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Veröffentlicht am 09.03.2021

Bewegende Zeitgeschichte in aufregender Verpackung

Lebenssekunden
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Katharina Fuchs hat sich ja bereits in "Neuleben" und "Zwei Handvoll Leben" als beeindruckende Chronistin deutscher Befindlichkeit in der Vergangenheit erwiesen, und genau wie ihre letzten beiden Bücher ...

Katharina Fuchs hat sich ja bereits in "Neuleben" und "Zwei Handvoll Leben" als beeindruckende Chronistin deutscher Befindlichkeit in der Vergangenheit erwiesen, und genau wie ihre letzten beiden Bücher greift auch "Lebenssekunden" wieder zwei recht konträre Frauenschicksale auf, um sie in einen geschichtlichen Kontext zu stellen. Erneut steht auch Berlin als Handlungsort im Mittelpunkt, obwohl die eine der beiden Protagonistinnen (Angelika) zuerst einmal im bürgerlichen Umfeld von Kassel aufwächst, wo sie nach dem Rauswurf aus der Schule und dem tragischen Verlust ihrer besten Freundin 1956 eine Fotografenlehre anfängt. Christine hingegen, die zweite der beiden jungen Frauen in "Lebenssekunden", ist eine vielversprechende Kunstturnerin in der DDR, doch ihr sportlicher Erfolg hat einen hohen Preis. Immer näher kommen sich die beiden Schicksale, bis sie sich in einem hochdramatischen Moment vereinen - und die ganze Welt schaut atemlos zu.

Natürlich ist Katharina Fuchs' spannendes Drama zuallererst ein Frauenroman, doch obwohl an der Oberfläche wenig passiert, gelingt es der Autorin, mit ihren Figuren ein atemberaubendes Porträt einer Zeit im Umbruch zu schaffen, das man kaum aus der Hand legen mag. Dabei teilt sich "Lebenssekunden" grob in drei Episoden ein, deren erste (die im Jahr 1956 spielt) als umfangreichste Sektion gut sechzig Prozent des Romans umfasst und den Weg von Angelika und Christine zu ihren jeweiligen Karrieren beschreibt. Nach einem Zeitsprung gelangen wir ins Jahr 1958, in dem sich die Dinge für beide Frauen dramatisch zuspitzen - und erst die letzten dreißig Seiten beschäftigen sich dann mit jenem Augusttag 1961, den der Klappentext anspricht und der das Leben aller Beteiligten für immer verändern wird. Hier liegt übrigens auch der einzige Kritikpunkt am strukturellen Aufbau des Romans: Die zweite Episode im Jahr 1958 endet mit hochdramatischen Ereignissen, nur um dann einen Zeitsprung von fast drei Jahren hinzulegen - und hier wirken die letzten dreißig Seiten leider fast wie ein Nachklapp, die es bei weitem nicht schaffen, diese Lücke befriedigend zu erklären und noch dazu an einem Tag spielen, dessen 24 Stunden allein ausgereicht hätten, um ein ganzes Buch zu füllen. So bleiben am Ende dann doch ein paar Fragen mehr als gedacht (auch wenn ein Anhang kurz das weitere Leben aller Beteiligten beleuchtet).

Fünfzig Seiten mehr hätten "Lebenssekunden" gut zu Gesicht gestanden - und letztlich ist das ja auch ein Kompliment an die Erzählkunst von Katharina Fuchs. Daher sei ihr wundervolles Frauendrama auch allen Liebhabern guter und aufrüttelnder Geschichten empfohlen. Beim nächsten Mal eben nur gern mehr davon!

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Veröffentlicht am 19.10.2024

Slawisch inspirierte Fantasy

Tage einer Hexe
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Kosara ist eine eher mittelmäßige Hexe, die sich in der düsteren Stadt Chernograd durchs Leben schlägt - was besonders in den zwölf Tagen nach Neujahr gefährlich ist, wenn eine Armee an Monstern über den ...

Kosara ist eine eher mittelmäßige Hexe, die sich in der düsteren Stadt Chernograd durchs Leben schlägt - was besonders in den zwölf Tagen nach Neujahr gefährlich ist, wenn eine Armee an Monstern über den Ort herfällt und es besonderer Magie und Talismane bedarf, um die finsteren Nächte zu überleben. Eines dieser Monster (der Zmey) ist das gefährlichste von allen und hegt zudem noch einen persönlichen Groll gegen Kosara. Um dem Zmey zu entkommen, tauscht die Hexe ihren Schatten gegen eine Fluchtmöglichkeit in die Nachbarstadt Belograd - ein heller, lichtdurchfluteter und reicher Ort, in dem die Menschen in geradezu dekadentem Luxus schwelgen, getrennt von Chernograd durch eine fast unüberwindbare magische Mauer. In den Straßen von Belograd stolpert Kosara auf der Suche nach ihrem Schatten über ein grausames Verbrechen und muss mit der Unterstützung eines aufrechten Polizeikommandanten nach dem Dieb und Mörder jagen - bevor die Schattenkrankheit sie innerhalb weniger Tage tötet ...

Der bulgarischen Autorin Genoveva Dimova ist mit ihrem auf Englisch verfassten Romandebüt gleich ein verblüffend innovativer Geniestreich geglückt, dessen faszinierende Welt den Leser sofort in ihren Bann schlägt. Eine intelligente Mischung aus urbaner Fantasy, einem Hauch Steampunk und düsterem Mysterykrimi, die vor allem von ihren unverkennbar in der slawischen Folklore verankerten Wurzeln profitiert und auf fesselnde Weise ein Panoptikum aus mythischen Wesen und albtraumhaften Sagengestalten vom Balkan mit einer Zwei-Klassen-Gesellschaft verwebt, die mal mehr und mal weniger subtil auch auf gesellschaftliche und politische Missstände in unserer aktuellen Welt und Zeit hinweist. Dabei hebt Dimova nie belehrend den Zeigefinger, sondern stellt mit ihrer Protagonistin Kosara eine Figur in den Mittelpunkt, die weder moralisch perfekt noch magisch hochbegabt einen Durchschnitt verkörpert, der in einer Ära der Superhelden und Powerfrauen erfrischend normal wirkt.

Dass sich derartiges Lesefutter dann auch noch ausnehmend unterhaltsam an wenigen Abenden vorm Kamin verschlingen lässt, ist dann noch das Sahnehäubchen auf einem einzigartigen Fantasy-Debüt. Der zweite (und letzte) Teil der Reihe darf also gern kommen!

Zur deutschen Ausgabe aber dennoch ein Wort: Zwar hat Klett-Cotta mal wieder keinerlei Kosten und Mühen gescheut, um aus "Tage einer Hexe" eine wunderschöne Hardcover-Ausgabe (toll mit Goldfolie und farbigem Buchschnitt!) herauszuholen und hat auch anderweitig wieder bewiesen, dass ihre Verlagsauswahl exquisit wie immer ins Ziel trifft - aber den einen Stern Abzug holt sich hier leider die etwas lieblose Übersetzung, die gleich im zweiten Absatz mit falsch gesetzten Kommata einen im Deutschen ohnehin schon etwas gestelzten Satz unnötig sinnentstellt ("Die Gäste saßen dicht gedrängt, Schulter an Schulter, hoben sie die Gläser.") Danach fängt sich der Stil zwar ein wenig, wirkt aber an vielen Stellen immer noch seltsam hakelig, manchmal flapsig und oft emotional völlig unberührt, so dass sich der Lesesog der englischen Fassung hier nur schwer einstellt. Das ist schade, und ich hoffe, dass man sich beim zweiten Band wieder ein bisschen mehr auf Qualitätskontrolle verlässt, um die einzigartige Stimmung der von Dimova so perfekt kreierten Welt auch angemessen herüberzubringen.

Wer sich von diesem Schönheitsfehler nicht abschrecken lässt und vollumfänglich in diese Leseerfahrung eintaucht, wird jedoch mit einem der erstaunlichsten und fantasievollsten Romandebüt seit Jahren belohnt. Also traut euch!

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Veröffentlicht am 18.08.2024

Thriller-Nachschlag

Signum
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Nach den Geschehnissen rund um das Mittsommerparty-Massaker im letztjährigen Auftaktband geht es in "Signum" nun endlich weiter mit den Hauptfiguren. Während Astrid die Vergangenheit zu verarbeiten versucht, ...

Nach den Geschehnissen rund um das Mittsommerparty-Massaker im letztjährigen Auftaktband geht es in "Signum" nun endlich weiter mit den Hauptfiguren. Während Astrid die Vergangenheit zu verarbeiten versucht, hat Kim schon seine ganz eigene Methode dafür gefunden und hält seinen ehemaligen Doktor, den Peiniger seiner Kindheit, in Gefangenschaft. Julia taucht währenddessen tiefer in die Recherchen zu einem neuen Roman ein und kommt einer rechtsextremen Bewegung gefährlich nahe.

Ja, idealerweise sollte man "Refugium", den ersten Band der Mittsommer-Trilogie, gelesen haben, um "Signum" in all seinen Details zu schätzen, aber nötig ist das aufgrund gut eingeflochtener Verweise nicht unbedingt. Leider gilt aber auch für die Fortsetzung der vielzitierte Grundsatz, dass man nicht jeden Erfolg wiederholen können wird. Kommerziell gesehen gilt das vielleicht weniger (da habe ich bei den Auflagenzahlen Lindqvists keine Angst), aber qualitativ lässt "Signum" tatsächlich etwas nach, weil dem Sequel der rote Faden des Originals fehlt, in dem ein monströses Verbrechen den Auslöser für eine ganze Reihe von Handlungsebenen bildete. Hier dagegen ist man mehr mit Reflexion beschäftigt, mit alten Wunden und persönlichen Dingen - die sind für sich gesehen durchaus auch nicht uninteressant, denn Lindqvists Trumpfkarte waren und sind seine realistischen Figuren (selbst wenn sie so offensichtlich von Stieg Larssons Millennium-Erfolg inspiriert sind), und jemandem wie Kim folgt man auch einfach gern durch die Story, aber als Leser des ersten Teils erfährt man wenig Neues aus der Gedankenwelt der geliebten Charaktere. Das ist schade und mindert den Lesespaß, auch aufgrund mangelnder großer Actionsequenzen und der reduzierten Schauplatzwechsel. Dennoch: Immer noch ein "guter" Thriller und für Leser des ersten Bandes auf jeden Fall lohnenswert - vielleicht haben wir hier ja nur ein vorübergehendes Formtief auf dem Wege zu einem umso grandioseren Finale in Teil 3!

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Veröffentlicht am 11.06.2024

Historische Auswanderersaga

Savannah – Aufbruch in eine neue Welt
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"Savannah", dessen erster Teil hier passend den Untertitel "Aufbruch in eine neue Welt" trägt, hat durch seine Prämisse natürlich den Vorteil, gleichzeitig eine ganze Reihe beliebter Elemente bedienen ...

"Savannah", dessen erster Teil hier passend den Untertitel "Aufbruch in eine neue Welt" trägt, hat durch seine Prämisse natürlich den Vorteil, gleichzeitig eine ganze Reihe beliebter Elemente bedienen zu können: detaillierte historische Panoramen, die Abenteuerlichkeit der Reise in eine unbekannte Ferne, zahlreiche Figuren in diversen Beziehungen zueinander, die auch romantische Erzählanteile ermöglichen, und natürlich die immer wieder gern genommene starke unabhängige Frauenfigur im Mittelpunkt. Hier ist das die junge Nellie, die im Preußen des Jahres 1732 zuerst schwanger von ihrem Vater aus dem Haus geworfen wird, für ein Weilchen bei der Familie ihres Cousins unterkommt, wo ihre uneheliche Tochter geboren wird, und dann mit dem entfernt verwandten Zimmermann Justus ihre Chance wahrnimmt, um sich in England in Richtung Amerika einzuschiffen, wo gerade dringend Siedler für die neue Kolonie Georgia gebraucht werden. Gerade in dieser turbulenten Zeit impliziert das natürlich die Möglichkeit für reichlich Abenteuer - und ebenso auch die Hoffnung auf einen romantischen Neuanfang mit dem Engländer Samuel ...

"Savannah" bedient auf knapp 600 Seiten letztlich genau die Erwartungen, die man an einen historischen (Frauen-)Roman stellt, und bleibt bis zum letzten Kapitel unterhaltsam und abwechslungsreich. Natürlich muss man sich als Zugeständnis durchaus an den einen oder anderen romantischen Einschub gewöhnen und dem Klischee der auch vor knapp 300 Jahren starken und aufgeklärten Frau gutmütig ein paar Anachronismen durchgehen lassen, aber das ist nun mal der Markt, für den Malou Wilke schreibt. Ansonsten liest sich ihr Debüt durchgehend flüssig, greift nur manchmal auf zu viele Adjektive zurück und neigt zu einigen doch sehr blumigen Passagen - aber das verzeiht man ihr angesichts der abenteuerlichen Gesamthandlung dann doch recht schnell. Sicherlich kein anspruchsvolles Literaturkunstwerk, aber gerade für den kommenden Sommerurlaub als Strandkorb- oder Balkonlektüre genau das Richtige. Man darf auf Teil 2 (ab Anfang 2025) durchaus gespannt sein.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Intelligente Sci-Fi

Die Stimme der Kraken
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Nachdem der Technologiekonzern DIANIMA den südvietnamesischen Insel-Archipel Con Dao nach der Entdeckung einer möglicherweise vernunftbegabten Oktopus-Spezies evakuieren lässt, fordert man die Hilfe der ...

Nachdem der Technologiekonzern DIANIMA den südvietnamesischen Insel-Archipel Con Dao nach der Entdeckung einer möglicherweise vernunftbegabten Oktopus-Spezies evakuieren lässt, fordert man die Hilfe der erfahrenen Meeresbiologin Dr. Ha Nguyen an. Gemeinsam mit dem hochintelligenten Androiden Evrim (dem einzigen seiner Art) und der wortkargen Kriegsveteranin Altantsetseg versucht Ha nun, die Geheimnisse vor der Küste zu erforschen und ein mögliches gemeinsames Kommunikationsmittel zu finden, doch ihre Bemühungen werden von Kräften sabotiert, die ganz andere Ziele haben.

Ray Naylers Debüt ist weniger der Öko-Thriller, als den der Verlag ihn beschreibt, sondern ein philosophischer Near-Future-SF-Roman, der näher an Klassikern wie CONTACT als an schnell getakteten Wissenschafts-Blockbustern á la DER SCHWARM angelehnt ist. Die genaue Figurenzeichnung und philosophische Gedankenexperimente stehen erfreulich stark im Mittelpunkt und werden vor allem von dem hochdetaillierten Weltenentwurf gestützt, der eine Zukunft entwirft, in der die alten Traditionen und Strukturen Südostasiens im ewig verregneten tropischen Dschungel nahtlos mit einer logisch weiterentwickelten Technologie verschmelzen, die selbstfahrende Autos, Passagierdrohnen, KI-gesteuerte Fischereiboote und Holo-Calls hervorgebracht hat. Das wirkt realistisch genug, um DIE STIMME DES KRAKEN nicht zur abgehobenen utopischen Spinnerei werden zu lassen und zeichnet trotzdem den Entwurf einer Welt von (beinahe) morgen, die zwar nicht das Paradies auf Erden ist, aber auch in all ihrer Imperfektion nie das übertriebene Ausmaß einer dystopischen Apokalypse erreicht. So ein geerdeter Mittelweg ist in der klassischen Öko-SF schon recht selten geworden und lässt den Roman angenehm "old school" wirken, ohne Naylers doch recht modernen, beobachtenden Stil zu verleugnen.

Definitiv keine Empfehlung für Fans schneller Thriller und sicher nicht der Katastrophen-Horror, den man anhand des Klappentextes erwarten könnte, aber gerade deswegen sei der Titel allen SciFi-Liebhabern ans Herz gelegt, die ihre Themen gern mit ein wenig Tiefgang und realistischem World Building serviert haben möchten. Ein zu recht vielfach ausgezeichnetes, starkes und vor allem unglaublich intelligentes Debüt. Lesen!

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