Lang lebe die Schurkin?
„Als wir noch klein waren, haben wir einander Geschichten erzählt. Dann wurde ich krank und hatte Angst einzuschlafen, weil ich befürchtete nicht mehr aufzuwachen. Ich konnte nur schlafen, wenn ich mir ...
„Als wir noch klein waren, haben wir einander Geschichten erzählt. Dann wurde ich krank und hatte Angst einzuschlafen, weil ich befürchtete nicht mehr aufzuwachen. Ich konnte nur schlafen, wenn ich mir sagte, dass sie ihren Kindern im Fall meines Todes von mir erzählen würde. Dann wäre ich zwar nicht mehr als eine Geschichte, aber das war besser als nichts. Niemand lebte ewig, aber eine Geschichte kann überdauern. Nur dank der Geschichten habe ich überlebt. Wenn ich ums Weiterleben kämpfe, sage ich mir immer: Das wird eine tolle Geschichte, die ich meiner Schwester erzählen kann. Bestimmt wird es ihre Lieblingsgeschichte. Die beste Geschichte, die sie je gehört hat.“ (S. 258-259)
Wow. Bei diesem Buch weiß ich gar nicht wo ich anfangen soll. Es gibt soviel zu sagen, was den Umfang dieser Rezension allerdings sprengen würde, deshalb versuche ich meine Gedanken zu sortieren und die wichtigsten Punkte hervorzuheben ohne dabei genauer auf die Handlung einzugehen.
Die todkranke Rae bekommt die Möglichkeit in ihr Lieblingsfantasybuch zu reisen. Welcher begeisterte Leser hat solche Gedanken nicht schon einmal gehegt? Eintauchen in die Buchwelt, den Lieblingscharakteren begegnen, die einem so vertraut sind und seinen Buchschwarm leibhaftig gegenüberstehen? Für Rae wird dies alles Realität, als ihr eine seltsame Frau im Krankenhaus begegnet, welche ihr einen Pakt anbietet, sie wird leben, wenn sie die Blume von Leben und Tod rechtzeitig pflückt, sobald diese einmalig blüht.
Die Figuren sind ein absolutes Highlight der Geschichte, liebevoll ausgearbeitete Charaktere in einem epischem Fantasysetting. Mein persönlicher Favorit war der mörderische Palastwächter Key, dann gibt es unter anderem noch die verrückte Zofe Emer, die liebliche Lia, die Geschichtenliebende goldene Kobra, den selbstverliebten König und den kalten wortkargen Marius Valerius.
Eine spannende Mischung aus Schurken, zweifelhaften Helden und bissigen Dialogen macht das Buch zu etwas ganz Außergewöhnlichem. Besonders gefallen hat mir die originelle Idee, eine Mischung aus Metafiktion und Fantasy, verwobenen in einem besonders schönen, gehaltvollen und sehr gehobenen Schreibstil, der wohl angemerkt nicht für jeden etwas ist.
Als Leser ist es spannend zu sehen, wie sich das Gefüge der Buchwelt durch Raes Entscheidungen verändert. Die Figuren die eigentlich wie Marionetten reagieren sollten, entwickeln plötzlich ein Eigenleben und die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen.
Ein besonderer Reiz beim Lesen entsteht durch die Prämisse, das Rae in die Rolle der Schurkin schlüpft und durch egoistisches Verhalten ihr eigenes Überleben sichern will.
Das Buch erhält aufgrund kleinerer Schwächen von mir einen halben Stern Abzug, da die Autorin sich zu sehr in den Nebenschauplätzen verliert, dadurch weist die Geschichte einige unnötige Längen auf und schafft mehr Verwirrung als Klarheit. (Teilweise wurde daraus eine Abschweifung von den Abschweifungen…XD)
Insgesamt gefiel mir das Buch aber richtig gut. Ich mochte den eloquenten Schreibstil, sowie die Schwärmerei und den Fokus auf die Charaktere und das forcieren der moralischen Grauzonen.
Ich würde dieses Buch älteren Lesern empfehlen, die eine originelle Idee schätzen, sowie komplexe Charaktere, unerwartete Wendungen und einem anspruchsvollen Schreibstil gegenüber nicht abgeneigt sind.
4,5⭐️