Profilbild von Victory_of_Books

Victory_of_Books

aktives Lesejury-Mitglied
offline

Victory_of_Books ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Victory_of_Books über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 08.03.2025

Fans dystopischer und eskapistischer Literatur aufgepasst: Dieses Buch ist für Euch!👏🤩

Hier bleiben können wir auch nicht
0

Gesa verlässt mit ihrer kleinen Tochter Marie die Stadt um aufs Land zu ziehen in ein Haus, das sie sich mit dem Erbe ihres kürzlich verstorbenen Mannes gekauft hat.
Außer dass der Familienvater fehlt, ...

Gesa verlässt mit ihrer kleinen Tochter Marie die Stadt um aufs Land zu ziehen in ein Haus, das sie sich mit dem Erbe ihres kürzlich verstorbenen Mannes gekauft hat.
Außer dass der Familienvater fehlt, klingt es erst einmal idyllisch, oder?! Doch ein Supermarktbesuch offenbart die Andersartigkeit dieser Welt, denn Gesa wird nicht reingelassen.

Die Menschen sind gechipt und werden nach bestimmten Scores bewertet und dementsprechend kann ihnen der Zugang offeriert oder verwehrt werden zu bestimmten öffentlichen Institutionen, wie auch dem Supermarkt. Eine komplett durchdigitalisierte Gesellschaft - die Menschen werden überwacht, bewertet, über ihre digitalen Fußabdrücke kontrolliert und verfolgt auf Schritt und Tritt.

Was passiert also, wenn ein Mensch raus will aus diesem System, nicht mehr mitspielen möchte und die Gegebenheiten hinterfragt?!
Gesa tut genau das und erhofft sich mit ihrem Umzug aufs Land etwas tiefer unter dem Radar der ständigen Überwachung zu fliegen. Doch geht Ihr Plan auf?!
Im Häuschen auf dem Lande finden sie gleich erstmal eine tote Krähe - ein schlechtes Omen oder einfach nur Zufall?!

Maren Wurster macht aufmerksam auf Toxizität - auf Toxizität, die einem toten Vogel stecken kann, in einem Haus, aber auch in unseren Beziehungen, unserem Leben und letztlich der Gesellschaft. Spannende Gedankenansätze, die sie immer weiter spinnt.

Durch Rückblenden erzählt Maren Wurster auch die schwierige Beziehung einer Tochter zu ihrer suchtkranken Mutter. Was macht es psychisch mit einem Kind, wenn es nie weiß, in welchem Zustand es die Mutter vorfinden wird, wenn es aus der Schule nach Hause kommt?! Wird die Mutter was leckeres gekocht haben oder wird sie inmitten eines Chaos nicht ansprechbar in ihrem Bett liegen?!

Wer sehnt sich nicht nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Geborgenheit?! Da Gesa diese zu Hause nicht findet, zieht es sie in die esoterische Kommune in der Nachbarschaft. Für mich selbst ist das fernab meiner eigenen Lebensrealität. Aber ich finde es zugegebenermaßen äußerst spannend, darüber nachzudenken, was Menschen zu solch einer Form des Eskapismus bewegt. Handelt es sich hier einfach um Systemverweigerer oder steckt vielmehr ein spiritueller Antrieb dahinter?! Was erhoffen sich Menschen von dieser Art zu leben, wenn sie „ins Vertrauen gehen“ oder sich mit der Urmutter Gaia verbinden?! Mir persönlich fällt es schwer, über solche Themen zu sprechen ohne ein satirischtisches Augenzwinkern in meiner Tonlage - daher fand ich es besonders spannend, Maren Wursters Umsetzung der Thematik in diesem Buch zu lesen, die dem Ganzen glaube ich ähnlich gegenübersteht, wie ich selbst.
Die Menschen flüchten sich in eine höhere Welt oder vielmehr in ihr Inneres. Sie schaffen sich eine besondere Verbindung zu ihren Gedanken und Vorstellungen in Bezug auf die Welt. Für unsere Figur Gesa bildet diese Flucht aus der Gesellschaft die Möglichkeit wieder einen Platz in einer Gemeinschaft zu finden, dazuzugehören und auch eine Art Zuhause für ihre Tochter Marie. Doch existieren auch in solch einem Kommunenleben auch Regeln, an die man sich halten muss - ob es nun für Gesa und ihre Tochter das Nonplusultra ist oder nicht, müsst ihr selbst lesen. Wer sich Antworten auf alle offenen Fragen erhofft, wird möglicherweise enttäuscht, denn Maren Wurster ist eine Freundin des Rätselhaften und lässt manchen Umstand auch gerne mal im Ungewissen.

Ich habe mich während der Lektüre immer mal an George Orwells „1984“, an Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ und auch ganz besonders an Huxleys „Eiland“ erinnert, großartig! Also falls Ihr diesen Büchern etwas abgewinnen konntet, solltet Ihr es auf jeden Fall mal mit Maren Wursters „Hier bleiben können wir auch nicht“ versuchen. Sie hat die Vibes dieser drei doch schon älteren (aber trotzdem noch lesenswerten!) Werke in die Gegenwart geholt! Aber auch, wenn Ihr diese Bücher noch nicht gelesen habt und Fans dystopischer Literatur seid, sei Euch dieses Schätzchen ans Herz gelegt, denn die Frage, was eine Digitaldiktatur mit der Menschheit machen würde, ist doch eine äußerst spannende, oder?!
Es geht um Freiheit, Einsamkeit und ein Frauenschicksal auf der Suche nach dem persönlichen Glück - ebenso scharfsinnig erzählt, wie mit psychologischem Feingespür versehen!
Große Leseempfehlung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.02.2025

Wow - Psychiater und Schriftsteller Lobo Antunes hat mich überzeugt!

Am anderen Ufer des Meeres
0

Was hat mich dazu bewogen, António Lobo Antunes lesen zu wollen?! Zum einen hat Knut Cordsen mich neugierig gemacht, indem er auf dem BR-TikTok-Kanal den Autoren als seinen Lieblingsautor bezeichnet hat, ...

Was hat mich dazu bewogen, António Lobo Antunes lesen zu wollen?! Zum einen hat Knut Cordsen mich neugierig gemacht, indem er auf dem BR-TikTok-Kanal den Autoren als seinen Lieblingsautor bezeichnet hat, zum anderen war es der Umstand, dass auch Antunes Mediziner ist - viele Jahre arbeitete er als Psychiater, was er auch thematisch in seine Literatur einfließen lässt. Und auch die Tatsache, dass er seit Jahren als heißer Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, macht ihn nicht minder interessant.

Mit „Am anderen Ufer des Meeres“ greift der Autor ein Thema auf, dass ihn zeitlebens beschäftigt: Die blutige portugiesische Kolonialpolitik. Seine Erfahrungen als Militärarzt im Unabhängigkeitskrieg in Angola sind in den Roman geflossen - ein sehr persönliches Buch, in das er seine Erinnerungen rund um Gewalt, Rassismus und Unterdrückung verwebt hat.

Anhand dreier Hauptfiguren (ein Offizier, ein Beamter und die Tochter eines Plantagenbesitzers) die sich sowohl an Glanz und Gloria ihres kolonialistischen Daseins, als auch an die damit verbundenen Schattenseiten erinnern, nimmt uns Antunes mit ins Jahr 1961, als der Unabhängigkeitskrieg seinen Anfang nahm, mit dem die Angolaner ihre Befreiung vom Kolonialismus durchsetzten. Die Portugiesen hingegen verloren nun auch die letzten Zeichen nationaler Größe und machten sich schuldig.

Ich will ehrlich mit Euch sein: Das Buch hat mich bezüglich seiner historischen Zusammenhänge total gefordert, denn ich konnte zuvor mit Begriffen wie „Nelkenrevolution“, „Landarbeiterstreik“ oder „Befreiungskrieg“ wenig bis gar nichts anfangen. Jetzt weiß ich, dass Portugal bis zu besagter Revolution von 1974 eine katholisch-autoritäre Diktatur war. Seit den 1960er Jahren wurden immer wieder Kriege angezettelt mit dem Ziel der Erhaltung der afrikanischen Kolonien - ein ebenso hoffnungsloses, wie grausames Unterfangen!
Ich habe auch gelernt, dass die Landarbeiter einer angolanischen Baumwollplantage streikten, aber dem Streik auf brutalste Art und Weise eine Ende gesetzt wurde. Dadurch wurde der sogenannte Befreiungskrieg ausgelöst, den sie gegen die portugiesische Herrschaft führten.

Wir erleben die historischen Ereignisse in der Erinnerung unser drei Romanfiguren. Die sich immer abwechselnden Perspektiven der Protagonisten würde ich als Monologe bezeichnen, da sie weder miteinander, noch zu sonst jemanden sprechen. Als Psychiater beherrscht Antunes die Emotionen seiner Figuren, wie ich es zuvor noch nicht gelesen habe. In einem melancholischen Redefluss lässt er die Figuren von ihrem Alltag, ihrer persönlichen Gegenwart und anhand Erinnerungen durch ihre Vergangenheit streifen. Durch tief sitzende Traumata, einschneidende Verletzungen und nachwirkende Verluste seiner Figuren, bringt er uns sie näher, ich habe ihre Einsamkeit förmlich gespürt.

„Wozu mich auf ein Schiff zurück zum anderen Ufer des Meeres begeben, wo ich dort schon niemanden mehr kenne, denn nach so vielen Jahren ist Lissabon natürlich anders, Häuser und Straßen, keine Ahnung, wie sie jetzt aussehen, Leute auf den Fußwegen oder, besser gesagt, Fremde, die mich nicht beachten.“

Mir hat António Lobo Antunes einmal mehr die kolonialen Grausamkeiten bewusst gemacht mit „Am Ufer des Meeres“. Es war mein Einstiegsbuch in seine Literatur, aber weiterlesen möchte ich ihn vor allem aufgrund seiner Art, Menschen oder eher Seelen zu beschreiben. Er setzt seine Figuren und ihre Emotionen in historische Zusammenhänge, beachtet ihren sozialen Status und zieht so einen Rückschluss auf ihren Seelenzustand - es geht mir bei seinen Figuren um Nuancen, er beherrscht seine Protagonisten und nicht umgedreht. Ich habe den Eindruck, dass er dazu nur in besonderer Weise in der Lage ist, aufgrund seiner jahrelangen Tätigkeit als Psychiater. Und das macht ihn für mich als Medizinerin zu einem Autoren, von dem ich von nun an auf jeden Fall mehr (wenn nicht gar alles!) lesen möchte! Grandios! Ich danke Knut Cordsen fürs Aufmerksam-Machen auf einen Autoren, den ich womöglich sonst erst viel später entdeckt hätte (was mehr als schade wäre!)! Große Leseempfehlung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 08.02.2025

Emotionaler Wiener Roman! Eine ungleiche Liebe, die abrupt ihr Ende findet - grandios erzählt! 🤩

dreimeterdreißig
0

Ein ungleiches Paar findet sich, verliebt sich, und am Ende ist einer tot. Jaqueline Scheiber erzählt mit ihrem ersten Roman die Geschichte einer aufkeimenden Liebe in Wien und wie sie abrupt endet. Sie ...

Ein ungleiches Paar findet sich, verliebt sich, und am Ende ist einer tot. Jaqueline Scheiber erzählt mit ihrem ersten Roman die Geschichte einer aufkeimenden Liebe in Wien und wie sie abrupt endet. Sie wechselt die Perspektiven zwischen der Österreicherin Klara und dem Ungarn Balázs (wobei die Haupterzählerin Klara ist) und lässt eine tackende Uhr ablaufen, hin zu dem Zeitpunkt, an dem der Tod der Liebe Einhalt gebietet (das ist kein Spoiler, denn man erfährt in Kapitel 1 davon). Dabei springt die Autorin auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Doch erstmal von vorne. Unterschiedlicher hätte ihre Kindheit nicht verlaufen können - Balázs ist einem Umfeld aufgewachsen, in dem es keinerlei Anerkennung für Statussymbole gab, dafür wirkte die Prägung durch die ehemalige kommunistische Staatsführung in seiner Familie zu stark nach. Es zählte mehr die Funktionalität der Dinge - gekauft wurde, wenn etwas kaputt, oder nicht mehr reparabel war. Klara hingegen wuchs in einer wohlhabenden Familie auf - derlei begründete Sparsamkeit und Existenzängste waren und sind ihr fremd. Jaqueline Scheiber führt uns so unterschwellig (oder doch eher vordergründig?!) den auch heute noch vorherrschenden Klassismus vor Augen.

Als ältester von drei Geschwistern (denen er nicht sehr nahe stand), war Balázs auch der erste, der Tritte, Ohrfeigen und Schläge durch seinen Vater einstecken musste - was erst weniger wurde, als seine Großmutter (Grüße vom Matriarchat) die Misshandlungsmarken entdeckte und dem Vater eine solch bedrohliche Ansage machte, dass er nun nur noch seinem Ärger Luft machte, ohne Spuren zu hinterlassen.
Klara hingegen wuchs wohlbehütet auf - keiner legte Hand an sie und sie verband eine tiefe Geschwisterliebe zu ihrem Bruder Frederik. Auch ihr soziales Umfeld war und ist ein Auffangbecken für sie und vor allem ihre Freundin Jasmin steht ihr sehr nah:
„Sie waren die gegenüberliegenden Extreme eines Spektrums, alle anderen dazwischen waren durchdeklinierte Formen ihrer Selbst.“
„Jasmin war eine dankbare Zuhörerin, denn sie begeisterte sich für die Geschichten anderer in einem Ausmaß, als wäre es ihr dadurch möglich, das Geschilderte selbst zu erleben. Ihre Freundschaft fußte auf der aufrichtigen beidseitigen Neugier.“

Doch auch in Klaras scheinbar heiliger Familienwelt war nicht alles eitler Sonnenschein:
„Lange Zeit gab es nur sie, die Mutter und den Vater. Eine glückliche Kleinfamilie, untermauert durch alle gängigen Klischees. Ein abwesendes Familienoberhaupt, eine Frau neben ihm, die zumindest anfangs nicht viel hinterfragte und der es wichtiger war, wie sich die Tochter nach außen zeigte, als wie sie im Inneren fühlte, und die vierteljährlichen Ausflüge in die Kirche, um als anständige Bürger zu gelten.“
Als Architekt war ihr Vater viel unterwegs und lebte für seine Projekte - wenn ein solches kurz vor der Fertigstellung stand, blieb er völlig ungreifbar für sie. Sie arrangierte sich mit ihrer Mutter in vertrauter Zweisamkeit und „trotz aller Kompromisse und abgesteckten Wirkungsräume erschlaffte das Konstrukt der kleinbürgerlichen Familie und die Eltern gaben zu Klaras Überraschung nach zwölf Jahren Ehe die Scheidung bekannt. Den Auszug des Vaters bemerkte sie nur an fehlenden Barthaaren im Waschbecken und der stagnierenden Sammlung an Schlüsselanhängern und Plüschbären.“

Es dauerte nicht lange , bis ihre Mutter neue heiratete und ihr Bruder Frederik auf dem Weg war. Klaras Rebellion, wie auch ihre Gefühle, blieben, wie auch später im Leben mit Balázs, eher nach innen gerichtet. Frederik schloss sie schnell ins Herz - weigerte sich aber, den neuen Mann zu akzeptieren.
Man kann einen Menschen und seine heutigen Verhaltensweisen nur vollends verstehen, wenn man weiß, wie er zu diesem Menschen geworden ist - demzufolge auch meine ausführliche Erläuterungen zum unterschiedlichen Aufwachsen und der Kindheiten von Balázs und Klara.

„Klara war an diesem Abend geduldig neben ihm gesessen und hatte seinen Ausführungen gelauscht, sie war neidisch, mit welcher Herzlichkeit und Liebe er Momente seines Aufwachsens beschreiben konnte. Trotz allem. Neben den offensichtlichen Versäumnissen erahnte Klara eine zwischenmenschliche Tiefe, die sie stets vermisst hatte. Balázs‘ ungarische Identität hatte Farbe, Geschmack, eine Gewohnheit, Melodie und Lautstärke. Klaras Aufwachsen war eine eindimensionale Schablone, ein austauschbares Klischee.“

Klara ist beruflich erfolgreich als Architektin, eiferte ihrem Vater nach, doch struggelt in Liebesangelegenheiten und auch zunächst damit, sich ihrer Beziehung zu Balázs komplett hinzugeben, doch schließlich verliebte sie sich (er war da schneller) und alles nahm seinen Lauf: erste gemeinsame Momente, erste gemeinsame Wohnung und co - bis zum Tag X.

„Dreimeterdreissig“ ist eine Reise, eine Reise hin zu einer aufblühenden Liebe und sie endet wie alle Reisen irgendwann enden, doch diese endet mit einem Knall und für immer. Ich habe die Reise, zu der mich Jaqueline Scheiber eingeladen hat, geliebt - mit all ihren Stationen, Bergen und Tälern, die wir sinnbildlich zusammen erklommen haben, mit ihren Ausflügen in die Gefühlswelten von Balázs und Klara, den lauen Sommerabenden, die wir zusammen genossen haben und dem Ende der Reise, das schmerzlicher nicht hätte sein können. Seid ihr bereit die Reise anzutreten?! Ich verspreche: Es lohnt sich!

Ein gelungener erster Roman von Jaqueline Scheiber - den ich sehr gerne gelesen habe, von dem ich mir nur an der einen oder anderen Stelle etwas mehr psychologische Tiefe gewünscht hätte, bzw. ein Psychogramm von Klara und Balázs, denn ich wäre gerne noch mehr in ihre Köpfe und damit Gefühlswelten eingedrungen.
Weiter so, Jaqueline Scheiber - ich bin gespannt, was als Nächstes kommt und eins ist sicher: Ich werde es auf alle Fälle lesen!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.02.2025

Gelungenes Debüt - ein kosmopolitischer Familienroman!

Shanghai Story
0

Sie sind Töchter, sie sind Kosmopolitinnen und sie reisen für ihr Leben gern: Kiko, Yoko und Yumi Yang. Sie tingeln durch die ganze Welt, switchen dabei spielend leicht zwischen verschiedenen Sprachen. ...

Sie sind Töchter, sie sind Kosmopolitinnen und sie reisen für ihr Leben gern: Kiko, Yoko und Yumi Yang. Sie tingeln durch die ganze Welt, switchen dabei spielend leicht zwischen verschiedenen Sprachen. Wir folgen ihnen durch die Berg-und-Tal-Bahn des Lebens, es geht auf und ab, Glück und Unglück liegen meist nicht weit entfernt, macht uns die Autorin Juli Min bewusst mit „Shanghai Story“. Doch der eigentliche Clou des Buches ist seine Erzählweise, denn sie erfolgt: Rückwärts!

Aber bevor wir zu der eigentlichen Geschichte kommen, möchte ich Euch noch etwas über den Werdegang der Autorin Juli Min erzählen, denn dieser hat mich besonders beeindruckt. Sie wurde in Seoul in Südkorea geboren, ist in den USA in New Jersey aufgewachsen, hat in Harvard studiert, war Mitgründerin der Shanghai Literary Review (eine unabhängige Literaturzeitschrift) und lebt nun in Shanghai in China. Dort spielt auch ihr Debüt Roman „Shanghai Story“. Ein internationales Flair versprüht das Buch vor allem durch seine Protagonisten. Leo Yang, ein wohlhabender Immobilien-Investor bringt seine Ehefrau und seinen ältesten zwei Töchter in Shanghai zum Flughafen. Sie gehen in Boston zur Schule bzw. aufs College und seine Frau fliegt weiter nach Paris im Jahre 2040. Sie bewegen sich nicht nur mühelos zwischen den Orten, sondern auch zwischen den Sprachen und wechseln mal eben von Chinesisch, Französisch oder Englisch zu Japanisch. Mit fortschreitenden Kapiteln erfahren wir mehr über die Familie und ihren Beziehungen untereinander. Sehr sorgsam strukturiert erzählt Juli Min rückwärts, zuerst Jahr für Jahr - dann werden die Sprünge größer - und wir erfahren immer mehr Details bis hin zum Kennenlernen der Eltern. Vor allem die Story der jüngeren Tochter hat mich zutiefst berührt und bestürzt, denn wir lernen sie zu Mitte des Buches als unbescholtenes, smartes, mutiges Elfjähriges Mädchen mit gesundem Selbstbewusstsein kennen, wissen zu diesem Zeitpunkt aber bereits (aufgrund des Rückwärtserzählens), dass sie später Sex mit einem älteren Mann für Geld haben und weinend in einem Bett liegen wird. Das hat mich sehr traurig gestimmt.

Aber warum heißt denn das Buch nun eigentlich „Shanghai Story“?
So ganz klar ist mir das auch nicht, denn für mich ist es mehr Familienroman, als eine Geschichte über die Stadt Shanghai und lediglich der Schauplatz zu Beginn des Buches und der Ort mit dem der Vater Leo sehr verbunden ist, da es sein Herkunftsort ist. Ansonsten würde ich sagen, ist es für die Familie eine Stadt unter vielen in der Welt, in denen sie verkehren, die Yangs sind der Inbegriff von Weltbürgertum.

Asiatische Literatur hat bei mir ja meist von vornherein einen Pluspunkt - bin einfach ein Fan! Was mich aber an „Shanghai Story“ vor allem überzeugt hat, ist die Leichtigkeit mit der Juli Min schreibt, die auch den Lebensstil der Familie widerspiegelt. Alle Familienmitglieder sind Getriebene, sie sind auf der Suche nach etwas im Leben, dabei oft orientierungslos. Dadurch, dass die Geschichte so locker und leicht erzählt wird, fehlte es mir an mancher Stelle etwas an Tiefe bezüglich der Figurenzeichnung. Aber da es Juli Mins‘ Debütroman ist, will ich da mal nicht so streng sein und wünsche mir an dieser Stelle einen Teil 2 des Buches, der die Geschichte der Familie Yang und damit der Figuren weiterentwickelt und uns tiefer in deren Leben und Psyche eindringen lässt. Ein gelungener Anfang - danke Juli Min, ich bin gespannt, wie es weitergeht!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.08.2024

Erschütternde Fluchtgeschichte eines Kindes

Solito
0

„Solito“ von Javier Zamora ist eine packende und inspirierende wahre Geschichte, die die gefährliche und erschütternde Reise eines neunjährigen Jungen aus El Salvador in die Vereinigten Staaten schildert. ...

„Solito“ von Javier Zamora ist eine packende und inspirierende wahre Geschichte, die die gefährliche und erschütternde Reise eines neunjährigen Jungen aus El Salvador in die Vereinigten Staaten schildert.

Javier, damals ein verängstigter, skeptischer, aber dennoch hoffnungsvoller Junge, wurde von seinem geliebten und verehrten Großvater auf dieser Reise so weit wie möglich begleitet, bevor dieser den Jungen in die Obhut fremder Menschen übergeben musste. Sein Großvater hatte einen "Coyote" beauftragt und bezahlt, um Javier sicher zu seinen Eltern nach Kalifornien zu bringen. Javier hatte seine Mutter zuletzt gesehen, als er fünf Jahre alt war, und erinnerte sich noch an ihren Geruch und ihre Berührungen. Die Gedanken daran, sie wiederzusehen, gaben ihm die Kraft, weiterzumachen, wenn er am liebsten aufgegeben hätte, und halfen ihm, die vielen Hindernisse auf seinem Weg zu überwinden.

Javiers Reise war oft gefährlich und von Einsamkeit geprägt. Er war der Annahme, die Reise würde etwa zwei Wochen dauern, doch unerwartete Umstände verlängerten sie auf über zwei Monate. Er durchquerte gefährliche Gewässer und endlos heiße Wüsten, reiste durch Guatemala, Mexiko und schließlich über die Grenze in die Vereinigten Staaten. Unterwegs fand Javier Unterstützung bei einer Mutter, ihrer Tochter und einem weiteren Mann. Die vier wurden zu einer Art Ersatzfamilie, deren Unterstützung und Freundlichkeit es Javier ermöglichten, seine Reise erfolgreich zu beenden und endlich wieder mit seinen Eltern vereint zu sein. Diese guten Menschen betrachtet Javier bis heute als seine zweite Familie.

„Solito“ ist nicht nur die bewegende Erzählung einer unglaublichen Flucht, sondern auch ein Buch, das auf die harten Realitäten aufmerksam macht, mit denen alle Migranten konfrontiert sind, unabhängig von den Gründen, die sie zur Migration zwingen. Für mich stellte das Buch auch den Glauben an das Gute im Menschen wieder her, denn es zeigt, dass es trotz der vielen Gefahren auch gute Menschen gibt, die anderen helfen. Doch es erinnert auch daran, dass es viele gefährliche Menschen gibt, die unbarmherzig auf diese Verletzlichen Jagd machen. „Solito“ ist ein Buch über Familie, Mut, Menschlichkeit, Entschlossenheit, Durchhaltevermögen und Hoffnung. Ich kann es nur wärmstens empfehlen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere