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Veröffentlicht am 14.08.2024

Überzeugendes Bild vom abgehängten Osten Deutschlands

Schnall dich an, es geht los
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Marcel, Steffi, Jessica und Pascal wachsen in der Nähe von Magdeburg auf. Sie gehen gemeinsam in die Klasse, die von Steffis Mutter, der Frau Baumann geleitet wird. Steffi ist trotzdem klassenbeste, Marcel ...

Marcel, Steffi, Jessica und Pascal wachsen in der Nähe von Magdeburg auf. Sie gehen gemeinsam in die Klasse, die von Steffis Mutter, der Frau Baumann geleitet wird. Steffi ist trotzdem klassenbeste, Marcel und Pascal sind die Lichter ganz am Ende des Dunkels. Als Marcel die Schule nach der Neunten verlässt, ahnt er noch nicht, dass auch Steffi schmeißen wird, aber nicht nur damit überrascht sie ihn. Marcel fängt in der Drehspießbude von Steffis Vater Emilio an. Der ist ein herzensguter Typ, lacht viel, schwimmt auf Wolken, obwohl der Laden nicht läuft. Marcels treueste Kunden sind Pascal, der jeden Tag isst und Bier zischt, aber nie bezahlt und die gelbe Katze. Manchmal kommt noch Pascals Vater Dirk und klopft Sprüche:

Wenn die Amerikaner im Nahen Osten die Sau rauslassen, ist das in Ordnung, kein Problem, egal wie viele die da totfoltern. Wenn die Russen aber ihren Vorhof in Ordnung bringen, ist das auf einmal ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. So ein Unsinn! S. 164

Marcel denkt oft an seine kleine Schwester Vanessa, die das Gaspedal durchgetreten hat, mit 150 Sachen so schnell war, dass sie weder die rechte noch die Linkskurve kriegen wollte und stattdessen geradeaus frontal in die Friedhofsmauer gebrettert ist. An Steffi denkt er auch oft. Sie war Vanessas beste Freundin und seine, dachte er, bis sie dann eines Tages einfach weg war, verschwunden, ohne ein Wort. Beide Mädchen hatten Träume, wollten noch so viel erleben, wollten Tanzen und den Balaton sehen.

Jetzt hat er nur noch seinen besten Freund Pascal, der ihn mit der E-Zigarette vollqualmt und wie ein Loch säuft. Die Stütze hilft ihm dabei. Wenn sie es mal kohlemäßig zum FC Magdeburg schaffen lässt Pascal es richtig krachen. Da hat der den Spaß ganz allein.

Fazit: Domenico Müllensiefen hat ein düsteres Bild über eine von der Welt übersehene Provinz geschrieben, wovon es im Osten Deutschlands viele gibt. Warum soll man die Schule beenden, wenn man ohnehin abgehängt ist? Es gibt keine Arbeit, die Wohnsituation ist marode, die Infrastruktur grottig. Mit dem Mauerfall und dem Ausverkauf der ehemaligen DDR durch die Treuhand schwanden die Träume der Jugend, um Platz zu schaffen für eine Mentalität, die sehen muss, wo sie bleibt. In den bildungsarmen Köpfen der Leute entstand Platz für antidemokratische Gedanken und das Bedürfnis, egal wie, an Geld zu kommen, um sich in dem Gefühl von Sicherheit, die der Westen versprochen hat, wiegen zu können. Der Autor hat sich einen lockeren Schreibstil zunutze gemacht, der so überzeugend ist, als hätte er seine eigene Biografie geschrieben. Die Ödnis des Ortes, der zunehmend stirbt und die wenigen Menschen, die geblieben sind, die tagein tagaus um sich rumkreisen, müssen jeden Funken Toleranz verhindern. Die Charaktere sind auf den Punkt gezeichnet. Es hat mich amüsiert ihnen zuzusehen. Das habe ich gerne gelesen.

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Veröffentlicht am 12.08.2024

Großartige historische Aufarbeitung

Wovon wir träumten
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„Japanerinnen kommt!“, lautete der Aufruf, der klang, wie ein unerhörter Traum. Er versprach Jungfrauen ein Leben in Amerika, eine Ehe mit einem gut situierten Landsmann, der schon vor Jahren sein Glück ...

„Japanerinnen kommt!“, lautete der Aufruf, der klang, wie ein unerhörter Traum. Er versprach Jungfrauen ein Leben in Amerika, eine Ehe mit einem gut situierten Landsmann, der schon vor Jahren sein Glück fand. Die Fotos, die die Vermittlungen ihnen schickten, zeigten gepflegte junge Männer in Anzügen, Beweise ihres Erfolges als Manager, Banker und Großgrundbesitzer. Sie alle folgten dem Ruf in die Freiheit und betraten das Schiff, kleine hellhäutige Frauen, mit langen schwarzen Haaren, ohne Selbstwertgefühl. Unbehaglich fühlten sie sich im Schiffsrumpf, wo sie sich Etagenbetten teilten, um sich auf schmutzige Matratzen zu legen und von ihren Männern zu träumen. Das Schwanken des Schiffes ließ manche, die Reling aufsuchen, andere waren einfach grün im Gesicht und stöhnten leise. Es dauerte nicht lang, da klagten sie über stinkende Latrinen, deren Löcher wie Schlünde aus dem Schiffsbauch ragten, über Läuse und Bettwanzen, über das Essen, aber eigentlich waren sie glücklich.

Bei der Ankunft trauten sie ihren Augen nicht. Die Männer, die sie empfingen, waren nicht nur älter als auf den Fotos, sondern auch ungepflegt. Ihr Beruf war Gärtner, Feld – oder Wanderarbeiter. Sie nahmen sie, ohne ihnen Zeit zu lassen. Nahmen sie, obwohl sie noch keine dreizehn waren. Nahmen sie sanft und fragten, ob sie ihnen weh taten, nahmen sie mit Gewalt und sahen sie am nächsten Morgen nicht an.

Sie weinten, weil sie ihre Tochter zurücklassen mussten, die sie bekommen hatten, nachdem der buddhistische Wanderpriester, der für eine Nacht bei ihren Eltern eingekehrt, wieder abgereist war. Sie wussten nicht, dass sie um ihre Töchter trauern würden, bis sie den letzten Atemzug getan hätten.

Fazit: Was für eine Geschichte. Julie Otsuka erzählt die Geschichte japanischer Einwander*innen mit einer Eindringlichkeit, der ich mich nicht mehr entziehen konnte. Sie spricht über falsche Versprechen, Abhängigkeit. Stille, gutmütige, sanfte Menschen, die nach der japanischen Tradition geformt, sich eher selbst verletzt hätten, als jemandem ein Leid anzutun. Menschen, die durch Versprechungen eines besseren Lebens nach Amerika gelockt und gnadenlos ausgebeutet wurden. Die sich allen Unkenrufen zum Trotz mit viel Fleiß eine Zukunft aufgebaut haben. Als der Krieg kam, um Amerika und Japan zu spalten, zählte das alles nicht mehr. Da waren sie alle Kolaborateure, Feinde, denen nicht mehr zu trauen war. Die Schreibtechnik ist gekonnt und treffsicher. Jedes Wort sitzt, ist wohlüberlegt, trifft ins Herz und macht nachdenklich. Julie Otsuka kann schreiben, so ruhig und konzentriert, wie kaum jemand. Eine Riesenleseempfehlung.

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Veröffentlicht am 06.08.2024

So ein gefühlvolles und kluges Debüt

Ava liebt noch
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Ava lebt mit ihrer Familie in einem Einfamilienhaus am Rande einer Neubausiedlung. Als sie hergezogen sind, zählten ihre Bedürfnisse noch, aber im Laufe ihrer Familienplanung, ist sie mit jedem Kind mehr ...

Ava lebt mit ihrer Familie in einem Einfamilienhaus am Rande einer Neubausiedlung. Als sie hergezogen sind, zählten ihre Bedürfnisse noch, aber im Laufe ihrer Familienplanung, ist sie mit jedem Kind mehr verschwunden, seit dem Dritten, ihrem Sohn Nico, ist sie unsichtbar geworden. Der Spagat zwischen Elternabenden, Hausarbeiten, Hausaufgaben, Wäsche, Einkauf und Kochen, kostet sie alle Kraft. Wenn ihr Mann am Abend aus der Kanzlei kommt, sind Avas Augen vor Erschöpfung zugefallen. Sie hat es aufgegeben, das leidige Thema anzusprechen. Sie dürfe sich nicht beschweren, es ginge ihnen doch besser denn je. Wenn er sie berühren will, weist sie ihn zurück, ist es satt, sich verpflichtet zu fühlen, auch im Schlafzimmer noch zu performen.

Unsere Ehe ist wie eine Zimmerpflanze, über deren Pflege wir nichts wissen, weil ihr immer ein bisschen Wasser gereicht hat, um zu überleben. Und jetzt lässt sie Blätter hängen und wir stehen staunend davor, sehen zu, wie sich die Blätter gelb verfärben und einrollen, und fragen uns, was sich verändert hat. S. 42

Ava hetzt durch den Supermarkt, bis sie ihn neben den Windeln sieht. Er räumt die Babybreigläschen in die Regale. Unter seinem T-Shirt zeichnen sich die definierten Schultermuskeln ab. Vor ihr kniet der leibhaftige Adonis. Sie greift nach den Windeln, will schnell weg, aber er spricht sie an, rät ihr zu einer anderen Packung. Jetzt weiß er, der ihr Sohn sein könnte, dass sie Mutter ist, dass ihre beste Zeit hinter ihr liegt. Scham rötet ihr Gesicht.

Avas zweitälteste Tochter Mia hat genug vom Tennis. Ihre Mutter überredet sie zu einem Schwimmkurs. Sie begleitet die umgezogene Mia in das Hallenbad. Der Schwimmlehrer, der sie begrüßt, ist kein Geringerer als ihr Adonis, der sich Kieran nennt. Seine azurblauen Augen glänzen und wecken etwas in Ava, das sie längst vergessen hat. Verlangen.

Fazit: Das ist die beste Liebesgeschichte, die ich je gelesen habe. Vera Zischke hat alles richtig gemacht. Sie spielt mit dem Tabu, ältere Frau findet jungen Mann und macht es glaubhaft. Sie zeigt ihre leere Protagonistin, ausgesaugt vom Muttersein, wie viel die Kinder ihr abverlangen, wie selbstverständlich und entmenschlicht ihr Dasein ist. Ihren Mann, der so beschäftigt damit ist, erfolgreich zu sein und allein darin das Allheilmittel sieht, dass es allen gut geht. „Es geht uns doch gut Ava“! Dann spürt Ava sich wieder, ist wieder ein Mensch, geschätzt und als wertvoll erachtet. Es ist eben genau das, was die Gesellschaft gemeinhin von Frauen erwartet, in der Rolle des Fußabtreters und Putzlumpen aufzugehen, klaglos die besten Jahre ihres Lebens zu verschenken und darin Glückseligkeit zu finden. Das alles macht die Autorin sichtbar und sie berührt. Ich bin von Anfang an in die Geschichte geglitten und habe, wie die Protagonistin schwimmen gelernt. Vera Zischke war meine emotionale Schwimmlehrerin und das hat so gutgetan. Was für ein gefühlvolles, kluges Debüt, dem ich etliche Leserinnen und vor allem Leser wünsche.

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Veröffentlicht am 02.08.2024

Wie ein Sommerurlaub in Italien

Das kleine Haus am Sonnenhang
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Der namenlose Journalist hatte seinen Job in der Schweiz gekündigt und ein extrem günstiges kleines Steinhaus in Piemont gekauft. Hierhin zog er sich zurück, um sein erstes Buch zu schreiben. Das Häuschen ...

Der namenlose Journalist hatte seinen Job in der Schweiz gekündigt und ein extrem günstiges kleines Steinhaus in Piemont gekauft. Hierhin zog er sich zurück, um sein erstes Buch zu schreiben. Das Häuschen stand am Fuß eines Hangs, das nächste Dorf war in Sichtweite, aber doch einen Kilometer entfernt, die Menschen mehr erahnbar als sichtbar. Seine Freundin studierte, verbrachte jedoch die Semesterferien bei ihm in der Stille. Auch Freunde kamen zu Besuch, schlugen ihre Zelte auf der hinteren Wiese auf oder schliefen im Schlafsack im Ziegenstall. An den Abenden rauchten sie, tranken und sangen. Sobald sich das neue Semester ankündigte, verschwanden alle und er blieb allein.

Wenn ihm nichts einfiel, was er schreiben konnte, werkelte er am Haus oder am Stall. Er sorgte sich nicht um seine Ideen, die Furcht vor dem weißen Blatt kannte er nicht. Einmal die Woche musste er unter die Leute. Er ging über die Felder, überquerte den Fluss, der im Sommer wenig Wasser trug, bog nicht links ins Dorf ab, sondern nahm den rechten Weg, ins drei Kilometer entfernte Städtchen. Auf der Piazza Garibaldi kehrte er in die Bar Da Pierluigi ein und traf Giuseppe, Mauro, Sergio und Roberto zum Rauchen, Weintrinken und für kleine Unterhaltungen.

Ich suche nie nach literarischem Stoff; nicht in der Kneipe und auch sonst nirgendwo. Ich bin froh, wenn der Stoff mich in Ruhe lässt. S. 38

Beim Schreiben ist ihm Plausibilität wichtig. Er selbst hat ja im Laufe seines Lebens fünf Söhne großgezogen, aber die Realität taugt nicht für einen Roman. Der Leser würde bei einer Geschichte mit fünf Söhnen die Stirn runzeln und diese Stirnrunzler verderben alles, sie stecken andere an.

Fazit: Alex Capus hat eine Idylle entstehen lassen. Seine Geschichte liest sich, wie ein Sommerurlaub in Italien. Er schreibt über das, was er wahrnimmt, beschenkt meine Sinne mit Landschaftsbeschreibungen, Klängen und Gerüchen, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen. Es scheint, als teilte er ein Stück seines Lebensweges mit mir. Und er erzählt übers Schreiben, zeigt mir, wie er seine Figuren formt, worauf es ihm ankommt und wie er eigene Erfahrungen aus Erlebnissen einfließen lässt.

Und genauso, wie ich als Autor nur schreiben kann, was ich in mir vorfinde, vermag sich auch den Leserinnen und Lesern nur zu erschließen, was in ihrer Seele schon geschrieben steht. S. 91

Eine Erkenntnis, die ich teile. Eine wirklich ganz und gar charmante Erzählung wie eine Gutenachtgeschichte. Schön.

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Veröffentlicht am 01.08.2024

Eine Geschichte über zwei feine Charaktere

Leonard und Paul
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Leonard wurde von seiner alleinerziehenden Mutter voller Güte erzogen. Er hat viel Ähnlichkeit mit dieser schüchternen Frau, die sich lieber auf Leonard konzentrierte, als mit den Herden zu schwimmen. ...

Leonard wurde von seiner alleinerziehenden Mutter voller Güte erzogen. Er hat viel Ähnlichkeit mit dieser schüchternen Frau, die sich lieber auf Leonard konzentrierte, als mit den Herden zu schwimmen. Die Mutter, durch ihre Arbeit als Grundschullehrerin geprägt, las Leonard schon früh aus diversen Enzyklopädien vor und so wundert es kaum, dass Leonard später als Ghostwriter für Kinderlexika arbeitet. Als Leonards Mutter friedlich einschläft, ist es ein Schock für ihn. Tagelang schleicht er lethargisch durch das stille Haus. Nach einiger Zeit jedoch entsinnt er sich seines besten und einzigen Freundes Paul und besucht ihn zu einem ihrer Spieleabende.

Paul ist über dreißig und macht seit neustem Kampfsport. Eigentlich passt das gar nicht zu ihm, der die meisten Tage damit verbringt, darauf zu warten, dass das Hauptpostamt ihn als Vertretung für einen krank gewordenen Kollegen einzusetzen wünscht, was zwei – maximal dreimal pro Monat vorkommt. Paul hält die Welt für etwas Fantastisches und leiht sich Ausgaben des National Geografic aus der Bücherei, während Leonard, ganz Autodidakt, ein Abonnement des New Scientist besitzt.

In ihren Unterhaltungen vermischte sich das Yin von Leonards Leidenschaft für Faktenwissen mit dem Yang von Pauls Neugier. S. 26

Im Grunde könnten die Leben von Leonard und Paul in dieser ruhigen Weise, mit gelegentlichen Gesellschaftsspielen und inspirierenden Gesprächen weitergehen. Wenn nicht Pauls Schwester Grace mit ihrer Hochzeit neuen Schwung in den Alltag zaubern und in Leonard Veränderungswünsche wecken würde.

Fazit: Rónán Hession erzählt in seinem Debüt von zwei Männern, die in liebevollen Verhältnissen behütet aufgewachsen sind. Beide lieben die immer gleiche Struktur ihres Alltags. Paul findet im Gleichbleibenden die Sicherheit, die ihm den Gleichmut bewahrt. Leonard fehlt das Selbstbewusstsein, das ihm das Ausscheren aus dem Trott erleichtern würde. Zwei Sonderlinge, die im sozialen Miteinander ihren Seelenfrieden erhalten, sich aber in der Welt da Draußen voller Konventionen, Erwartungen und Missverständnisse verloren fühlen. Am Ende jedoch findet Leonard seinen Reiz in der Außenwelt und probiert sich aus und Paul lässt eine reife Tiefsinnigkeit erkennen, die ihm niemand zugetraut hätte. Eine wirklich charmante, humorvolle Geschichte über zwei feine Charaktere, die alles andere verkörpern, als die ständige Selbstoptimierung. Ein entspannender Roman.

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