Profilbild von LeserinLu

LeserinLu

Lesejury Profi
offline

LeserinLu ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit LeserinLu über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 18.08.2024

Ein Roman wie ein Gedicht

Als wir Schwäne waren
0

Dieser Roman ist definitiv das Highlight meiner Augustbücher. Khani beschreibt das Aufwachsen eines Jungen, der mit seinen Eltern aus dem Iran ins Ruhrgebiet geflohen ist. Er lernt schnell, dass „Du bist ...

Dieser Roman ist definitiv das Highlight meiner Augustbücher. Khani beschreibt das Aufwachsen eines Jungen, der mit seinen Eltern aus dem Iran ins Ruhrgebiet geflohen ist. Er lernt schnell, dass „Du bist hier Gast“ in Deutschland nicht herzlich und freundlich gemeint ist, dass er nie „dazu“ gehören wird, immer Beobachter bleiben wird. Außerdem lernt er, wie er sich in seinem Viertel, in dem es zwar viele Arten von Armut, aber nicht viele Chancen gibt, mit Gewalt Respekt verschaffen kann. Trotzdem spürt er, dass er mit seiner Wut seine eigentlichen Gefühle von Angst und fehlendem Selbstwertgefühl nur überdeckt. Seine Eltern, im Iran Akademiker, in Deutschland plötzlich ohne Abschluss, gehen mit der Fremdheit anders um, nichts davon taugt als Vorbild für die eigene Identität.
Viele Absätze habe ich zweimal gelesen, weil ich sie so dicht, schonungslos und ausdrucksstark fand. Der Roman ist geschrieben wie ein Gedicht - da ist kein Wort zu viel, alles ist präzise beobachtet, jedes Bild ist treffend. Selbst für die Beschreibung von Gewalt findet der Autor immer wieder poetische Bilder, die hinter die harten Fassaden des Jungen und seiner Freunde schauen lassen. Die Stimmung wechselt dabei mühelos von Nachdenklichkeit zu Kälte zu Witz zu Warmherzigkeit und zurück. Insgesamt gefällt mir „Als wir Schwäne waren“ daher sogar noch besser als Khanis Debütroman „Hund Wolf Schakal“.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.08.2024

Atmosphärisch dicht und unbedingt lesenswert

Von Norden rollt ein Donner
0

„Im Norden grollt ein Donner“ hat mich von Beginn an durch seine atmosphärische Dichte und seine düstere Stimmung in seinen Bann gezogen. Schon das Anfangszitat von Theodor Storm weist auf Abgründe in ...

„Im Norden grollt ein Donner“ hat mich von Beginn an durch seine atmosphärische Dichte und seine düstere Stimmung in seinen Bann gezogen. Schon das Anfangszitat von Theodor Storm weist auf Abgründe in der Idylle hin. Und dann kündigt sich bereits auf der ersten Seite mit Grollen ein Gewitter an: Das bedeutet für Jannes, den 19-jährigen Schäfer, der sich im Familienbetrieb um die Herde der Heidschnucken kümmert, nicht nur beschwerliche Ausflüge mit den Schafen, sondern auch, dass Jannes beginnt, verdrängte Vergangenheit und unterdrückte Gefühle in der vermeintlichen Heideidylle wahrzunehmen.

Eine spürbare Unruhe geht in Jannes‘ Umfeld um: Die Zukunft des Familienbetriebs ist ungeklärt und der erkrankte Vater Friedrich ist besessen von der Rückkehr der Wölfe in die Heide, was auch das Dorf in Aufruhr versetzt. Dies führt schnell zu politischen Konflikten um die Forderung, die Wölfe mit Gewalt zu bekämpfen, was mich durch die eindringlichen und präzisen Dialoge zwischen den Dorfbewohnern mehr als einmal an die gewaltsame Bekämpfung von allem, was gesellschaftlich neu und zunächst fremd erscheint, erinnert hat. All dies drängt Jannes in die Einsamkeit der Heide, wo er nach und nach hinter die Fassade der Heideidylle schaut, über die im Dorf und der Familie beharrlich geschwiegen wurde.

Die Themen des intergenerationalen Schweigens über die deutsche Vergangenheit und des Wiedererstarkens völkischer und rechtsextremer Ideologie unter dem Deckmantel des sog. „Heimatschutzes“ werden in diesem Roman literarisch so geschickt verarbeitet, dass der Inhalt niemals aufgesetzt wirkt, sondern die Verbindungen zwischen Jannes sowie der Vergangenheit und Gegenwart der Heide immer folgerichtig erscheinen. Auch dadurch wurde der Roman für mich zum spannenden Pageturner, auch wenn ich ihn aufgrund der intensiven, auch bildhaften Sprache sowie der stimmungsvollen Landschaftsbeschreibungen, die immer auch etwas über die Figuren und ihr Umfeld aussagen, eigentlich bewusst langsam gelesen habe. Die literarische Reise in die Abgründe eines idyllischen Scheins und der zugleich kritische Blick auf historische und aktuelle Strömungen in der deutschen Gesellschaft haben mir von der ersten bis zur letzten Seite wirklich sehr gut gefallen. Das ist ein Buch für Menschen, die Literatur lieben!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.07.2024

Jahreshighlight

Die schönste Version
0

Was für ein Roman! Sprachlich mühelos intensiv und leicht zugleich, die Handlung packend und nebenbei inhaltlich unfassbar intelligent - kurz: Ich bin restlos überzeugt.

Im Zentrum der Geschichte steht ...

Was für ein Roman! Sprachlich mühelos intensiv und leicht zugleich, die Handlung packend und nebenbei inhaltlich unfassbar intelligent - kurz: Ich bin restlos überzeugt.

Im Zentrum der Geschichte steht die Beziehung zwischen Jella und Yannick, deren erste große Liebe damit endet, dass Yannick Jella fast erwürgt und diese zurück in ihr Kinderzimmer fliehen muss. Hier erinnert sie sich, wie ihr Aufwachsen sie zu diesem Punkt in ihrem Leben geführt hat: die Jugend in einer trostlosen Kleinstadt in der Lausitz, die ersten Erfahrungen, was es bedeutet, männlichem Begehren schutzlos ausgeliefert zu sein, die Rollen, die sie als Frau erfüllen soll, die Unsicherheit über eigene Bedürfnisse, kunstseidenes Verdecken dieser, aber auch Freundinnen, die zu ihr halten. Das klingt zwar nach schwerer, bedrückender Thematik, dennoch liest sich der Roman unglaublich leicht.

Für mich ist dieser Roman bereits jetzt ein moderner Klassiker und hat einen Ehrenplatz neben „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun verdient, auf die es zahlreiche Anspielungen gibt. Ich habe den Roman atemlos gelesen, zugeklappt und erst einmal geweint, so intensiv werden Jellas Gefühle transportiert. Durch die zugespitzte Schilderung von Jellas Leben als Frau, das immer wieder an alltäglichen Beispielen verdeutlicht wird, hat der Roman mir ermöglicht, auch eigene Verhaltensmuster in der Jugend und im Erwachsenenalter zu reflektieren, die zwar nicht so extrem waren, aber dennoch Züge der Muster aufwiesen, denen Jella ausgesetzt ist. Ich bin überzeugt, dass sich fast alle Frauen in den patriarchalen Strukturen, die Thomas so präzise beschreibt, wiedererkennen können. Gleichzeitig zeigt die Erzählerin, wie bedeutsam Solidarität von Freundinnen und Familie ist. Daher: Lest dieses Buch! Alle!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 07.07.2024

Faszinierend

Das Pfauengemälde
0

„Das Pfauengemälde“ von Maria Bidian ist mir zuerst aufgefallen, weil es einem anderen gerade erschienen Roman vom Cover her erstaunlich ähnlich sieht. Nachdem ich angefangen hatte, zu lesen, wusste ich ...

„Das Pfauengemälde“ von Maria Bidian ist mir zuerst aufgefallen, weil es einem anderen gerade erschienen Roman vom Cover her erstaunlich ähnlich sieht. Nachdem ich angefangen hatte, zu lesen, wusste ich aber schnell, dass dies hier ein einzigartiges Debüt ist.

Zwei Jahre nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters beschließt Ana im Sommer nach Rumänien zu fahren, um ihre rumänische Familie zu unterstützen, enteigneten Familienbesitz zurückzubekommen. Im Gegensatz zu ihrer Verwandtschaft, die hauptsächlich an der großen alten Familienvilla interessiert ist, möchte Ana das „Pfauengemälde“ finden, ein Erbstück, von dem ihr Vater oft geredet hatte. Vor Ort taucht sie einerseits in die Geschichte ihrer Familie und ihres Vaters im Kommunismus ein, andererseits gerät sie in die aktuellen Proteste für Demokratie.

Der Roman thematisiert so Fragen von Erinnerung, Identität, Wahrheit und Verantwortung. Bidian gelingt es dabei, diese Fragen in eine fesselnde Handlung einzubetten und diese in einer Weise zu erzählen, die einfühlsam, melancholisch, komisch, politisch und sehr persönlich ist.

Insgesamt war „Das Pfauengemälde“ ein überraschend packendes Debüt, das mich nicht nur sehr gut unterhalten und gefesselt hat, sondern auch sprachlich überzeugt und neugierig auf die Geschichte und aktuelle Politik Rumäniens gemacht hat, mit der ich mich noch nie beschäftigt habe. Eine klare Leseempfehlung für alle, die Anas Reflexionen über ihre rumänische Familie folgen möchten und Lust auf schöne Sprache haben!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 06.07.2024

Zeitlos, grandios, erschütternd

Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens
0

Endlich, endlich, endlich habe ich diesen Roman gelesen, der seit Nicole Seiferts Empfehlung in „Frauenliteratur“ auf meiner Wunschliste stand – und ich wurde nicht enttäuscht. Dank der Neuauflage des ...

Endlich, endlich, endlich habe ich diesen Roman gelesen, der seit Nicole Seiferts Empfehlung in „Frauenliteratur“ auf meiner Wunschliste stand – und ich wurde nicht enttäuscht. Dank der Neuauflage des Reclam Verlags konnte ich nun in Agathes Leben eintauchen. Mein Fazit: Ich bin restlos begeistert! Was für ein toller, mitreißender, tiefgründiger, zur Diskussion anregender Roman!

Gabriele Reuters „Aus guter Familie“ erzählt die Geschichte der jungen Agathe, die in der Enge der bürgerlichen Gesellschaft um 1900 aufwächst. Es handelt sich dabei um einen ganz ungewöhnlichen Entwicklungsroman, denn Agatha wird von außen beständig an ihrer Entwicklung gehindert. Der Roman schildert dabei eindrucksvoll ihre innere Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Zwängen und den Erwartungen an Frauen ihrer Zeit. Agathes Entwicklung und ihr Schicksal werden so lebendig dargestellt, dass man tief in ihre Welt eintaucht und einerseits mit Agathe leidet und hofft, andererseits durch ihr Schicksal und das anderer geschilderter Frauenfiguren immer wieder wütend wird. Auch Reuters Schreibstil beinhaltet für mich schon alles, was die Moderne um 1900 so anziehend macht. Wie kann es sein, dass eine solch kraftvolle und bedeutende Stimme der Literaturgeschichte bisher so wenig Beachtung gefunden hat? Ich kann kaum nachvollziehen, warum ich im Studium der Literaturwissenschaft nicht von der Autorin gehört habe, auch in Material zu Literatur um 1900 kommt sie nicht vor.

Diese liebevoll gestaltete Neuauflage des Reclam Verlags kommt aber nicht nur inhaltlich, sondern auch äußerlich wunderbar daher. „Aus guter Familie“ wird definitiv einen Ehrenplatz bei mir finden. Insgesamt ist dieser Roman ein Muss für alle Literaturfans. Er fordert heraus, regt zur Diskussion an und bleibt lange im Gedächtnis. Gabriele Reuter verdient es, aus der Vergessenheit hervorgeholt und neu entdeckt zu werden. Ich kann „Aus guter Familie“ nur wärmstens empfehlen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere