, in Luft auflösen, und das Leben anderswo - noch dazu als Neuangekommene - nicht unbedingt einfacher ist.

Auch der Titel "Sobald wir angekommen sind" ist für mich sehr stimmig und passend. Im Buch zeigt sich eben genau diese Problematik: Ben kommt nicht wirklich an im Leben. Nicht so ganz in seiner Karriere als Buch- und Drehbuchautor mit mittelmäßigem Erfolg. Nicht so ganz in der Beziehung zu den zwei Frauen Marina und Julia, zwischen denen er sich weder wirklich entscheiden, noch sich langfristig auf eine davon wirklich tiefgehend einlassen kann. Und örtlich auch nicht.

Ben bleibt ein Getriebener und Ängstlicher, der doch verzweifelt nach einem "Ankommen" und einem sicheren Hafen sucht, geografisch und in einer Beziehung, und diesen doch nicht finden kann, solange er in den alten Traumatisierungen und Ängsten gefangen bleibt und jederzeit am Sprung ist, zu fliehen. Das hat der Autor sehr authentisch herausgearbeitet und stellt es auch immer wieder in den Kontext der Geschichte des jüdischen Volkes und stellt anhand des Protagonisten Ben und der Menschen in seinem Leben Fragen und Anregungen dazu, was das Spezifische dieser Geschichte und der daraus resultierenden Prägungen ausmachen kann und wie sich dieses Thema bis heute auf die Menschen auswirkt.

Ein sehr interessantes und nachdenklich machendes Buch, das ich allen empfehlen kann, die sich gerne mit Themen des aktuellen Zeitgeschehens im 21. Jahrhundert und deren Auswirkungen auf die Psyche der heutigen Menschen vor dem Hintergrund transgenerationaler Traumatisierungen interessieren.

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Veröffentlicht am 03.07.2024

Viele kluge Gedanken zu einer unterschätzten Lebensphase... tröstlich und Hoffnung machend

Mitte des Lebens
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Ich lese "Mitte des Lebens" mit Ende 30, also kurz vor dem Beginn der "Mitte des Lebens", die entwicklungspsychologisch so ungefähr zwischen 40 und 65 Jahren, mit offenen Rändern zu beiden Seiten hin, ...

Ich lese "Mitte des Lebens" mit Ende 30, also kurz vor dem Beginn der "Mitte des Lebens", die entwicklungspsychologisch so ungefähr zwischen 40 und 65 Jahren, mit offenen Rändern zu beiden Seiten hin, verortet wird. Dieses Buch hat mich angelacht, seit ich es zum ersten Mal gesehen habe, denn schon seit längerem bin ich auf der Suche nach Inspiration zu dieser kommenden Lebensphase und nach etwas, das dem starken Jugendkult unserer Gesellschaft etwas entgegenhält. Das habe ich in diesem schönen Buch gefunden.

Gleich auf den ersten Zeilen begegnet mir eine wunderschöne Metapher und macht mich neugierig auf das weitere Lesen: "Den See erblickt man erst, wenn man zur Mitte des Hochplateaus gelangt ist."

Diese Sichtweise zieht sich durch das ganze Buch: einer der wesentlichen Vorteile der Lebensmitte liegt in der erweiterten Perspektive, in all dem, was sichtbar wird, wenn man schon ein beachtliches Stück des Lebensweges gegangen ist. Kombiniert damit, noch jung genug zu sein, meist (bei guter Gesundheit) noch viele Jahrzehnte vor sich zu haben, kann die Lebensmitte laut Barbara Bleisch eine tolle Zeit der Reflexionen, der Wendepunkte und Chancen sein: aus vier oder mehr Jahrzehnten Lebenserfahrung blicke ich zurück, reflektiere mein bisheriges Leben und entscheide, wo ich so weitermachen und wo ich etwas ändern möchte.

Die Autorin ist Philosophin und so ist es eindeutig ein philosophisch geprägtes Buch, mit sehr vielen philosophischen Bezügen. Gleichzeitig zeigt das Buch aber auch einen Blick über die Philosophie hinaus und verbindet diese mit Erkenntnissen aus Entwicklungspsychologie (z.B. Erik Erikson), Geschichte, Literatur (z.B. John Stuart Mill und seine Autobiografie, Simone de Beauvoir und ihr "Lauf der Dinge", Bertrand Russel und seine "Autobiography", Rebecca Solnit und ihre Essaysammlung "Getting lost",...) sowie eigenen Beobachtungen aus dem Leben der Autorin. Das lockert das Buch auf und macht es noch interessanter zu lesen.

Es beginnt mit dem Kapitel "In der Lebensmitte", in dem diese Lebensphase beschrieben und verortet wird. Darauf folgen die Kapitel "Ende in Sicht", "Reue, Bedauern und Ambivalenz", "In den besten Jahren", "Alles erreicht", "War es das schon?" und "Inmitten des Lebens". Diese Kapitelüberschriften geben einen guten Einblick in den vielschichtigen Themenbogen, den das Buch spannt: es geht sowohl um Themen wie Reue und Bedauern, als auch um Angekommen-Sein, Zufriedenheit und Generativität, dabei aber vielleicht trotzdem das Gefühl haben, dass etwas fehlt, um einen Blick zurück und einen Blick nach vorne, das bisher Erreichte und noch Erreichbare... und auch ein kritisches Hinterfragen des stark planungs- und zielorientierten Lebens und die Frage, was ein gutes Leben ausmacht, insgesamt, und besonders in der Phase der Lebensmitte.

Insgesamt ist es aber ein Buch, das zumindest ein sehr starkes Interesse an philosophischem Denken und eine Offenheit dafür voraussetzt und sich klar an sehr gebildete Lesende wendet. Für mich war es eines der interessantesten Sachbücher dieses Jahres und ich werde es nach dem ersten Lesen sicher noch öfters zur Hand nehmen, mir Notizen zu den vorgestellten philosophischen Konzepten machen, selbst darüber in mein Journal schreiben, die Ideen mit anderen diskutieren und auch im Laufe der Jahre und Jahrzehnte beobachten, welche weiteren Erkenntnisse ich daraus ziehen kann, während ich mich in und durch die Phase der mittleren Jahre bewege. Damit ist es ein Buch, das ich für die nächsten Jahrzehnte als Begleiter an meiner Seite haben möchte und ich freue mich schon darauf.

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Veröffentlicht am 23.06.2024

Von Schicksalsschlägen und dem Geborgenheit-Finden in einer Wahlfamilie

Windstärke 17
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"Windstärke 17" kann als die Fortsetzung von Caroline Wahls erfolgreichem Debütroman "22 Bahnen" gesehen werden. Die beiden Bücher hängen zusammen: während das erste aus der Perspektive der älteren Schwester ...

"Windstärke 17" kann als die Fortsetzung von Caroline Wahls erfolgreichem Debütroman "22 Bahnen" gesehen werden. Die beiden Bücher hängen zusammen: während das erste aus der Perspektive der älteren Schwester Tilda erzählt wird, geht es nun um die jüngere Schwester Ida. Und wir haben einen Zeitsprung hinter uns: das erste Buch endet mit der 10- oder 11-jährigen Ida und mit Tildas Entschluss, von daheim auszuziehen und für das Promotionsstudium nach Berlin zu gehen.

Was es für Ida bedeutet hat, ab diesem Zeitpunkt weitgehend allein mit der alkoholabhängigen Mutter aufzuwachsen, und welche Schäden das in ihrer Psyche hinterlassen hat, erfahren wir nun in "Windstärke 17". Das Buch beginnt mit der nun erwachsenen Ida, die die Mutter tot auffindet... nach einer langen psychischen, körperlichen und sozialen Abwärtsspirale hat sich diese nun endgültig mit Tabletten das Leben genommen. Auch von Tilda hat Ida sich entfremdet, die beiden haben nur sporadisch Kontakt und Ida stößt die ältere Schwester meistens wütend weg... zu tief sitzt der Schmerz, so viele Jahre mit der Mutter allein gelassen worden zu sein.

Auch jetzt lehnt Ida alle Hilfsangebote der Schwester - die sich mit Mann, Kindern und einer guten Stelle fest im Leben etabliert hat - vehement ab, schaltet ihr Handy auf Flugmodus und flüchtet in einer spontanen Impulsreaktion irgendwohin, landet dabei auf der Insel Rügen. Hier hat sie das Glück, wirklich guten, liebevollen Menschen zu begegnen, die sie wie eine Tochter aufnehmen und liebevoll unterstützen. Zum ersten Mal in ihrem Leben erlebt Ida so etwas wie ein geordnetes Familienleben, doch mit ihrer traumatisierten Psyche fällt es ihr schwer, sich auf dieses einzulassen... und auch hier gibt es Schicksalsschläge und Herausforderungen.

Für mich war "Windstärke 17" kein leicht zu lesendes Buch. Das macht es nicht schlecht. Im Gegenteil, ich finde die Persönlichkeit Idas, ihre Schwierigkeit, sich wirklich auf Menschen einzulassen, ihre Gefühlsschwankungen und ihr risikoreiches, fast schon suizidales Verhalten sehr authentisch geschildert... hier schreibt eine Autorin, die sich mit diesen Themen offensichtlich auskennt und tiefgehend damit auseinandergesetzt hat.

Schwer gefallen ist mir, dass ich innerlich die ganze Zeit den Vorgängerband "22 Bahnen" und seine Hauptprotagonistin Tilda im Kopf hatte, und dieser hatte, trotz der schweren Thematik mit der alkoholkranken Mutter, viel mehr Humor, Leichtigkeit und Hoffnung zu bieten. Tilda war so eine resiliente Persönlichkeit, dass gute Hoffnung dafür Bestand, dass sie ihr Leben trotz der schwierigen Startbedingungen gut auf die Reihe kriegen würde, und sie innerlich zu begleiten, machte Hoffnung und Mut.

Und so ist es ja auch gekommen, wie man im zweiten Band sieht, Tilda hat ihr Leben auf die Reihe gekriegt... Ida hingegen kämpft enorm und wird aufgrund ihrer Persönlichkeitsdynamik wohl auch in Zukunft in ihrem Leben noch sehr zu kämpfen haben. Das ist, wie gesagt, realistisch dargestellt, aber in seiner Schwere und Tragik noch viel weniger ein Sommer-Wohlfühl-Buch als "22 Bahnen". Ich empfehle es für Interessierte, die bereit sind, sich auf diese Dynamik einzulassen.

5 Sterne, weil es insgesamt ein sehr gut geschriebenes Buch ist und die traurige und dunkle Thematik das Buch ja nicht per se schlechter macht.

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Veröffentlicht am 03.06.2024

Ist es möglich, durch eine Landschaft zu reisen, ohne dadurch verändert zu werden?

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
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Als ich von diesem Buch das erste Mal gehört und mir die Umschlagtexte angeschaut habe, habe ich mir nicht so recht vorstellen können, was mich erwartet und zu welchem Genre dieses Buch überhaupt gehört. ...

Als ich von diesem Buch das erste Mal gehört und mir die Umschlagtexte angeschaut habe, habe ich mir nicht so recht vorstellen können, was mich erwartet und zu welchem Genre dieses Buch überhaupt gehört. Jetzt, nach dem Lesen, kann ich sagen: es ist ein in vieler Hinsicht ungewöhnliches Buch, das sich einer klaren Genre-Zuordnung entzieht.

Wir begleiten eine Gruppe von Menschen bei ihrer Reise auf der transsibirischen Eisenstadt von Peking nach Moskau: etwa das im Zug geborene und aufgewachsene 16-jährige "Zugkind" Zhang Wei Wei, den nach Ruhm und Erkenntnis strebenden Wissenschaftler Henry Grey, die unter verdeckter Identität reisende vermeintliche junge Witwe Maria usw. Die Zugfahrt erleben wir auch tatsächlich abwechselnd durch die Perspektiven dieser verschiedenen Menschen, das macht das Buch noch einmal besonders interessant und hat mir sehr gut gefallen.

Gleich beim ersten Aufklappen des Buches begegnet uns eine detaillierte Skizze des einzigartigen Transsibirien-Express aus dem Jahr 1899, samt Gartenwagen, in dem frische Lebensmittel angebaut werden, Krankenstation, Aussichtswagen, Bibliothek, Salon, Labor des Kartografen und natürlich Schlaf- und Speisewagen sowie Küchen für die erste und dritte Klasse (eine zweite Klasse gibt es in diesem Zug nicht). Das macht gleich Lust aufs Lesen und gibt einen guten Vorgeschmack auf die detailreiche Beschreibung der Fahrt in diesem besonderen Zug... ein Versprechen, das das Buch dann auch sehr gut erfüllt.

Sprachlich und stilistisch zeichnet sich das Buch durch ein hohes Niveau, wunderschöne Sprachbilder, Metaphern und viele liebevoll beschriebene Details aus. Unter diesem Blickwinkel ist es definitiv als anspruchsvollere Literatur einzuordnen.

Fast auf jeder Seite finden sich Anregungen zum Nachdenken, nicht nur über das Buch selbst, sondern auch über die Welt, in der wir leben, und über tief philosophische Fragen wie die, ob es möglich ist, zu reisen, ohne durch die Reise selbst verändert zu werden, oder ohne durch die Reise die Umgebung, die man durchquert, zu verändern. Steht alles miteinander in Wechselwirkung und wenn ja, wie? Und was ist unsere Verantwortung als Menschen dabei?

Es geht auch um Unterschiede, Ausgrenzung und Vorurteile, das "Hier" (im Zug") und das "Dort" (das Ödland da draußen, von dem man sich abschotten will und das man fürchtet), aber auch um Freundschaft und Verbundenheit, um die ethischen Grenzen technologischer Entwicklung und wissenschaftlicher Neugierde und vieles mehr.

Sprachlich besonders schön und inhaltlich neugierig machend und gut auf die kommenden Kapitel einstimmend sind die jeweils den sieben Teilen (die dann noch in kleinere Unterkapitel unterteilt sind) vorangestellten Zitate aus dem fiktiven "Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland", z.B. "Drei Tagesreisen von Peking entfernt erscheint eines der größten Naturwunder am Horizont, flirrend wie eine Fata Morgana in den letzten Strahlen der Abendsonne: der Baikalsee, siebenhundert Kilometer lang und - so heißt es - fast anderthalbtausend Meter tief. Der älteste See der Welt. Über Stunden hinweg fährt der Zug daran entlang. Wenn der Mond aufgeht, verwandelt sich das Wasser in Silber. Es fällt schwer, nicht an die Dunkelheit darunter zu denken und daran, was wohl in den Tiefen, in die das Licht niemals vordringt, leben mag. Ich rate dem vorsichtigen Reisenden, ihn nicht allzu lange zu betrachten."

Neben den Merkmalen, die gute, gehobene Literatur auszeichnen - und vor dem Hintergrundsetting eines historischen Romans: immerhin befinden wir uns in der Transsibirischen Eisenbahn auf dem Weg von Peking nach Moskau Ende des 19. Jahrhunderts - finden sich im Buch aber auch Elemente von Thriller und Fantasy... damit geht der Inhalt weit über einen rein historischen Roman hinaus.

Wie man beim Lesen schnell bemerkt, befinden wir uns nicht in einem realistischen Szenario der transsibirischen Eisenbahn zu dieser Zeit, sondern in einer alternativen Realität, in der sich so einiges von den bekannten historischen Tatsachen unterscheidet.

Das macht das Buch aber auch wiederum ganz besonders spannend und es liest sich leicht und interessant... lädt aber auch dazu ein, bei so einigen Passagen länger zu verweilen oder das Buch mehrmals zu lesen, um sich keine der darin enthaltenen sprachlichen und philosophischen Schätze entgehen zu lassen.

Es handelt sich um ein tiefgründiges und außergewöhnliches Buch, das sicher noch lange in meinem Herzen nachwirken wird und das ich auch in Zukunft noch öfters zur Hand nehmen möchte, um wieder reinzulesen und mich von den vielfältigen philosophischen Fragen und den wunderschönen Sprachbildern inspirieren zu lassen.

Ich empfehle das Buch allen, die bereit sind, sich auf ein Buch einzulassen, das neuartig, spannend und genreübergreifend ist und genau durch diese Vielschichtigkeit sehr bereichernd und inspirierend sein kann.

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