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Veröffentlicht am 30.10.2024

Treffendes Bild über unsere Gesellschaft

Hey guten Morgen, wie geht es dir?
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Juno scheint festzustecken. Ihr Mann ist schwer krank, sie kümmert sich um ihn soviel und intensiv sie kann, um ihm sein Leben zu erleichtern. Routine ist essentiell und so versucht sie ihm all das zu ...

Juno scheint festzustecken. Ihr Mann ist schwer krank, sie kümmert sich um ihn soviel und intensiv sie kann, um ihm sein Leben zu erleichtern. Routine ist essentiell und so versucht sie ihm all das zu bieten, was er mag - und das schon seit Jahren. Sie selbst ist Künstlerin und kann sich mit unterschiedlichen Engagements nur knapp über Wasser halten. Um der Langeweile ihres eintönigen Alltags zu entkommen, beginnt sie wissentlich, mit Love Scammern zu chatten. Eines Tages trifft sie auf den Scammer Benu und deckt ihn umgehend auf. Zwischen ihnen entwickelt sich eine Art Freundschaft, die wohl beiden aus ihrem monotonen Alltag befreit...

Martina Hefter hat mit "Hey guten Morgen, wie geht es dir?" zurecht etliche Literaturpreise, darunter zuletzt den Deutschen Buchpreis, erhalten. Sie zeichnet mit ihrem einfühlsamen Roman ein Abbild der Gesellschaft, die zwischen Leidenschaftslosigkeit, Alltagsbewältigung und der Suche nach einem höheren Sinn schwankt.

In knappen Kapiteln wechselt die Erzählform zwischen Chats und dem Status Quo der Protagonistin. Die Art, wie Juno mit Scammern umgeht, ist einprägsam - schonungsloser Gedankenorgasmus und peripheres Interesse an dem, was dahintersteckt. Etliche Themen sind wiederkehrend, so nimmt in ihren Gedankenausstößen Lars von Triers' Film Melancholia eine zentrale Rolle ein. Stete Wiederholung, sei es in den Korrespondenzen mit den Liebesbetrügern oder ihrem niederdrückenden Alltag rund um die Pflege des Geliebten und dem Existenzkampf einer Künstlerin, sind zentral, scheinen sogar ein Lebenselixier der Protagonistin zu sein. Sie überreizt die Scammer, deckt sie schonungslos auf und nur Benu bleibt ihr treu. Ebenso schonungslos lebt sie ihren eingeengten Alltag in der Hoffnung, doch noch frei zu werden.

Der Roman ist emotionslos wie packend zugleich. Es wird angedeutet, dass ihr Alltag als pflegende Angehörige mühsam ist, doch wird ihre wahre Gefühlswelt niemals aufgedeckt - ist doch das Funktionieren alles was zählt. Stattdessen begibt sie sich in Gedankenorgasmen, die sie gegenüber ihren Scammern haltlos wiedergibt. Dadurch befreit sie sich von sämtlichen Konventionen und funktioniert sogleich wie es die Gesellschaft erwartet. Trotzdem packt sie regelmäßig das schlechte Gewissen, weiß sie doch, dass sie die Privilegierte ist. Um dem entgegenzuwirken, beschäftigt sie sich mit Fakten aus Büchern über das Land ihres Scammers. Misstrauen ist stets vorhanden, trotzdem quält Juno ihre eigene Privilegiertheit und das, obwohl Benu gleich nach Aufdeckung seines Ansinnens mit offenen Karten spielt.

Eine Besonderheit an dem Erzählten ist die bewusst gewählte Dramatik an der Geschichte. Die verwendeten Namen sind allesamt und einheitlich aus der griechischen Mythologie entlehnt, dafür ist der Titel des Buches um so zeitgemäßer, wenn auch schwer ertragbar. Faszinierend ist die Verknüpfung aus antikem Grundstock und einer absoluten Wiederspiegelung des heutigen Zeitgeistes.

So skeptisch ich gegenüber dem Buch war, so sehr kann ich die Lektüre jeder und jedem Lesenden nur ans Herz legen. Martina Hefters ausgezeichneter Roman ist ein absolut lesenswertes Spiegelbild unserer Gesellschaft mit all ihren positiven und negativen Herausforderungen.

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Veröffentlicht am 24.10.2024

Über die Komplexität von Freundschaften

9 Grad
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Plötzlich ist alles anders: Josies beste Freundin Rena wird schwer krank und beginnt ihr komplettes Leben in Frage zu stellen. Gleichzeitig lernt Josie Lee kennen, bei dem sie sich unglaublich wohl fühlt, ...

Plötzlich ist alles anders: Josies beste Freundin Rena wird schwer krank und beginnt ihr komplettes Leben in Frage zu stellen. Gleichzeitig lernt Josie Lee kennen, bei dem sie sich unglaublich wohl fühlt, doch er kämpft akut mit einer schweren Depression, was ihren Beziehungsanfang kompliziert macht. Josie selbst hat wenig Selbstbewusstsein, besonders was ihren Körper betrifft. Doch das Schwimmen im kalten Fluss beschert ihr ein ganz neues Lebensgefühl.
Elli Kolb ist mit "9 Grad" ein berührendes, authentisches und zeitgeistiges Buch gelungen, das wunderbar aufzeigt, mit welchen Problemen junge Menschen heutzutage kämpfen müssen. Hier werden Themen behandelt, die woanders oft ausgespart werden - extrem schmerzhafte Regelschmerzen, die nahe ans Delirium führen; psychische Erkrankungen, die für den Betroffenen schwer zu fassen und kaum erklärbar sind; stark überhöhte Erwartungshaltungen, die die eigenen Bedürfnisse kaum berücksichtigen und schließlich auch gestörte Körperwahrnehmungen, die durch gesellschaftlichen Druck verursacht werden und das Selbstwertgefühl nicht wachsen lässt. Es sind viele Themen, die angesprochen werden, jedes mit unterschiedlicher Tiefe, was wiederum ein Zeichen der Zeit ist – bei alledem, was alle zu sein, zu wissen, zu tun, zu leisten haben, bleibt nicht immer Raum für Tiefgründigkeit.

Vor allem ist „9 Grad“ aber ein Roman über Freundschaft und Beziehungen, in all ihren Schwierigkeiten und Komplexitäten. Die Ich-Erzählerin, Josie, struggelt mit vielem, hinterfragt viel, vor allem sich selbst und orientiert sich stets an dem verlässlichsten Menschen in ihrem Leben – Rena. Als diese krank wird, beginnt auch sie ihr Leben zu überdenken. Das Baden im 9 Grad kalten Wasser ist ihr Weg, zu sich selbst zu finden, sich selbst und ihren Körper wieder zu spüren, um danach wieder klar zu sein. Sie geht dabei auch über Grenzen und ihre Freundschaften spiegeln ihr unmissverständlich ihre Torheit wieder. Überhaupt – wie hier Freundschaft beschrieben wird, mit Höhen und Tiefen, mit Ausverhandlungen, Streitigkeiten, aber auch innigem Vertrauen, Zuneigung, Spaß, eingehende Auseinandersetzung und Reflexion des Gegenübers, ist genauso herzerwärmend wie treffsicher. Die Figuren im Roman entwickeln sich im Laufe der Geschichte immer weiter und verstehen schlussendlich, dass Loslassen auch ein wichtiger Schritt zur Weiterentwicklung ist.

Mein Fazit: „9 Grad“ ist ein Roman über Freundschaft und Beziehungen – zu anderen und zu sich selbst. Mit äußerst angenehmem Schreibstil porträtiert die Autorin hervorragend beobachtend und authentisch den Zeitgeist und die vielen Facetten der zwischenmenschlichen Interaktion. „9 Grad“ ist eines meiner Lesehighlights aus diesem Jahr und ich kann dieses schöne Buch nur wärmstens empfehlen!

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Veröffentlicht am 01.10.2024

Traue der Trauer nicht!

Das Haus in dem Gudelia stirbt
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Gudelia sieht das Leben an ihr vorbeifließen. In einer tragischen Flut schwimmen nicht nur hunderte von Schweinen an der über-80-Jährigen vorbei, sondern auch Menschenleichen. Alle haben das Dorf verlassen, ...

Gudelia sieht das Leben an ihr vorbeifließen. In einer tragischen Flut schwimmen nicht nur hunderte von Schweinen an der über-80-Jährigen vorbei, sondern auch Menschenleichen. Alle haben das Dorf verlassen, nur Gudelia bleibt in ihrem geliebten Haus. Schließlich verbirgt sich dort ein wohl gehütetes Geheimnis, das nicht ans Licht kommen sollte...

Thomas Knüwer gelingt mit "Das Haus in dem Gudelia stirbt" ein schwarzhumoriger und kurzweiliger Debutroman, der im Entfernten an einem Krimi erinnert, in Wahrheit aber die jahrelange, festsitzende Trauer der Hauptprotagonistin nachzeichnet. Sie hat vor vierzig Jahren ihren Sohn verloren und ist über dessen Tod nie hinweggekommen. In drei Erzählzeiten, nämlich 1984, 1998 und 2024, erfahren wir mehr über das Leben der alten, eigenwilligen Dame, die auf den ersten Blick bösartig erscheint, eigentlich aber ob der ihr passierten Schicksalsschläge eine gebrochene Frau ist. Sie wirkt hart, berechnend und zielstrebig, in ihr weilt aber eine zarte Seele, die sie mit aller Macht verdrängen möchte. Der Autor legt viele Fährten, um den Lesenden genügend Stoff zum Spekulieren um das Geschehene zu bieten und auch wenn einige im Sande verlaufen oder sich als irrelevant herauskristallisieren, ist es doch eine Freude den Gedankengängen der Protagonistin zu folgen. Etliche Vorkommnisse muten krankhaft an und wer keinen Sinn für morbiden Humor hat, sollte um dieses Buch einen großen Bogen machen.

Der Autor besticht regelmäßig mit einer Flut an einfallsreichen, auch tiefgründigen Aussagen und kreativen Metaphern, die oft mit Humor gespickt sind. Seine Sätze sind immer wieder abgehakt, bestehen mitunter aus nur zwei Wörtern und wurden mitunter hart formuliert, das verleiht dem Roman eine ganz eigene Sprachatmosphäre. Beispiele dafür sind: "Ich schreie. Aus voller Kehle. Schreie das Wasser an, das sich nicht für mich interessiert." (S. 286) oder "Ullmann sagt viel und nichts. Das CDU-Feuerzeug, dass er mir letzten Sommer geschenkt hat, wird sein wertvollster Beitrag zu meinem Leben sein." (S. 211) oder "Früher, als Kinder, mussten wir draußen spazieren gehen, damit das Christkind die Geschenke unter den Weihnachtsbaum legen konnte. Heute gehe ich raus, damit mein Mann sich volllaufen lassen kann. Geheimnisse ändern sich." (S. 79) Das Ende ist in gewisser Hinsicht offen, was einigen unbefriedigend erscheinen mag, für mich hätte es aber keinen passenderen Abschluss der Erzählung geben können.

Mein Fazit: "Das Haus in dem Gudelia stirbt" ist ein morbides Psychogramm einer alternden Frau, die nie über den Verlust ihres Sohnes hinweggekommen ist. Es überzeugt durch einen eigenwilligen Schreibstil mit Tiefe, Humor, Übertreibungen und wunderschön formulierten Sätzen und teils abstrusen Handlungen. Ein absolutes Lesemuss für alle, die morbid-humorvolle und etwas abwegig erzählte Geschichten lieben.

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Veröffentlicht am 27.08.2024

Für mich ein absolutes Meisterwerk!

Das Wesen des Lebens
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1741: Georg Wilhelm Steller strandet mit einer Expedition auf dem sogenannten Eiland "Behringinsel" und beschreibt dort als erster die später nach ihm benannte "Stellersche Seekuh", die nicht nur riesige, ...

1741: Georg Wilhelm Steller strandet mit einer Expedition auf dem sogenannten Eiland "Behringinsel" und beschreibt dort als erster die später nach ihm benannte "Stellersche Seekuh", die nicht nur riesige, körperliche Ausmaße vorweist, sondern für die Gestrandeten auch noch deliziös schmeckt. 27 Jahre später ist das Tier ausgerottet, aber davon wissen weder ihre Entdecker, noch die nachfolgenden Generationen etwas. Über hundert Jahre später versucht der russische Gouverneur von Alaska, Johan Furuhjelm, die Seekuh wiederzuentdecken, doch während seiner Regentschaft muss er feststellen, dass nicht nur dieses Tier, sondern beispielsweise auch die ehemals stark verbreiteten Otter das Weite gesucht haben, was ihm vor allem wirtschaftlich vor große Probleme stellt. Erneut rund 100 Jahre später kämpft der Ornithologe John Grönvall um den Artenreichtum auf einer ausgelagerten Insel vor Helsinki zu bewahren, was ihm mit viel Geduld auch gelingt. Doch während seine vogelkundliche Arbeit im Laufe der Zeit in Vergessenheit gerät, schafft er es, der Stellerschen Seekuh ein Denkmal zu setzen.

Iida Turpeinen ist mit "Das Wesen des Lebens" ein Meisterwerk gelungen. Sie verknüpft nicht nur Naturwissenschaft mit Kulturgeschichte, sondern bietet auch literarisch eine hohe Kunst. Der Roman spielt auf drei Zeitebenen und in jeder davon wird der jeweilige Zeitgeist so anschaulich festgehalten, dass es den Lesenden ein leichtes ist, sich in die Charaktere und ihre Mentalität hineinzuversetzen. Mag der Umgang mit der Tierwelt für die heutige Zeit grausam erscheinen (weil wir unsere Grausamkeit durch Ignoranz verdrängen), veranschaulicht die Autorin gekonnt die Gedankenwelt der jeweiligen Epoche, die sich oft mit religiösen Glaubenseinstellungen begründen lässt. Genauso weiß sie den gesellschaftlichen Wandel hin zum Kapitalismus unterschwellig aufzuzeigen. Neben der Mensch-Natur-Perspektive thematisiert Turpeinen auch das patriarchale System, in dem Frauen eine untergeordnete Rolle spielten - sie mussten sich fügen und wurden in einer männlich geprägten Welt nicht ernst genommen oder als fähig betrachtet. Weiters zeigt sie historischen Ableismus auf, der Menschen mit Beeinträchtigungen an den Rand der Gesellschaft drängten, egal welche Herkunft sie hatten. Doch all dies geschieht nicht mit einem mahnenden, offensichtlichen Fingerzeig, sondern ist perfekt eingebettet in die Geschichte der Naturwissenschaft in Romanform, die uns die Autorin in nüchterner, zeitgenössischer Sprache darlegt.

Die Erzählung ist nicht nur hervorragend recherchiert, sie liefert auch Erklärungen für Verhaltensweisen, die sich heute für viele nur schwer nachvollziehen lässt. Somit ist sie eine lehrreiche Lektüre, die völlig ohne Offensichtlichkeit arbeitet. Der größte Aha-Moment für mich war, zu erfahren, dass Menschen früher die Möglichkeit des Aussterbens einer Art für unmöglich hielten, lebten sie doch in dem Glauben, dass Gott ihnen die Tierwelt zum reinen Vergnügen und in unerschöpflicher Art und Weise zur Verfügung gestellt hat. Die Erkenntnis darüber sickert nur langsam durch und zieht sich bis in die Gegenwart.

Mein Fazit: "Das Wesen des Lebens" ist für mich ein absolutes Meisterwerk und eines der besten Bücher, das ich in den letzten Jahren gelesen habe (und bestimmt noch etliche Male zur Hand nehmen werde). Die Autorin versteht es gekonnt, die Lesenden in eine mentalitäts- und kulturgeschichtliche Reise über den Umgang des Menschen mit der Natur mitzunehmen, ohne dabei zu offensichtlich zu sein. Ihre literarische Sprache passt sich dem jeweiligen Zeitgeist an und wirkt somit authentisch und nachvollziehbar. "Das Wesen des Lebens" ist ein Buch, dass ich allen ans Herz legen kann, die bereit sind, den Umgang mit unserer Umwelt kritisch zu hinterfragen und sich dabei auf ein vollkommenes Lesenabenteuer einzulassen.

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Veröffentlicht am 10.08.2024

Schonungsloses Lesehighlight

Die schönste Version
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Jella findet sich auf der Polizeiwache wieder, nachdem sie von ihrem Partner im Streit gewürgt und mit dem Umbringen bedroht wurde. Sie kann die Situation gar nicht fassen und weiß nicht so recht, wie ...

Jella findet sich auf der Polizeiwache wieder, nachdem sie von ihrem Partner im Streit gewürgt und mit dem Umbringen bedroht wurde. Sie kann die Situation gar nicht fassen und weiß nicht so recht, wie es nun weitergehen soll. Schließlich findet sie sich bei ihrem Vater ein und beginnt nicht nur ihre Beziehung zu Yannick zu rekapitulieren, sondern ihr komplettes Leben. Wie konnte es nur so weit kommen?

Ruth-Maria Thomas gelingt mit "Die schönste Version" ein beeindruckendes Romandebüt, das schonungslos das Thema Partnergewalt mit all seinen Facetten aufzeigt: die einlullende Masche der Täter, die großen Selbstzweifel, die Menschen, die einem nicht glauben, die Realität, die Frau nicht wahrhaben will, den Rechtfertigungszwang und vor allem die patriarchalen Strukturen - die "kleinen" bis großen Übergriffe, denen Frauen ausgesetzt sind und sich selbst oft übergehen, weil sie es so gelernt haben; es gewohnt sind. Ständig wird die Selbstbestimmung, das sich-entwickeln-Wollen dargestellt, als wären wir Frauen alle selbst daran schuld, Opfer zu werden - ja, so wurden wir alle sozialisiert. Dass NEIN wird geflissentlich ignoriert, denn Mann dachte, sie wollte es doch eigentlich so. Die Autorin spart nicht damit den Ausnahmezustand facettenreich darzustellen, den eigenen inneren Widerstand, die ständigen Selbsthinterfragungen.

Beeindruckend ist auch die Sprache von Ruth-Maria Thomas. Das erste was mir dazu eingefallen ist, ist das Wort "derb", besonders, weil sie so offen und klar die sexuellen Bedürfnisse der Protagonistin darlegt - aber dafür "derb" zu verwenden, könnte falscher nicht sein, wir sind es bloß nicht gewohnt, dass auch Frauen ihre Wünsche offen artikulieren. Im wahrsten Sinne atemberaubend sind auch die inneren Monologe, die Jella mit sich führt, die getränkt sind voller Zweifel - war das Erlebte wirklich so schlimm, trägt sie nicht selbst Schuld an dem, was ihr passiert ist? Nein, tut sie nicht, trotzdem wurde uns Frauen Jahrtausende eingeimpft, dass wir das Problem sind, wie könnten wir da anders als an uns selbst zu zweifeln?

Einzig wie das Thema Freundschaft dargestellt wird, konnte mich nicht einhundertprozentig überzeugen, zwar gibt es eine Freundin, die Halt und Unterstützung bietet, aber trotzdem recht oberflächlich bleibt.

Das Ende des Romans verläuft anders, als Statistiken und sozialarbeiterische Erfahrungen es voraussagen würden, aber es gibt Hoffnung, dass wir uns irgendwann gegen das Sozialisierte stellen.

Mein Fazit: ein grandioser Roman, der das Thema Partnergewalt in den Mittelpunkt stellt, ohne offensichtlich zu sein. Es rekonstruiert anhand der Rückschau auf das bisherige Leben der Protagonistin die traurige Realität des Patriarchats - einfühlsam, ehrlich und selbstreflexiv. Für mich ein absolutes Lesehighlight des Jahres 2024, ein Roman, der lange nachhallt und ganz bestimmt noch einmal gelesen werden wird.

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