Berliner Dystopie
Berlin, eine Insel. Berlin, die Mauerstadt. Das gab es schon einmal. Doch in Anne Reineckes Roman "Hinter den Mauern der Ozean" geht es nicht um die Vergangenheit im Kalten Krieg, sondern eine ferne Zukunft, ...
Berlin, eine Insel. Berlin, die Mauerstadt. Das gab es schon einmal. Doch in Anne Reineckes Roman "Hinter den Mauern der Ozean" geht es nicht um die Vergangenheit im Kalten Krieg, sondern eine ferne Zukunft, gestaltet durch Klimakatastrofe und wer weiß, was noch. Berlin ist von einer hohen Mauer umgeben und jenseits der Mauern ist Land unter. Wie weit sich dieser Ozean erstreckt, bleibt unklar. Das Meer ist, der hohen Mauer wegen, nicht zu sehen, höchstens je nach Jahreszeit zu hören oder zu riechen.
Und Berlin ist nicht länger eine Millionenmetropole sondern die Heimstatt der fünf "Ewigen" - Lola, Friedrich, Wilhelm, Alexander und Else. Lauter Namen, die fest mit preußischem/Berliner Kulturgut und Historie verbunden sind. Sind auch die Fünf mehr Symbol als echte Menschen? Als Bewahrer des kollektiven Gedächtnisses der "Alten" haben sie eine Rolle zu spielen. Sind sie überhaupt Menschen oder eine Art Klon? Wenn eine*r von ihnen alt wird, kommt die Zeit des "Entschwindens" - und der Ersatz durch ein Kind gleichen Namens, wohl auch ähnlicher Persönlichkeit?
Erzählt wird aus der Perspektive von Lola, der bis dahin jüngsten der der Ewigen. Die anderen waren alle schon da, als sie als Kind dazukam. Ihre Vorgängerin hat sie nie kennengelernt, das ist unüblich. So bleibt die "alte Lola" für sie ein Rätsel. Friedrich, der älteste der fünf, steht Lola nahe und plant mit ihr eine Flucht, im selbstgebastelten Ballon über die Mauer - noch so eine Reminiszenz aus der Zeit der Berliner Mauer. Lola ist auch die einzige, die in das eigentlich verbotene ungesicherte Gebiet vordringt, in dem sie Spuren der Vergangenheit vor der Zeit der Ewigen sucht.
Vieles bleibt rätselhaft. Reinecke lässt in ihrem Buch Leerstellen und Interpretationsspielräume, die die Lesenden selbst mit ihrer Vorstellungskraft füllen können. Wie die Ewigen ausgesucht werden, was aus ihnen wird, wenn sie durch ein jüngeres Exemplar ersetzt werden bleibt ebenso offen wie die Frage, ob die Berliner Insel Schutzzone oder Gefängnis für die Hüter des Wissens ist. Auch die Begegnung mit den Fremden, die einmal im Jahr kommen und mit denen die Kommunikation nur über Übersetzer möglich ist, wirft Rätsel auf: Gehören sie überhaupt derselben Spezies an? Was wurde aus dem Rest der Menschheit? Wo leben die Fremden? Was existiert jenseits des Berliner Mauerrings? Ist diese Existenz die Folge einer ökologischen Katastrofe, eines Krieges oder eines Zusammenspiels mehrerer Faktoren?
Reineckes Sprache ist teils poetisch, teils archaisch im Stil alter Epen oder der Bibel, wenn die Ewigen mit den Fremden sprechen. Das Setting ist mystisch und geheimnisvoll. Ein ungewöhnliches Buch, das manche Antwort offen lässt und gerade deshalb zum Nachdenken anregt.