Ich finde es sehr erfrischend, dass dieser Debütroman von Julja Linhof mal nicht einer der vielen aktuellen „wir kehren zurück an den Ort unserer Kindheit, den Bauernhof, uns stellen fest, dass heutzutage ...
Ich finde es sehr erfrischend, dass dieser Debütroman von Julja Linhof mal nicht einer der vielen aktuellen „wir kehren zurück an den Ort unserer Kindheit, den Bauernhof, uns stellen fest, dass heutzutage alles trister ist durch die Landflucht, aber trotzdem hilft die Landluft gegen den Elektrosmog aka ‚Stress‘ der modernen Welt“- Romane ist. Nein, sie datiert die Handlung des Romans ins Jahr 1987 zurück. In diesem Jahr kehrt Jirka aus dem Internat auf das väterliche Gehöft zurück. Nur ist vom Vater keine Spur. Nur die ältere Schwester Malene sowie Leander, der Sohn des ehemaligen Hofverwalters sind noch da und kümmern sich um die letzten Reste der Landwirtschaft. Ach und die Großmutter wandert auch noch dement durchs Bild. Gleich mit dem Eintreffen Jirkas im ‚Krummen Holz‘ merken wir, dass in dieser (erweiterten) Familie so einiges schiefläuft und durch Rückblicke erfahren wir, dass auch in der Vergangenheit viel Schreckliches passiert ist.
Am überzeugendsten am ganzen Buch finde ich die unglaublich bezaubernde, einfallsreiche Sprache der Autorin. Mit wunderbaren Sätzen und gekonnten Formulierungen fängt sie die Atmosphäre ganz genau ein und vermittelt zwischenmenschliche Abgründe. Das Buch liest sich erstaunlich süffig runter und zieht in seinen Bann.
Auch die Handlung fand ich über weite Strecken sehr interessant. Leider blieben mir manche Figurenzeichnungen zu oberflächlich. Gerade die des abwesenden Vaters, den wir durch Rückblicke kennenlernen, ist mir zu flach. Hier kann ich kaum die Beweggründe erkennen, warum er seine Familie so behandelte, wie er es in der Vergangenheit tat. Bei anderen Figuren geht die Autorin mehr in die Tiefe, auch wenn mir hier ebenso Gefühle nebulös dargestellt bleiben.
Das Finale des Buches ist ab einem ganz bestimmten Zeitpunkt vollkommen vorhersehbar und gleichzeitig für mich auch sehr abwegig gewesen. Ich dachte nur: „Das macht sie (die Autorin) jetzt nicht wirklich, oder?“. Leider hat sie es gemacht und so war das Ende etwas enttäuschend für mich.
Insgesamt ein schöner Debütroman, der definitiv dafür sorgen wird, dass ich die Veröffentlichungen der Autorin weiterhin im Blick behalten werde.
Mithu Sanyal erschafft in ihrem zweiten Roman „Antichristie“ einen wilden Ritt der historischen, literarischen und popkulturellen Bezüge, bei dem man letztlich sehr viel hinzulernt, man darf aber auch ...
Mithu Sanyal erschafft in ihrem zweiten Roman „Antichristie“ einen wilden Ritt der historischen, literarischen und popkulturellen Bezüge, bei dem man letztlich sehr viel hinzulernt, man darf aber auch nicht zwischen den Jahrhunderten verloren gehen.
Der Plot von „Antichristie“ ist schwer kurz zusammenzufassen, hier also nur ein Versuch: Durga ist eine Drehbuchautorin für Science Fiction und Costume Drama um die Fünfzig, deren deutschstämmige Mutter, zu welcher sie nach der Trennung der Eltern ein angespanntes Verhältnis hatte, vor kurzem verstorben ist. Den indischstämmigen Vater, bei dem Durga nach der Trennung aufwuchs, lernen wir erst einmal nur kurz bei der „Bestattung“(dem Verstreuen) der Asche kennen. Eine ruhige Trauerverarbeitung scheint für Durga kaum in Sicht, muss sie doch direkt nach London weiterreisen, da sie den Auftrag hat, an einer anti-rassistischen Neuverfilmungsserie zu Agatha Christies Detektiv-Figur Hercule Poirot mitzuarbeiten. Sie ist Spezialistin für sogenannte Locked-Room-Mysteries und im Laufe des Romans wird sie einem solchen auch selbst gegenüberstehen. In London angekommen dauert es nicht lange und die designierte Doctor Who-Autorin reist unfreiwillig aus dem Todesjahr der britischen Königin Elisabeth II. 2022 zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Selber Ort, andere Zeit. Und: Anderer Körper, denn nun befindet sie sich im Körper eines jungen Anfang Zwanzig jährigen Inders, der gerade aus der indischen Kolonie nach London gekommen ist. Als diese Person schließt sie/er sich der indischen Unabhängigkeitsbewegung an, die auch von London aus geführt wird, und kommt in Kontakt mit wichtigen intellektuellen Vertretern der Bewegung, unter denen eine hitzige Diskussion herrscht, ob ein Widerstand gewaltfrei oder mit Mitteln der Gewalt geführt werden soll und darf. Mit der Zeit wird klar, dass es sich weniger um eine Zeit- als vielmehr um eine Astralreise handelt und die Person Durga/Sanjeev (wie sie/er sich im historischen London nennt) mehrfach zwischen den Zeiten hin und her wechselt.
Es ist schon unglaublich ambitioniert gemacht, wie Sanyal hier so viele Themen miteinander verbindet. Da ist nicht nur die Fragestellung, wie zu einer Königsfamilie stehen, die noch viele Jahre koloniale Gräueltaten billigte, sondern auch, wie rassistisch und von kolonialen Mustern geprägt literarische Klassiker sein können und ob dies neu interpretiert werden sollte. Auch geht es in einem großen Schwerpunkt um den indischen Unabhängigkeitskampf von der Kolonialmacht Groß Britannien. Und gleichzeitig muss sich Durga ihrer eigenen Lebensgeschichte, ihren Eltern, deren Lebenserfahrungen sowie der Trauer um die verstorbene Mutter stellen. Stilistisch kommt es dann auch noch zu einem im Roman eingebauten Querverweis auf die Krimis von Agatha Christie, indem im Vergangenheitsstrang ein Locked-Room-Mystery geschieht, welches mithilfe eines berühmten Detektivs aufgeklärt werden soll. Und mit dem Trick der Astralreise gibt die Autorin der zeitgenössischen Figur Durga die Chance, die damaligen Diskussionen um den moralisch „richtigen“ Weg eines Widerstands aus unserer heutigen Sicht immer wieder zu reflektieren und zu bewerten.
Gerade der letzte schriftstellerische Trick von Sanyal ist für mich der stärkste Pluspunkt an diesem Roman. Denn wird ein historischer Roman geschrieben, steht es einem nicht zur Verfügung, eine zeitgenössisch-wertende Figur daran teilhaben zu lassen. Schreibt man einen Roman, der in der Gegenwart spielt, können die Figuren gar nicht nachempfinden, wie es sich zur damaligen zeit für die realen Protagonist:innen angefühlt haben muss. Diese Gegenüberstellung löst die Autorin hier äußerst kreativ.
Der Schreibstil von Sanyal ist immer wieder von witzigen Kommentaren und Hinweisen durchsetzt, sodass sich der Text oft mit einer gewissen Leichtigkeit lesen lässt, obwohl er sehr schwere Themen behandelt. Allerdings schweift die Autorin auch deutlich aus und man muss ein großes Interesse an der Geschichte des indischen Unabhängigkeitskampfes mitbringen, um hier bei der Stange bleiben zu können. Nicht viel anfangen konnte ich mit den nun auch noch zusätzlich zu jedem Kapitelbeginn eingeschobenen Regieanweisungen für einen möglichen Filmset. Um was es sich handelt, wird schnell klar, aber trotzdem sind diese Anweisungen plus die darauf folgenden Zitate aus verschiedenen (pop-)kulturellen Quellen meines Erachtens einfach zu viel zu all den anderen stilistischen und inhaltlichen Mitteln. In der Struktur ist der Roman also wirklich sehr komplex.
Letztlich wirkte mir der Roman auf literarischer Ebene aufgrund der unglaublich vielen Ideen, die Mithu Sanyal hineingepackt hat, doch zu überladen. Im Vergleich hat mir „Identitti“ diesbezüglich mehr gefallen, da der Roman stringenter ausgeführt wirkte. So schwanke ich sehr zwischen 3 und 4 Sternen in der abschließenden Bewertung. Der Roman ist unterm Strich - mit den entsprechenden Ambitionen und Durchhaltevermögen der Leser:innen - äußerst lehrreich und dadurch durchaus lesenswert.
Die Finnin Iida Turpeinen dokumentiert in ihrem Debütroman, der von Maximilian Murmann ins Deutsche übertragen wurde, das Aussterben der Stellerschen Seekuh, ein wunderbares, riesiges Meeressäugetier, ...
Die Finnin Iida Turpeinen dokumentiert in ihrem Debütroman, der von Maximilian Murmann ins Deutsche übertragen wurde, das Aussterben der Stellerschen Seekuh, ein wunderbares, riesiges Meeressäugetier, welches von Menschenhand ausgerottet wurde. Dabei folgen wir in fünf Buchabschnitten Menschen, die auf die ein oder andere Weise mit der Seekuh oder deren Skelett in Kontakt gekommen sind. Der Roman erstreckt sich bei einer Anzahl von nur 315 Seiten über einen Zeitraum von 1741 bis ins Jahre 2023. Chronologisch sortiert erfahren wir dabei, wie Georg Wilhelm Steller zusammen mit dem Kapitän Vitus Bering und der Besatzung der Swjatoi Pjotr von Kamtschatka nach Alaska segelt, um für die russische Kaiserin dieses Gebiet zu kartieren. Dabei „entdeckt“ der Naturforscher Steller die sagenumwobene Seekuh und hinterlässt erste naturwissenschaftliche Aufzeichnungen zu dieser. Mit jedem der fünf Buchteile lernen wir ein neues Szenario bzw. ein neues Personal kennen. Darunter immer wieder naturwissenschaftlich Interessierte, die jedoch durch ihren Wissens- und Sammeldrang diese von ihnen so geliebte Natur eher zerstören als bewahren.
Ein klarer Pluspunkt dieses Romans ist die Fülle an Informationen, die man hier erhält. Fast dokumentarisch nähert sich die Autorin dem Thema des menschengemachten Artensterbens am Beispiel der Stellerschen Seekuh. Das hat mir sehr gut gefallen, da ich mir immer gern durch eine Lektüre Wissen aneigne. Als Nachteil empfand ich ganz klar den Aufbau bezüglich der Figuren im Roman. Dadurch, dass das Personal ständig komplett gewechselt wird und der Schreibstil sehr berichthaft anmutet, konnte ich mich kaum bis gar nicht den Figuren auf menschlicher Ebene annähern. Mit zunehmenden Verlauf fiel mir dies immer schwerer. Konnte ich noch ein bisschen mit Steller mitfiebern, verlor sich dies zum Ende hin komplett und mit der letzten, ausführlicher beschriebenen Figur, dem Eier-Präparator John Grönvall in den 1950er Jahren, konnte ich mich dann gar nicht mehr verbinden, obwohl dieser gerade erstmals moderne moralische Standards erkennt und ihm aufgeht, dass wir Menschen eine Naturkatastrophe an sich sind, wenn wir ganze Arten vernichten und Millionen an Tieren umbringen – und sei es „für die Wissenschaft“. Ich hatte dann einfach nicht mehr die Kapazität übrig, mich auch noch in ihn hineinzuversetzen.
Das Dankeswort der Autorin hat mich dann wieder zurückgeholt zur Grunderkenntnis des Buches, denn die Autorin nennt nicht nur namentlich rund 20 Arten, die während des Verfassens des Buches ausgestorben sind, sondern erwähnt außerdem, dass ganze 374 weitere Arten in dem selben Zeitraum ausgestorben sind. Überhaupt verdeutlicht die Autorin häufig auch im Romantext durch knallharte Zahlen, wie zerstörerisch der Mensch auf dem Erdball handelt. Diese Angaben sind es, die mir während des Lesens einen kalten Schauer beschert haben. Es verdeutlicht auch, wie viel der Autorin an der Bewusstmachung dieser Vorgänge liegt. Und genau das schafft auch der Roman.
Somit liefert die Autorin einen auf inhaltlicher Ebene äußerst lesenswerten Roman ab, der mit auf literarischer Ebene allerdings dem inhaltlichen Appell hinterherhinkt. Ich musste während des Lesens häufiger an Maja Lunde und ihre Romane denken, die einfach noch einmal eine ganz andere Zugkraft auf der Plotebene haben.
Der vorliegende Roman sei allen Menschen zur Lektüre empfohlen, die von ihrem hohen Ross des „Wir-Menschen-stehen-über-allen-anderen-Lebenwesen“ runterkommen wollen und sich den Konsequenzen auch wissenschaftlichem Handelns stellen wollen. Ich wünsche dem Roman jedenfalls viele Leser:innen.
So ende ich mit einem Zitat aus dem Roman, das treffender nicht sein könnte:
„Für Furuhjelm waren die Knochen der Seekuh ein störendes Rätsel, ihr Verschwinden ein seltsames, Unheil verkündendes Ereignis, doch für Grönvall ist die Seekuh die Verwirklichung von Verlust, und der Gedanke, dass seine eigene Art eine andere auslöschen kann, hat sich von einer Ahnung in eine Prophezeiung verwandelt, die sich ein ums andere Mal verwirklicht.“
Das Wort „Erinnerungsfetzen“ habe ich für meine Überschrift durchaus bewusst gewählt. Besteht der Text „Als wir Schwäne waren“ doch durchaus aus mitunter recht brutalen Gewaltszenen, die sich im Bochum ...
Das Wort „Erinnerungsfetzen“ habe ich für meine Überschrift durchaus bewusst gewählt. Besteht der Text „Als wir Schwäne waren“ doch durchaus aus mitunter recht brutalen Gewaltszenen, die sich im Bochum der 1980er und 1990er zwischen Jugendlichen abspielten. So berichtet Behzad Karm Khani in seinem zweiten Roman aus der Sicht eines Jungen, dessen Eltern mit ihm aufgrund der Islamischen Revolution aus dem Iran 1979 geflohen sind und nun versuchen im Ruhrgebiet wieder fuß zu fassen und vielleicht eine neue Heimat zu finden.
Nicht immer chronologisch ordnet Khani sein Mosaik aus Rückblicken an, die das Leben im neuen Land beschreiben und die soziologischen Zusammenhänge verschiedener Milieus erforschen. Sprachlich arbeitet Khani auf sehr hohem Niveau und verpackt seine Gedanken bzw. die Gedanken des Ich-Erzählers in poetische Aphorismen, Gleichnisse und Metaphern. Bei der Schilderung von Gewalt, die in seinem Viertel vorherrscht, bleibt er hingegen recht sachlich, was dem Text sehr gut steht. Ich muss allerdings zugeben, dass für mich einige poetische Bilder nicht durchdringbar waren und ich ab und an einfach nicht in der Tiefe verstanden habe, was der Autor mir mit der ein oder anderen Formulierung sagen möchte. Hier könnten die persischen Einflüsse zum tragen kommen, denn wie wir aus dem Text erfahren, gibt es im Persischen „zehn, fünfzehn verschiedene Begriffe für Stolz“. Dafür hat sich der Autor in diesem deutschsprachigen Roman recht kurz gehalten, packt er doch die Geschichte der Familie ab dem Ankommen in Deutschland auf nur knapp 190 recht locker bedruckten Seiten zusammen. Dies geschieht vor allem durch das bruchstückhafte Herausgreifen einzelner Anekdoten und Geschehnisse.
Dadurch lernen wir auch ein breites Personal an Nachbarn, Freunden und Bandenmitgliedern kennen, die – ebenso wie die Eltern des Erzählers – durchweg vielschichtig angelegt sind und die Zerrissenheit zwischen dem Weggang aus der alten Heimat und dem Ankommen in einem neuen System zeigen. Das finden einer eigenen Identität für die Kinder von Migranten steht im Mittelpunkt des Buches. Während dabei die meisten Figuren aus verschiedenen Kulturen facettenreich rüberkommen muss ich allerdings darauf hinweisen, dass mir die Darstellung der Roma, die eines Tages im Viertel auftauchen, recht einseitig negativ erschienen ist.
Insgesamt kann ich den Roman aufgrund seiner eindringlichen Sprache als auch des unverblümten Inhalts empfehlen, wenngleich ich keinen Vergleich zum Debütroman des Autors anstellen kann, da dieser bei mir noch auf eine Lektüre wartend im Regal steht.
Die malaysische Schriftstellerin Vanessa Chan wirft in ihrem Debütroman einen Blick in die aufwühlende Vergangenheit ihres Heimatlandes. Dieses war zunächst von der britischen Kolonialmacht und später ...
Die malaysische Schriftstellerin Vanessa Chan wirft in ihrem Debütroman einen Blick in die aufwühlende Vergangenheit ihres Heimatlandes. Dieses war zunächst von der britischen Kolonialmacht und später ab 1941 bis 1945 von Japan besetzt. Chan erzählt die schockierende Geschichte einer Frau, malayischem (da Malaysia früher Malaya hieß) und britischem Ursprungs, die noch in den 30ern die britischen Kolonialisten aus dem Land haben wollte und deshalb für die Japaner spionierte, nur um dann ab 1941 die volle Härte der japanischen Besatzungsmacht zu spüren. Cecilys Familie erleidet schwere Schicksalsschläge unter den Japanern, sodass die Mutter von drei Kindern unter ihrer Schuld zu zerbrechen droht.
Die Besatzung vieler Gebiete in Südostasien durch die Japaner während des Zweiten Weltkriegs ist ein Thema, welches bisher kaum Eingang in das Allgemeinwissen von im Westen sozialisierten gefunden hat. Mit großer Brutalität unterwarf das japanische Militär die Gebiete unter dem vorgeblichen Ziel „Asien den Asiaten“, dass dabei mitunter mehr Menschen der besetzten Länder in kürzester Zeit umkamen als unter der Kolonialmacht unterstreicht Chan in ihrem Roman.
Mir hat „Nach uns der Sturm“ (im englischen Original „The Storm We Made“, was mir inhaltlich passender erscheint) über weite Strecken wirklich sehr gut gefallen. Chan konstruiert den Roman so, dass wir zwischen einem Vergangenheitsstrang, der 1935 einsetzt und in dem Cecily beginnt für den Japaner Fuijwara zu spionieren sowie in eine gefährliche Abhängigkeit zu ihm rutscht, und mehreren Gegenwartssträngen in 1945 mit Wechseln zwischen den Perspektiven von Cecily sowie ihren drei Kindern Jujube, Abel und Jasmin. Alle Erzählstränge zusammen ergeben ein aufschlussreiches Bild von den damaligen Verhältnissen zunächst unter den Briten und später unter den Japanern, sodass sich einige Wissenslücken im Laufe der Lektüre füllen. Denn die große Schwester Jujube zeigt einen blinden Fleck im Interesse der Weltgemeinschaft während und nach dem Zweiten Weltkrieg auf, wenn sie auf Seite 66 über die Frontmeldungen aus Europa nachdenkt und dann auf ihr Heimatland blickt:
„Vielleicht haben sie uns vergessen, dachte Jujube, diese westlichen Fronten, Städte mit Namen, die einem schwer von der Zunge gingen, Orte, die sie im Atlas fand, sich aber nicht vorstellen konnte. Vielleicht waren Menschen wie sie, Jasmin und Abel nicht wichtig – hier in einem kleinen tropischen Winkel im Osten, wo sie von Menschen brutal behandelt wurden, die fast genauso aussahen wie sie selbst.“
Die Einwohner (damals noch) Malayas werden in Arbeitslager verschleppt und zu „Trostfrauen“ für die japanischen Soldaten gemacht. Und das alles unter dem Befehl von Fujiwara, der als General mittlerweile der Befehlshaber über Malaya ist. Als Cecilys Sohn verschwindet und die jüngste Tochter Jasmin versteckt werden muss leidet ihre psychische Gesundheit mehr und mehr unter ihrer Schuld. Das ist gut gemacht und hat mich durchgängig mit dem Schicksal der Familie mitfiebern lassen. Chan schreibt dabei eher einfach und legt mehr Wert auf die Darstellung des Leids der malayischen Bevölkerung. Gerade Abels Zeit im Arbeitslager ging mir dabei besonders an die Nieren.
Leider lässt meines Erachtens gerade gegen Ende die Qualität des Romans nach, wenn die Autorin zu stark etwas herankonstruiert und damit die Wahrscheinlichkeitstheorie auch entsprechend strapaziert. Alles wird hoch dramatisch inszeniert, obwohl es dem Roman zuvor nicht an realer Dramatik gefehlt hätte. Die Figuren, welche zunächst für sich genommen interessante Entwicklungen durchliefen, neigen nun zu übertriebenem bis wenig nachvollziehbarem Verhalten. Die Autorin ändert im letzten Teil des Buches auch die Erzählgeschwindigkeit, was mir abschließend nicht sonderlich gut gefiel. Da sich alles um die letzten Tage im August verdichtet, nach den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki ab dem 09. August, der Radioansprache Kaiser Hirohitos am 15. August mit der Bekanntgabe der bedingungslosen Kapitulation Japans und noch vor der Unterzeichnung der offiziellen Kapitulation Japans am 02. September 1945 wird es schwer den historischen Abläufen zu folgen, da in Malaya scheinbar weiterhin japanische Soldaten das Sagen hatten. Zur Verwirrung trägt auch eine Stelle im Buch, die am 30. August 1945 spielt, bei, wo es heißt: „...im Radio kamen Nachrichten über Kapitulationen, über enorme Verluste in den von den Nazis besetzten Regionen, über lokale Aufstände in japanischen Gebieten.“ Welche von Nazis besetzte Gebiete gab es noch Ende August 1945?!
So fällt mir die abschließende Bewertung dieses Romans sehr schwer. Über weite Strecken war er sehr informativ mit hoher historischer Signifikanz. Es ist wichtig, dass dieser Roman veröffentlicht wird und somit den Fokus auch auf andere Regionen der Welt und deren Schicksal während des Zweiten Weltkrieges richtet. Die Entwicklung der Figuren und ihr Innenleben ließ abschließend aber leider zu wünschen übrig und die „überzufällige“ Konstruktion zum Schluss haben mich gestört. Aufgrund der mithilfe des Romans eingenommenen historischen Perspektive durch die Augen einer malayischen Familie und der damit einhergehenden Denkanstöße entscheide ich mich im Zweifel für ein Aufrunden.