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Lust_auf_literatur

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 07.06.2024

Gänsehaut erzeugend und aufregend!

Heiligenbilder und Heuschrecken
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Gerade habe ich „Heiligenbilder und Heuschrecken“ zugeklappt und habe jetzt richtig Gänsehaut!
Überhaupt ist der Roman der spanischen Schriftstellerin und Übersetzerin Layla Martínez regelrecht gruselig ...

Gerade habe ich „Heiligenbilder und Heuschrecken“ zugeklappt und habe jetzt richtig Gänsehaut!
Überhaupt ist der Roman der spanischen Schriftstellerin und Übersetzerin Layla Martínez regelrecht gruselig und war für mich ein ziemlich besonderes und begeisterndes Leseerlebnis!

Martínez lässt eine junge Frau und ihre Großmutter „die Alte“ im Wechsel aus ihrer jeweiligen Perspektive erzählen. Beide leben zusammen in ärmlichen Verhältnissen in einem alten Haus, in dem die Alte aufgewachsen ist.
Geister, Schatten und Heilige bevölkern mit ihnen das Haus. Aus den Erzählungen der Alten erfahre ich, wie die Geister ins Haus gekommen sind.

„Es war auf den Körpern von den anderen Frauen gebaut worden und wurde durch den Körper meiner Mutter gehalten. Durch ihre Angst und ihren Schmerz. Es war kein Geschenk, sondern ein Fluch.“


Die junge Erzählerin träumt davon zu studieren und auszuziehen, sie verbindet eine ambivalente Hass-Abhängigkeit mit der Alten. Ihr Erzählton ist rauh, ungeschliffen und bitter. Sie arbeitet für die ortsansässige reiche Großgrundbesitzerfamilie und betreut deren kleinen Sohn als Nanny.

Aber eines Tages verschwindet der Junge unter ihrer Aufsicht und kann trotz aller großangelegten Suchaktionen und Polizei- und Presseaktivität nicht gefunden werden…

Die junge Frau und ihre Großmutter geraten schnell in Verdacht, denn es ist nicht der erste Unglücks- und Vermisstenfall in ihrem Umfeld und es gibt eine weit zurückreichende gemeinsame Geschichte mit der Familie des Großgrundbesitzers.

Layla Martínez ist eine weitere starke feministische Stimme aus Spanien, die ich nach Lucía Lijtmaer und Alana S. Portero kennen lernen darf.
Sie verbindet in „Heiligenbilder und Heuschrecken“ eine selbstermächtigende, feministische Rachegeschichte mit aufgeladener Klassenkritik und benutzt dafür einen ungewöhnlich rauhen und atemlosen Erzählstil.

Für mich war der Roman eine aufregende sehr erfreuliche Entdeckung und ich legen ihn dir sehr ans Herz, wenn du Lust auf gesellschaftskritische und feminische Literartur hast, aber auch wenn du gerne ungewöhnliche Spukgeschichten liest!

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Veröffentlicht am 31.03.2024

Philosophisch komplexer und literarisch ansprechender Pageturner

Das andere Tal
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Wie findest du Romane übers Zeitreisen?

Ich liebe solche Geschichten und „Das andere Tal“ war für mich ein absolutes Highlight dieses Genres!
Aber bevor jetzt Missverständnisse aufkommen: ich rede hier ...

Wie findest du Romane übers Zeitreisen?

Ich liebe solche Geschichten und „Das andere Tal“ war für mich ein absolutes Highlight dieses Genres!
Aber bevor jetzt Missverständnisse aufkommen: ich rede hier natürlich nicht von Sci-Fi Ware von der Stange, wie es beim Diogenes Verlag wohl auch kaum zu erwarten wäre. Nein, wenn ich von einem Highlight des Zeitreise-Genres spreche meine ich hier literarische, philosophische und spannende Unterhaltung auf allerhöchstem Niveau.
Ich bin schlichtweg begeistert.

Howards Idee ist nicht ganz neu, er verbindet örtliches Reisen mit zeitlichem Reisen. Seine Figuren leben in einem abschlossenen Tal und wenn sie Richtung Osten ins nächste Tal reisen, gelangen sie 20 Jahre in die Zukunft und in Richtung Westen gelangen sie ins gleiche Tal, aber um 20 Jahre zurück in die Vergangenheit.

Damit potentielle Reisende nicht permanent Zeitreise-Paradoxien auslösen, sind die Talübergänge strengstens überwacht und die Reisen in die benachbarte Täler strengstens reglementiert. Nur in seltenen Ausnahmefällen, wenn jemand eine mittlerweile verstorbene Person in der Vergangenheit noch ein letztes Mal sehen will, genehmigt ein Kremium, das Conseil, den Antrag für einen Besuch.
Aber auch dann sind diese Besuche strengstens überwacht um eine Veränderung der Vergangenheit oder gar Begegnungen mit der jüngeren Version von bekannten Personen zu vermeiden.
Ein Platz im Conseil ist die höchste Würde im Tal und nur den moralisch einwandfreisten und geschultesten Personen zugänglich.
Um einen solchen Platz bewirbt sich die 16-jährige Odile, auf Drängen ihrer Mutter hin, die sich eine solche Karriere für ihre Tochter wünscht.
Odile ist von diesem Ehrgeiz überfordert, sie verbringt viel lieber Zeit mit Freund*innen. Nach einer Weile findet sie allerdings Gefallen an den Beispielfällen und den Lektionen des Kurses und sie stürzt sich großer Ernsthaftigkeit in die Vorbereitungen für das Auswahlverfahren…

Die Komplexität und Stimmigkeit, mit der Howard sowohl die Atmosphäre des Tal und seines streng reglementierten Lebens schildert, als auch die psychologische Ausarbeitung seiner Figuren und ihrer Beziehungen, ist wirklich bemerkenswert.
Ich kann die fortschreitenden Desillusionierung und Abwendung vom System eines Mädchens und später einer Frau verfolgen. Ich kann ihre Persönlichkeitsentwicklung nachvollziehen.
Über seinen Roman und über das Thema Zeit legt Howard einen melancholischen, manchmal nostalgischen Filter, der mir ausgesprochen gut gefällt.
Freundschaft, Verrat und Schuld sind der Grundtenor seines ungemein spannenden und hoch entwickelten Plots.
Howard gelingt mit seinem Debüt einen ungeheuer spannenden, aber auch philosophisch komplexen und literarisch ansprechenden Pageturner!

„Das andere Tal“ war für mich ein absoluter Volltreffer und ein glänzendes Highlight in meinem doch recht hohen Verschleiß an literarischen Romanen.

Dringende Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 20.12.2023

Modern und tiefgründig!

Chrysalis
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Eine Chrysalis ist ein, sich in der Metarmophose befindendes Insekt.

Eine Puppe.

Was für ein toller und passender Titel für diesen wahnsinnig faszinierenden Debütroman von Anna Metcalfe!

Mit einer ganz ...

Eine Chrysalis ist ein, sich in der Metarmophose befindendes Insekt.

Eine Puppe.

Was für ein toller und passender Titel für diesen wahnsinnig faszinierenden Debütroman von Anna Metcalfe!

Mit einer ganz besonderen Konstruktion: Metcalfe beschreibt ihre eigentliche Protagonistin von außen aus der Perspektive von drei verschiedenen Ich-Erzählerinnen. So sehe ich diese junge Frau nur durch die Augen der anderen drei. Ich weiß nie, was wirklich in ihr vorgeht, was ihre Motivation ist.
Diese Erzählform greift das inhaltliche Thema, dieses von außen bewertet und beobachtet werden, bereits stilistisch auf.

Ich schließe aus den Erzählungen von

Elliot - die Freundschaft plus aus dem Fitnessclub
Bella - ihre Mutter, die sie alleine großgezogen hat
Susie - die sich für ihre beste Freundin hält

dass sie eine junge, attraktive Frau ist, die sich aus einer toxischen Beziehung befreit hat und die sich jetzt die Kontrolle über ihren Körper und ihr Leben wiederholen möchte.
Sie beginnt erst ihren Körper zu verändern. Er soll stark, fast überirdisch perfekt und mächtig werden, wie eine unantastbare Skulptur.

„Ihr Körper faszinierte mich. Er war übermenschlich, überentwickelt, muskulös und fest. Ihre glatte Haut war straff und scheinbar dicker als die anderer Menschen.“

Dann kappt sie ihre zwischenmenschlichen Beziehungen nach und nach, denn Gefühle machen angreifbar und verletzlich.
Ihr Transformation vermarktet sie zunehmend erfolgreich in Social Media.

Inhaltlich wagt sich Metcalfe an viele, feministische und gesellschaftliche Themen, ohne dass sie die Wertung vorgibt. Durch den Aufbau des Romans bleiben die Ereignisse und der Blick immer subjektiv bei dem/der jeweiligen Erzähler
in. Das lässt mir viel Luft für eigenen Interpratationen und Metcalfe lässt mir viel Spielraum um zwischen den Zeilen zu lesen.

Die Erzähler*innen fungieren teilweise als Gegensatz zur Protagonistin, was besonders durch den Helferkomplex von Susie deutlich wird.
Die Protagostin nimmt sich konsequent was sie will ohne Rücksicht auf Konventionen, aber auch ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer.

Literarisch bewegt sich Metcalfe auf sehr hohem Niveau, ihre Prosa ist auf den Punkt, fesselnd und wirkmächtig.

„Das Ende war immer gleich: Das Mädchen wurde vernichtet und in anderer Gestalt wiedergeboren.“

Absolut zeitgemäß, interessant und ungewöhnlich!

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Veröffentlicht am 09.07.2023

Stark erzählte Gesellschaftskritik aus Nigeria

Das Glück hat seine Zeit
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Der Debütroman „Bleib bei mir“ von Adébáyò schlug bei mir ein wie eine Bombe, ich war gefesselt von der Erzählkraft dieser jungen Autorin aus Nigeria.
Natürlich wollte ich ihren neuen Roman „Das Glück ...

Der Debütroman „Bleib bei mir“ von Adébáyò schlug bei mir ein wie eine Bombe, ich war gefesselt von der Erzählkraft dieser jungen Autorin aus Nigeria.
Natürlich wollte ich ihren neuen Roman „Das Glück hat seine Zeit“ auch unbedingt lesen.
Und auch hier lässt mich die großartige Erzählstimme von Adébáyò über die Seiten fliegen und trifft mich genau in mein Herz.

Ayòbámi Adébáyò schreibt in ihrem zweiten auf deutsch erschienenen Roman wesentlich politischer und gesellschaftskritischer als noch in „Bleib bei mir“.
Mit ihren Figuren thematisiert sie sehr kontrastreich die krassen Unterschiede zwischen arm und reich in diesem zerrissenen Land. Aber auch die Unterschiede zwischen Mann und Frau.

Nigeria ist mit über 200 Millionen Einwohnern das bevölkerungsstärkste Land Afrikas und von großer, nicht konfliktfreier, kulturellen Vielfalt geprägt.

Adébáyò schildert mit ihrem Figuren vor allem die finanziellen und gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den Menschen. Die Familie von Wuraola ist sehr privilegiert und die junge Frau ist auf dem Weg in eine glänzende Zunkunft. Sie wird bald eine Ärztin sein und ihrem Verlobten, ebenfalls aus sehr privilegiertem Haus, heiraten.
Trotzdem ist Wuraola nicht frei. Strenge gesellschaftliche Normen, die für Frauen ihres Standes gelten, und die Anforderungen ihrer Mutter Yeye engen sie ein.

Am anderen Ende der gesellschaftlichen Skala steht der 15-jährige Eniola. Seine Familie ist mittellos, seit sein Vater durch die Willkür des Staates seine Stelle als Lehrer verloren hat. Eine staatliche Absicherung oder soziales Netz gibt es nicht und arbeitlos zu werden ist ohne weitere berufliche Perspektive oft ein Grund für Selbstmord. Eniolas Vater fällt in eine Depression und ist nicht mehr in der Lage die Familie zu versorgen. Eine gute Schulbildung, die in Nigeria nur über kostenplichtig Privatschulen zu erhalten ist, rückt in weite Ferne.

Deutlich beschreibt Adébáyò die Auswirkungen der wirtschaftlichen Not auf die Familien und übt Kritik an einem System, das seine Hilfbedürftigsten seinem Schicksal überlässt. Staatliche Willkür und politische Korruption lässt das Land ausbluten.
Die Auswirkungen von starren und traditionellen Geschlechterrollen, thematisiert und kritisiert Adébáyò anhand ihrer starken weiblichen Figuren wie Wuraola und ihrer Mutter Yeye und ziehen sich durch den ganzen Roman.

Beide Familien lässt Adébáyò im Laufe der Handlung aufeinandertreffen und ich ahne früh: hier hat das Glück keine Zeit…


Adébáyò schafft es wieder mich mit ihrem großem Schreibtalent in den Bann ihres Romans zu ziehen. Thematisch hat mir „Bleib bei mir“ persönlich vielleicht besser gefallen, die stärkere politische Botschaft hat eindeutig „Das Glück hat seine Zeit“.

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Veröffentlicht am 18.08.2024

Ruhige und poetische Dystopie aus Berlin

Hinter den Mauern der Ozean
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Heute habe ich wieder eine Empfehlung für meine Bookies mit einer Vorliebe für Dystopien. Und für alle Berlinerinnen. Aber da der Roman von Anna Reinecke nicht die dystopischen Elemente in den Vordergrund ...

Heute habe ich wieder eine Empfehlung für meine Bookies mit einer Vorliebe für Dystopien. Und für alle Berlinerinnen. Aber da der Roman von Anna Reinecke nicht die dystopischen Elemente in den Vordergrund stellt, ist der Roman natürlich für alle Leserinnen empfehlenswert, die Lust auf Literatur haben.

Wie schon in ihrem ersten Roman „Leinsee“ hat Reinecke auch diesmal wieder Berlin als Schauplatz des Geschehens gewählt. Kein Zufall, lebt die Autorin doch selbst seit längerem in der deutschen Hauptstadt.

In einer nicht näher benannten Zukunft ist die Welt in Wassermassen versunken, das trockene Berlin ist von einer hohen Mauer (!) umgeben und geschützt. In der leeren Stadt leben fünf Menschen:

„Wir sind fünf. Wir sind ewig. Wir sind sterblich.
Wir sind Friedrich, Wilhelm, Alexander, Else und Lola.
Ich bin Lola. Es gab mich vor mir, und es wird mich nach mir geben. Kein Anfang, kein Ende.“

Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive von Lola erzählt. Die Informationen, die sie über ihre Welt und die Geschichte hat, sind spärlich und so bleibt auch den Leserinnen vieles der Fantasie und der eigenen Interpretation überlassen. Es die Art von Dystopie, die als Tableau für Gedankenexperimente konstruiert ist, was Reinecke hier sehr stimmig und stimmungsvoll gelungen ist.

Jeden Sommer öffnen sich die Tore und es kommen Schiffe mit Fremden für ein obskures Sightseeing in Stadt. Für jeweils zwei Wochen bekommen einzelne Gruppen von Lola und den vier anderen Ewigen in ausgedehnten Stadtführungen die Berliner Sehenswürdigkeiten der Vergangenheit gezeigt. Im Winter sind die Fünf sich selbst überlassen und werden mit Lebensmittelpaketen versorgt. Wenn eine
r von ihnen zu alt ist, taucht eine Kinderversion auf, so dass es eine kurze Zeit zwei Versionen des gleichen Menschen in der Stadt gibt. In jung und in alt, bis die ältere Version dann verschwindet.

Durch die kleine Zahl an Individuen sind gesellschaftliche Konventionen wie Monogamie oder Heterosexualität längst aufgelöst.
Auch Lola hat einen Menschen, zu dem sich immer wieder hingezogen fühlt. Die Individualität der Menschen führt manchmal zu zwischenmenschlicher Reibung und Misstrauen.
Reinecke beschreibt, wie es selbst in einer so kleinen Gemeinschaft Geheimnisse und Zwist geben kann, aber auch viel Liebe und Fürsorge.

Lola ist bewusst, dass sie, obwohl wie Gött*innen verehrt und versorgt, eingesperrt und gefangen sind. Sie sind dem Wohlwollen anderer ausgeliefert.
Im Kern des Romans steckt die zentrale Frage: Was ist Freiheit und was sind Menschen bereit zu opfern, um sie zu erlangen.

Es ist bezeichnend, dass es die Stadt Berlin ist, um die (wieder) eine Mauer errichtet ist. Die überlieferten Geschichten von Grenzüberschreitungen, die die Fünf sich erzählen, klingen bekannt und vermischen sich mit der deutschen Vergangenheit. Aber auch mit unserer globalen Geschichte, denn Flucht, untergehende Welten und daraus resultierendes Leid gibt es überall und zu allen Zeiten.

„Hinter den Mauern der Ozean“ ist ein ruhig erzählter, poetischer Roman, der mir viel Raum für meine eigenen Gedanken lässt. Auch die Entfremdung der Schauplätze und Gegenstände, die ich aus Berlin kenne, finde ich sehr reizvoll. Eine toller Zuwachs in der neuen Diogenes Tapir Reihe, mit der der Verlag neues literarisches Terrain erkunden will.

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