Profilbild von Kwinsu

Kwinsu

Lesejury Profi
offline

Kwinsu ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Kwinsu über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 27.08.2024

Für mich ein absolutes Meisterwerk!

Das Wesen des Lebens
0

1741: Georg Wilhelm Steller strandet mit einer Expedition auf dem sogenannten Eiland "Behringinsel" und beschreibt dort als erster die später nach ihm benannte "Stellersche Seekuh", die nicht nur riesige, ...

1741: Georg Wilhelm Steller strandet mit einer Expedition auf dem sogenannten Eiland "Behringinsel" und beschreibt dort als erster die später nach ihm benannte "Stellersche Seekuh", die nicht nur riesige, körperliche Ausmaße vorweist, sondern für die Gestrandeten auch noch deliziös schmeckt. 27 Jahre später ist das Tier ausgerottet, aber davon wissen weder ihre Entdecker, noch die nachfolgenden Generationen etwas. Über hundert Jahre später versucht der russische Gouverneur von Alaska, Johan Furuhjelm, die Seekuh wiederzuentdecken, doch während seiner Regentschaft muss er feststellen, dass nicht nur dieses Tier, sondern beispielsweise auch die ehemals stark verbreiteten Otter das Weite gesucht haben, was ihm vor allem wirtschaftlich vor große Probleme stellt. Erneut rund 100 Jahre später kämpft der Ornithologe John Grönvall um den Artenreichtum auf einer ausgelagerten Insel vor Helsinki zu bewahren, was ihm mit viel Geduld auch gelingt. Doch während seine vogelkundliche Arbeit im Laufe der Zeit in Vergessenheit gerät, schafft er es, der Stellerschen Seekuh ein Denkmal zu setzen.

Iida Turpeinen ist mit "Das Wesen des Lebens" ein Meisterwerk gelungen. Sie verknüpft nicht nur Naturwissenschaft mit Kulturgeschichte, sondern bietet auch literarisch eine hohe Kunst. Der Roman spielt auf drei Zeitebenen und in jeder davon wird der jeweilige Zeitgeist so anschaulich festgehalten, dass es den Lesenden ein leichtes ist, sich in die Charaktere und ihre Mentalität hineinzuversetzen. Mag der Umgang mit der Tierwelt für die heutige Zeit grausam erscheinen (weil wir unsere Grausamkeit durch Ignoranz verdrängen), veranschaulicht die Autorin gekonnt die Gedankenwelt der jeweiligen Epoche, die sich oft mit religiösen Glaubenseinstellungen begründen lässt. Genauso weiß sie den gesellschaftlichen Wandel hin zum Kapitalismus unterschwellig aufzuzeigen. Neben der Mensch-Natur-Perspektive thematisiert Turpeinen auch das patriarchale System, in dem Frauen eine untergeordnete Rolle spielten - sie mussten sich fügen und wurden in einer männlich geprägten Welt nicht ernst genommen oder als fähig betrachtet. Weiters zeigt sie historischen Ableismus auf, der Menschen mit Beeinträchtigungen an den Rand der Gesellschaft drängten, egal welche Herkunft sie hatten. Doch all dies geschieht nicht mit einem mahnenden, offensichtlichen Fingerzeig, sondern ist perfekt eingebettet in die Geschichte der Naturwissenschaft in Romanform, die uns die Autorin in nüchterner, zeitgenössischer Sprache darlegt.

Die Erzählung ist nicht nur hervorragend recherchiert, sie liefert auch Erklärungen für Verhaltensweisen, die sich heute für viele nur schwer nachvollziehen lässt. Somit ist sie eine lehrreiche Lektüre, die völlig ohne Offensichtlichkeit arbeitet. Der größte Aha-Moment für mich war, zu erfahren, dass Menschen früher die Möglichkeit des Aussterbens einer Art für unmöglich hielten, lebten sie doch in dem Glauben, dass Gott ihnen die Tierwelt zum reinen Vergnügen und in unerschöpflicher Art und Weise zur Verfügung gestellt hat. Die Erkenntnis darüber sickert nur langsam durch und zieht sich bis in die Gegenwart.

Mein Fazit: "Das Wesen des Lebens" ist für mich ein absolutes Meisterwerk und eines der besten Bücher, das ich in den letzten Jahren gelesen habe (und bestimmt noch etliche Male zur Hand nehmen werde). Die Autorin versteht es gekonnt, die Lesenden in eine mentalitäts- und kulturgeschichtliche Reise über den Umgang des Menschen mit der Natur mitzunehmen, ohne dabei zu offensichtlich zu sein. Ihre literarische Sprache passt sich dem jeweiligen Zeitgeist an und wirkt somit authentisch und nachvollziehbar. "Das Wesen des Lebens" ist ein Buch, dass ich allen ans Herz legen kann, die bereit sind, den Umgang mit unserer Umwelt kritisch zu hinterfragen und sich dabei auf ein vollkommenes Lesenabenteuer einzulassen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 10.08.2024

Schonungsloses Lesehighlight

Die schönste Version
0

Jella findet sich auf der Polizeiwache wieder, nachdem sie von ihrem Partner im Streit gewürgt und mit dem Umbringen bedroht wurde. Sie kann die Situation gar nicht fassen und weiß nicht so recht, wie ...

Jella findet sich auf der Polizeiwache wieder, nachdem sie von ihrem Partner im Streit gewürgt und mit dem Umbringen bedroht wurde. Sie kann die Situation gar nicht fassen und weiß nicht so recht, wie es nun weitergehen soll. Schließlich findet sie sich bei ihrem Vater ein und beginnt nicht nur ihre Beziehung zu Yannick zu rekapitulieren, sondern ihr komplettes Leben. Wie konnte es nur so weit kommen?

Ruth-Maria Thomas gelingt mit "Die schönste Version" ein beeindruckendes Romandebüt, das schonungslos das Thema Partnergewalt mit all seinen Facetten aufzeigt: die einlullende Masche der Täter, die großen Selbstzweifel, die Menschen, die einem nicht glauben, die Realität, die Frau nicht wahrhaben will, den Rechtfertigungszwang und vor allem die patriarchalen Strukturen - die "kleinen" bis großen Übergriffe, denen Frauen ausgesetzt sind und sich selbst oft übergehen, weil sie es so gelernt haben; es gewohnt sind. Ständig wird die Selbstbestimmung, das sich-entwickeln-Wollen dargestellt, als wären wir Frauen alle selbst daran schuld, Opfer zu werden - ja, so wurden wir alle sozialisiert. Dass NEIN wird geflissentlich ignoriert, denn Mann dachte, sie wollte es doch eigentlich so. Die Autorin spart nicht damit den Ausnahmezustand facettenreich darzustellen, den eigenen inneren Widerstand, die ständigen Selbsthinterfragungen.

Beeindruckend ist auch die Sprache von Ruth-Maria Thomas. Das erste was mir dazu eingefallen ist, ist das Wort "derb", besonders, weil sie so offen und klar die sexuellen Bedürfnisse der Protagonistin darlegt - aber dafür "derb" zu verwenden, könnte falscher nicht sein, wir sind es bloß nicht gewohnt, dass auch Frauen ihre Wünsche offen artikulieren. Im wahrsten Sinne atemberaubend sind auch die inneren Monologe, die Jella mit sich führt, die getränkt sind voller Zweifel - war das Erlebte wirklich so schlimm, trägt sie nicht selbst Schuld an dem, was ihr passiert ist? Nein, tut sie nicht, trotzdem wurde uns Frauen Jahrtausende eingeimpft, dass wir das Problem sind, wie könnten wir da anders als an uns selbst zu zweifeln?

Einzig wie das Thema Freundschaft dargestellt wird, konnte mich nicht einhundertprozentig überzeugen, zwar gibt es eine Freundin, die Halt und Unterstützung bietet, aber trotzdem recht oberflächlich bleibt.

Das Ende des Romans verläuft anders, als Statistiken und sozialarbeiterische Erfahrungen es voraussagen würden, aber es gibt Hoffnung, dass wir uns irgendwann gegen das Sozialisierte stellen.

Mein Fazit: ein grandioser Roman, der das Thema Partnergewalt in den Mittelpunkt stellt, ohne offensichtlich zu sein. Es rekonstruiert anhand der Rückschau auf das bisherige Leben der Protagonistin die traurige Realität des Patriarchats - einfühlsam, ehrlich und selbstreflexiv. Für mich ein absolutes Lesehighlight des Jahres 2024, ein Roman, der lange nachhallt und ganz bestimmt noch einmal gelesen werden wird.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.08.2024

Beeindruckender griechischer Generationenroman

Bittersüße Mandeln
0

Stella befindet sich im Krankenhaus in Athen, ihre Mutter hatte einen Schlaganfall. Sie versucht einen Krankentransport zu organisieren, zu sehr misstraut sie dem griechischen Gesundheitssystem und weiß ...

Stella befindet sich im Krankenhaus in Athen, ihre Mutter hatte einen Schlaganfall. Sie versucht einen Krankentransport zu organisieren, zu sehr misstraut sie dem griechischen Gesundheitssystem und weiß um die gute medizinische Versorgung in ihrer Heimat Deutschland. Während des Wartens auf den Transport lernt sie ihren Onkel Oddy besser kennen und er beginnt ihr die griechische Geschichte ihrer Familie zu erzählen. Mittelpunkt der Schilderungen ist Stellas Großmutter Anna, die sich während der Zeit des Bürgerkriegs in den 1940er Jahren auf die Flucht begeben musste, es danach schaffte, alleine ihre fünf Kinder groß zu ziehen und nebenbei eine erfolgreiche Gemüseanbaufirma zu etablieren. Als ihr Mann aus der Kriegsgefangenschaft zurück kommt, ändert sich ihr Leben schlagartig - Anna wird daran erinnert, dass Manolis, ihr Mann, nun wieder das Sagen hat. Trotzdem er sie und die gesamte Familie in den Abgrund zu stoßen droht, bleibt Anna die starke Säule ihrer Familie...

Hanna von Feilitzsch nimmt uns in "Bittersüße Mandeln" mit in die griechische Zeitgeschichte. Die Hauptprotagonistin Anna bewältigt dabei die allergrössten Schwierigkeiten - sei es die Flucht als Schwangere mit vier kleinen Kindern, die drohende Armut, die sie trotz der Tatsache, dass sie weder lesen noch schreiben kann, erfinderisch und ehrgeizig werden lässt und allen voran die patriarchale Gesellschaft, derer sie sich beugen muss, als ihr Ehemann wider erwarten aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt. Oft blieb mir der Atem weg, wie Manolis ihr Schaffen ignoriert, negiert und schließlich auch zerstört, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie es Anna wohl damit gehen mag. Der Mann hat das Sagen im Haus und kann tun und lassen, was er für richtig hält. Dass er dabei mit starken Depressionen zu kämpfen hat, ausgelöst durch den Krieg und das verräterische Hintergehen eines Verwandten, wird immer mehr klar und auch, dass die Krankheit in dem behandelten Zeitraum (1950er, 1960er) schlicht nicht als solche erkannt wurde. Anna schlägt sich tapfer und fügt sich, immer in der Überzeugung, dass es für ihre Familie das Beste sei. Dieses Sich-Ergeben in den vorherrschenden Strukturen schmerzt beim Lesen sehr, vor allem, weil Anna kaum Anzeichen erkennen lässt, dass sie sich dem widersetzen möchte, zu sehr ist sie in dem Gewohnten verhaftet. Im Laufe der Zeit allerdings erkämpft sie sich durch kleine Schritte eine gewisse Art von Freiheit und schließlich darf sie im Alter einen unerwarteten zweiten Frühling erleben.

Der Erzählstil der Autorin ist recht nüchtern aber gleichzeitig eingängig, sodass ich mich sehr gut in die schwierige Zeit, die geprägt von politischen Kämpfen, Armut und den patriarchalen Strukturen war, hineinversetzen konnte. Es wird dadurch eine ganz besondere, realistische Atmosphäre geschaffen, die die Schlichtheit des Alltags und die Komplexität der politischen Situation anschaulich wiedergibt. Auch die verkrusteten Strukturen des Familienverbands werden in all ihren negativen, aber auch positiven (Stichwort: Zusammenhalt) Facetten beleuchtet. Fällt es mir grundsätzlich schwer, mir viele verschiedene Charaktere zu merken, machte es mir die Autorin in "Bittersüße Mandeln" durch die eindrücklichen Schilderungen der Charaktere ziemlich leicht, mir diese zu merken. Besonders hervorheben möchte ich, dass man nie ahnt, welche Wendungen die Geschichte nehmen wird und so kommt es immer wieder zu überraschenden Ereignissen, die die Handlung in eine unerwartete Richtung laufen lassen. Auch weiß man lange Zeit nicht, welche der Töchter Annas nun Stellas Mutter ist. Die komplexen politischen Vorkommnisse werden so geschickt und einleuchtend in die Geschichte eingebaut, dass man getrost darauf verzichten kann, bei Wikipedia nachzuschlagen. Somit liest man nicht nur einen spannenden und vielschichtigen Generationenroman, sondern lernt auch viel über die griechische Zeit- und Kulturgeschichte, ohne belehrt zu werden.

Mein Fazit: "Bittersüße Mandeln" ist ein komplexer aber eingängiger Generationenroman über eine griechische Familie, der den Weg einer starken Frau und ihrer Familie von den 1940ern bis in die 70er Jahre nachzeichnet. Man lernt nicht nur viel über griechische Zeit- und Kulturgeschichte, sondern trifft auch wunderbare, vielschichtige Charaktere, die im Laufe der Zeit unterschiedliche und überraschende Entwicklungen durchmachen. Die Geschichte der Familie ist noch nicht aus erzählt und so bleibt zu hoffen, dass uns bald eine Fortsetzung dieses tollen Romans beglücken wird!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 17.07.2024

Wunderbarer Einblick in die Welt des Schreibens

Tintenspuren
0

Andrea Hahnfeld hat mit "Tintenspuren" einen Schreibguide der besonderen Art veröffentlicht. Dort gibt sie einen Überblick über das Studium "Biographisches und Kreatives Schreiben" an der Alice Salomon ...

Andrea Hahnfeld hat mit "Tintenspuren" einen Schreibguide der besonderen Art veröffentlicht. Dort gibt sie einen Überblick über das Studium "Biographisches und Kreatives Schreiben" an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. In der Einleitung gibt die Autorin Einblicke, weshalb sie sich für das Studium entschieden hat und stellt den Leser:innen ihren Bewerbungstext zur Verfügung. In jedem Kapitel werden die einzelnen Module des Studiengangs beschrieben - deren Inhalte, Infos zu den Lehrenden und sehr nützliche, weiterführende Literaturtipps zum Thema. Die Inhalte der Module reichen von Kreativem Schreiben, Prosa, Lyrik über Gesundheit & Schreiben, Lebensphilosophie, Lebensphasen, Sprachgeschichte & Soziale Medien bis hin zu Schreibgruppen-Pädagogik, Schreibberatung & Schreibkrisen, dem Szenischen Schreiben, Schreiben als Therapie und Creative Writing. Ebenfalls gibt es ein Modul, bei dem ein Praxisprojekt ausgearbeitet werden muss. Zudem wird ein Blick auf Arbeitsmarktanalysen und Forschungsmethoden geworfen. Als Wahlmodul wählte die Autorin Autofiktion und Nature Writing. Highlight in jedem Kapitel sind eine Auswahl an Texten, die Andrea Hahnfeld während des jeweiligen Moduls erschaffen hat. Oft kommentiert sie den Entstehungsprozess der Texte und lässt uns wissen, wie die Überarbeitung der Texte vonstatten gegangen ist.

Ihre Texte sind oft sehr persönlich und intim und gaben mir den Eindruck, dass ich die Autorin, ihre Persönlichkeit, ihre Geschichte, ihre Zweifel und ihre Entwicklung ein wenig kennenlernen und mitverfolgen durfte. Besonders gefallen hat mir, dass sie ihre Selbstzweifel (die ich von mir selbst gut kenne) oft thematisierte und den Leser:innen wissen lässt, wie sie damit umging bzw. umgeht. Dass es hierbei eine Entwicklung in Richtung mehr Selbstbewusstsein gab, kann man auch anhand ihrer kreativen Texte nachvollziehen. Ihr Geschriebenes ist sehr ehrlich und selbstreflexiv, was das Buch einfach sehr authentisch macht. Ich mochte auch, dass die Autorin eine tiefe Verbindung zu Tieren hat, was man ebenfalls anhand ihrer Geschichten erkennen konnte. Was mir am meisten im Gedächtnis blieb, war ihr mehrfacher Aufruf, sich mit einer ordentlichen Feedbackkultur zu beschäftigen und diese auch umzusetzen. Demnach ist es essentiell, seine Texte mit anderen Schreibenden zu teilen und deren Feedback einzuholen - allerdings auf eine stärkende Art und Weise, welche die positiven Seiten des Geschriebenen hervorhebt und sich von einer Defizitorientierung abwendet.

Da ich mich persönlich schon länger mit dem Gedanken beschäftige, eine Ausbildung in Richtung Kreatives Schreiben zu machen, kam "Tintenspuren" für mich genau zum richtigen Zeitpunkt. Für mich war es irrsinnig motivierend nachzuvollziehen, wie eine solche Ausbildung aussehen kann und was sie einem persönlich bringt, welche Entwicklung man dadurch vollzieht. Auch wenn für mich Berlin aufgrund der großen Distanz eher nicht in Frage kommt, hat es meine Lust auf ein Schreibstudium definitiv gestärkt. Sehr schön fand ich auch, dass die Autorin es geschafft hat, mein Interesse für Biographisches Schreiben zu wecken - ein Themenfeld, was bislang für mich eigentlich überhaupt nicht spannend war. Zusammenfassend kann ich sagen, dass "Tintenspuren" für mich ein sehr motivierender und fesselnder Guide ist, der einen wunderbaren Einblick in die Welt des Schreibens gibt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
Veröffentlicht am 16.07.2024

...und mit James

Die Sache mit Rachel
0

Cork in den 2010er Jahren. Rachel ist gerade dabei mit ihrem Literaturstudium am College fertig zu werden. Sie durchlebt die prägendste Zeit ihres Lebens, das getragen wird von Freundschaft, Liebe und ...

Cork in den 2010er Jahren. Rachel ist gerade dabei mit ihrem Literaturstudium am College fertig zu werden. Sie durchlebt die prägendste Zeit ihres Lebens, das getragen wird von Freundschaft, Liebe und dem Erwachsenwerden. Sie lebt zusammen mit ihrem neu gefundenen, schwulen besten Freund James zusammen, beide arbeiten in einer Buchhandlung, haben kaum Geld, verstehen es aber trotzdem sich zu amüsieren. Ihre Freundschaft ist resistent gegenüber den vielen Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt und ist so eng, dass sie manch anderen Beziehungen im Weg zu stehen scheint. Gemeinsam planen die beiden nach London auszuwandern, doch schlussendlich kommt alles anders...

Caroline O'Donoghue erzählt die Geschichte ihrer Protagonistin rückblickend. Eingeleitet wird mit der schwangeren Rachel, die in einem Pub auf jemanden trifft, der sie an ihren Literaturprofessor erinnert. Damit beginnt die Rückschau auf Rachels 20er-Jahre. Die "junge" Rachel war für mich anfänglich etwas schwer zu ertragen. Sie wirkte auf mich naiv, unentschlossen und fahrig und ich konnte nicht wirklich nachvollziehen, weshalb die Freundschaft zwischen ihr und James so etwas besonders sein sollte. Das klärte sich für mich erst im Laufe der Geschichte, in der die beiden mir ziemlich ans Herz gewachsen sind. Gekonnt beschreibt die Autorin für mich, wie sich die Charaktere entwickeln, wie sie gefestigter werden in dem was sie erleben und wie sie wachsen. Besonders gut hat mir aber gefallen, wie der Zeitgeist thematisiert wird: (Indie-)Musik, Filme, Bücher und Serien spielen für die Hauptcharaktere eine wesentliche Rolle, dienen sie doch irgendwie als Mittel aus der Tristesse der Provinzstadt zu entfliehen, wenn auch nur im Geiste. Vor allem gibt es ein Zitat, dass mir als Musik- und Konzertfan langfristig hängen bleiben wir, trifft es doch den Kern, wie sich das Leben in seinen unterschiedlichen Fassetten im Laufe der Jahre verändert: "Er war noch Mitte dreißig und kinderlos, und so kamen er und Deenie viel herum. Wir trafen sie bei einem Konzert von Goldfrapp. Sie besuchten es so, wie ich jetzt mit meinem eigenen Mann zu Konzerten gehe - etwas Spaß, zuerst Abendessen, um elf zu Hause, eine gemeinsame Beschäftigung. Es gibt nur eine kurze Zeitspanne im Leben, in der man Konzerte mit wirklich spiritueller Hingabe besuchen kann." (S. 79 jm E-Book)

Neben dem Zeitgeist werden die unterschiedlichen (irischen) gesellschaftspolitischen Aspekte dieser Zeit thematisiert. Sei es die Schwierigkeit einer Abtreibung für irische Frauen, die Rezession, die fast alle Gesellschaftsschichten plagte oder die Struggles, die queere Menschen und ihre Angehörigen durchmach(t)en. Auch die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen und die religiöse Prägung finden, wenn auch nur dezent, ihren Eingang in die Geschichte. Trotz vielfältiger Thematiken handelt es sich bei "Die Sache mit Rachel" doch vorwiegend um einen Roman, der die Herausforderungen unterschiedlicher Beziehungen während der Zeit als junge Erwachsene beschreibt.

Mein Fazit: "Die Sache mit Rachel" ist ein kurzweiliger Roman über das Erwachsenwerden und die vielfältigen Beziehungen dabei, der den popkulturellen und gesellschaftspolitischen Zeitgeist (Irlands) in den 2010er-Jahren widerspiegelt. Besonders für Menschen der Generation Y weckt er viele Erinnerungen und mit seinem eingängigen Schreibstil ist er die perfekte Lektüre für Zwischendurch.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere