„Wesentliche Bedürfnisse“ ist ein Künstlerroman - aber noch so vieles mehr. Res Sigusch erzählt von Freundschaft, Liebe, bildender Kunst und von Selbstverwirklichung und der Wichtigkeit, seine Träume zu ...
„Wesentliche Bedürfnisse“ ist ein Künstlerroman - aber noch so vieles mehr. Res Sigusch erzählt von Freundschaft, Liebe, bildender Kunst und von Selbstverwirklichung und der Wichtigkeit, seine Träume zu leben - vor der Kulisse eines geteilten Deutschland im Herbst 1989. Eine genauso fröhliche, wie melancholische Geschichte, die über die Meilensteine der Adoleszenz bis zu denen des Erwachsenenalters erzählt, mit einem Kunstprofessor als Hauptfigur, der uns genauso zum Nachdenken über unser Selbstwertgefühl anregt, wie über Identität.
Der Kunstprofessor Benjamin Leiser ist mit der Gabe gesegnet, seine Studierenden in eine Art Bann zu ziehen, sie vollumfänglich zu begeistern für eine Themtatik und mitzureißen in die Schönheit der Künste. Frei, rebellisch, man könnte sogar sagen trotzig, hat Res Sigusch diesen Charakter gezeichnet, der nicht nur das Herz von Kunstinteressierten für sich gewinnt.
Ein für mich ganz neuer Aspekt war die Identifikation mit einem männlich gelesenen Charakter. Geschlechterrollen rücken in den Hintergrund, geschlechtsneutrale Wertvorstellungen in den Vordergrund. Res Sigusch durchbricht mit Kunstprofessor Benjamin literarisch Grenzen, von denen man sich wünscht, sie wären nie gezogen worden. Es wird deutlich, wir alle konferieren mit den gleichen Sorgen, Zweifeln an uns selbst oder anderen und uns allen ist gemein die Suche und das Streben nach einem besseren Leben, nach Glück. Mit einem Augenzwinkern und auch dem einen oder anderen Moment der Ärgernis, vermittelt uns Kunstprofessor Benjamin, dass wir alle an einem Strang ziehen sollten, in feministischer Allianz hin zu kollektiver Wahrhaftigkeit.
Für mich ist „Wesentliche Bedürfnisse“ eine ganz besondere Geschichte, die sich einen Platz in meinem Herzen nicht ergaunert, sondern redlich verdient hat. Ich habe mich in ihr wiedergefunden, sie hat mich teils traurig, teils wütend, oft fröhlich gestimmt - auf jeden Fall habe ich mitgefühlt, denn ich war voll im Sog der Geschichte und wollte gar nicht wieder raus.
Res Sigusch regt mit diesem Buch zum Umdenken an und ist nicht nur ein Highlight für Kunstinteressierte. Also ist die wichtigste Frage: Res Sigusch - wann geht’s endlich weiter?! Ich für meinen Teil, kann’s kaum erwarten und freue mich auf alles was kommt, - denn eins ist sicher: es wird in intellektueller Weise frech, neu, grandios!
„Die schönste Version“ ist ein Buch, in dem sich viele Frauen gesehen fühlen werden. Es erzählt von dem Druck dem sich Frauen in verschiedenen Altersstufen ausgesetzt sehen, vom Teenager bis zu jungen ...
„Die schönste Version“ ist ein Buch, in dem sich viele Frauen gesehen fühlen werden. Es erzählt von dem Druck dem sich Frauen in verschiedenen Altersstufen ausgesetzt sehen, vom Teenager bis zu jungen Frauen in ihren Zwanzigern, attraktiv sein zu wollen - für die Männerwelt. Sie wollen von selbigen wahrgenommen werden und fühlen sich in einem Konkurrenzkampf mit anderen weiblichen Wesen. Ruth-Maria Thomas führt uns die Ambivalenz dieser Thematik eindrücklich anhand der Geschichte von Jella und Yannick vor Augen.
Die ganz große Liebe scheinen Jella und Yannick ineinander gefunden zu haben. Mit einem ausgeprägten Idealismus möchte sie ihm gefallen und alles richtig machen. Sie kleidet und schminkt sich, wie es ihm gefällt. Sie verhält sich so, wie es seinen Vorstellungen entspricht und nimmt nicht mehr Raum ein, als er ihr zugesteht - sogar in der gemeinsamen Wohnung. Erst mit Abstand und zurück im heimischen Kinderzimmer fällt es Jella wie Schuppen von den Augen - wie konnte ihre Liebe nur zerbrechen? Wie um Himmels Willen konnte Yannick nur die Hände um ihren Hals legen und zudrücken?
Ruth-Maria Thomas thematisiert in dieser Geschichte internalisierte gesellschaftliche Erwartungen und Ängste, die damit einhergehen. Es geht um die Selbstverständlichkeit von Care-Arbeit, die Frauen in sich selbst investieren - alleinig zum Zwecke, Männern gefallen zu wollen und dem damit verbundenen Druck. Kollektive Traumata des Frauwerdens und Frauseins stehen im Zentrum der Geschichte. Und häusliche Gewalt.
Das Buch tut weh, da man sich ein Stück weit darin wiederfindet (zumindest kann ich da für mich selbst sprechen) und es einfach eine Realität widerspiegelt, die man sich nicht gerne eingesteht. Es schmerzt, weil es ein Eingeständnis von gesellschaftlich geprägten Verhaltensweisen ist, dass uns reflektieren lässt und uns unwohl fühlen lässt, möglicherweise sogar ein Stück weit uns schämen lässt für uns selbst - rückblickend, für unsere eigenen Handlungen. „Die schönste Version“ ist aufwühlend und lässt uns mit einem unbehaglichen Gefühl zurück - nicht ohne eine neue Sensibilität geschaffen zu haben für uns selbst und unsere eigenen Verhaltensweisen - danke Ruth-Maria Thomas, dieses Buch haben wir gebraucht!
„James“ ist ein Buch, dass in sehr intelligenter und kreativer Weise in den Streit um Cancel Culture, Vogueness und politische Korrektness eingreift. Der amerikanische Romancier Percival Everett, ist Jahrgang ...
„James“ ist ein Buch, dass in sehr intelligenter und kreativer Weise in den Streit um Cancel Culture, Vogueness und politische Korrektness eingreift. Der amerikanische Romancier Percival Everett, ist Jahrgang 1956 und wurde schon etwas bekannt letztes Jahr mit seinem Roman „Die Bäume“.
Mit „James“ wagt er sich an eine Überschreibung eines der ganz großen Werke der US-Amerikanischen Literatur, nämlich an den Roman von Mark Twain „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“. Aber dieser Roman, heute gelesen, ist gar nicht unproblematisch.
Everett eröffnet uns einen neuen Blickwinkel auf die Geschichte, nämlich den, aus der Sicht des Sklaven Jim. Dieser Roman ist eine einzige große Sprachfantasie - Everett entwickelt diese Idee, dass dieses gesprochene Englisch nur eine Sprache ist für die dummen Weißen. Tatsächlich unterhalten sich die Schwarzen über Feinheiten zwischen proleptischer und tragischer Ironie oder ergehen sich in Träumereien in Gesprächen über Voltaire. Andererseits, das ist jetzt so verkopft, aber das ist auch ein handfester Actionroman, es hat mich ein bisschen erinnert an Quentin Tarantinos „Django Unchained“. Weil dieser James, der eben nicht Jim heißt sondern James, seine Familie beschreibt, die Abenteuer auf dem Mississippi erlebt, einen blutigen Rachefeldzug gegen den Richter, seinen Sklavenhalter unternimmt. Es ist eine Überschreibung eines Romans, aber es ist eben nicht ein Teil der Cancel Culture, sondern als Kontrafaktur eine eigene Geschichte gegen ein Werk, eigentlich die schönste Werbung für Mark Twain, die man sich vorstellen kann. Auch in der deutschen Übersetzung von Nikolaus Stingl, die mir hier überaus gelungen erscheint.
Sprache wird hier als ein strategisches Instrument verwendet, so wie im Tierreich manche Tiere ein bestimmtes Gefieder aufmachen, um zu täuschen. So sprechen die Schwarzen in diesem gebrochenen Englisch, um den Weißen vorzuführen, dass sie dumm und harmlos sind. Untereinander können sie aber im gestochensten Englisch sprechen, um nämlich ihre Gegenstrategie zu entwickeln. Es ist die Idee eines Empowerments, nämlich in dieser Geheimsprache eines vollausgebildeten Englisch, können die Schwarzen untereinander sich so verständigen, dass sie zu Gegenstrategien in der Lage sind. Das ist erzählerisch kein Gegenentwurf zu Mark Twain. Ich liebe, wie er aus Jim diesen James gemacht hat, nämlich ein voll souveränes Subjekt, dass die Handlung vorantreibt und mehr weiß als der junge Huck, für den er immer mitdenkt. Daraus ist gleichzeitig eingebettet, wie wir es von Mark Twain kennen, diese herrliche Mississippi Landschaft, die aber natürlich auch gleichzeitig eine Bedrohungslandschaft ist, nämlich als Schwarzer auf der Flucht, muss er natürlich in ganz anderer Weise um sein Leben bangen. Und die Natur dient gleichzeitig auch als Rückzugsort mit dem großen Mississippi als Grenze zum Norden, wo die Freiheit ihn erwartet.
Es gibt in der Literatur des 19. Jahrhunderts einen großen utopischen Moment, den „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ markiert. Das sind eben die Szenen von Huck und Finn auf dem Floß. Wo plötzlich ein friedliches Zusammenleben von Schwarz und Weiß möglich scheint, wo eben in der Literatur zumindest, diese Rassenschranken überwunden werden. Das greift Percival Everett in diesem Roman sehr kunstvoll auf.
Es ist nicht nur eine Verbeugung vor, sondern auch eine Kritik an Mark Twain und auch an denjenigen, die sich für liberal und aufklärerisch halten und es eigentlich nicht sind. Das kann man z.B. daran sehen, dass Jim hier in diesem Roman James heißt, dass heißt er gibt sich selbst seinen Namen. Und in dem Roman geht es auch darum, dass James darüber nachdenkt, dass die Weißen eben immer das Bestreben haben zu Benennen und zu Beurteilen, selbst in ihrer Selbstkritik wollen sie die Fäden in der Hand behalten. Und das macht Mark Twain ja, er erzählt diese Geschichte. Ganz wesentlich ist in diesem Buch, dass es um das Aufschreiben der eigenen Geschichte geht. Da spielt ein Bleistift eine Rolle, den James bei seiner Flucht sich organisieren lässt von einem anderen versklavten Mann. Und dieser Mann wird dafür ausgepeitscht und getötet, ermordet. Und der Bleistift hat eine enorme Aufladung und Bedeutung. Und die eigene Geschichte aufzuschreiben hat eine enorme Bedeutung. Und es war kein Schwarzer, der Huckleberry Finn geschrieben hat, sondern es war ein Weißer: Mark Twain. Ich glaube, das ist auf sehr kluge Weise immer wieder in diesen Text eingewebt, dass es auch eine handfeste Kritik ist. Es taucht z.B auch immer wieder in der Figur von Huck der Satz auf: „Daran hab ich gar nicht gedacht, dass ich dir Schaden könnte, mit dem was ich tue.“ Und diese Art von Gedankenlosigkeit, die ich von mir selbst auch kenne, das ist etwas was er hier kritisch erzählt. Kritisch in einem sehr produktiven, offenen, durchaus liebenden Verhältnis auch zu Mark Twain. Hier erfolgt kein Vorwurf, dass Mark Twain ein Weißer war. Damit „James“ geschrieben werden konnte, musste es vorher die Mark Twainsche Geschichte geben. Es ist eine produktive Intertextualität.
Wir sollten auch das Motto bedenken, mit dem Mark Twain seine Geschichte beginnt: „Wer in dieser Geschichte ein Motiv sucht wird des Landes verwiesen. Wer eine Handlung sucht, wird mit Geldstrafe belegt und wer eine Moral in dieser Geschichte zu finden versucht, wird erschossen.“ So beginnt Mark Twains Roman.
Ich wünschte mir heute diese Art von Gedankenfreiheit in der Literatur und nicht dieses Rechthaberische.
„James“ ist sicherlich eine Kritik an den Weißen schlechthin, an Mark Twain, aber es ist Gottseidank eine produktive Fortschreibung.
Ich bin eine große Freundin von Literatur, die böse sein kann, die verletzend sein kann, die aufs Blut reitzt und nicht in einer Jugendbuchversion die jeweiligen Befindlichkeiten tätschelt. Ich möchte Bücher haben, die stechen, die verletzen und uns reizen. Das hat Mark Twain geschafft und Percival Everett führt es äußerst gelungen fort.
„Solito“ von Javier Zamora ist eine packende und inspirierende wahre Geschichte, die die gefährliche und erschütternde Reise eines neunjährigen Jungen aus El Salvador in die Vereinigten Staaten schildert. ...
„Solito“ von Javier Zamora ist eine packende und inspirierende wahre Geschichte, die die gefährliche und erschütternde Reise eines neunjährigen Jungen aus El Salvador in die Vereinigten Staaten schildert.
Javier, damals ein verängstigter, skeptischer, aber dennoch hoffnungsvoller Junge, wurde von seinem geliebten und verehrten Großvater auf dieser Reise so weit wie möglich begleitet, bevor dieser den Jungen in die Obhut fremder Menschen übergeben musste. Sein Großvater hatte einen "Coyote" beauftragt und bezahlt, um Javier sicher zu seinen Eltern nach Kalifornien zu bringen. Javier hatte seine Mutter zuletzt gesehen, als er fünf Jahre alt war, und erinnerte sich noch an ihren Geruch und ihre Berührungen. Die Gedanken daran, sie wiederzusehen, gaben ihm die Kraft, weiterzumachen, wenn er am liebsten aufgegeben hätte, und halfen ihm, die vielen Hindernisse auf seinem Weg zu überwinden.
Javiers Reise war oft gefährlich und von Einsamkeit geprägt. Er war der Annahme, die Reise würde etwa zwei Wochen dauern, doch unerwartete Umstände verlängerten sie auf über zwei Monate. Er durchquerte gefährliche Gewässer und endlos heiße Wüsten, reiste durch Guatemala, Mexiko und schließlich über die Grenze in die Vereinigten Staaten. Unterwegs fand Javier Unterstützung bei einer Mutter, ihrer Tochter und einem weiteren Mann. Die vier wurden zu einer Art Ersatzfamilie, deren Unterstützung und Freundlichkeit es Javier ermöglichten, seine Reise erfolgreich zu beenden und endlich wieder mit seinen Eltern vereint zu sein. Diese guten Menschen betrachtet Javier bis heute als seine zweite Familie.
„Solito“ ist nicht nur die bewegende Erzählung einer unglaublichen Flucht, sondern auch ein Buch, das auf die harten Realitäten aufmerksam macht, mit denen alle Migranten konfrontiert sind, unabhängig von den Gründen, die sie zur Migration zwingen. Für mich stellte das Buch auch den Glauben an das Gute im Menschen wieder her, denn es zeigt, dass es trotz der vielen Gefahren auch gute Menschen gibt, die anderen helfen. Doch es erinnert auch daran, dass es viele gefährliche Menschen gibt, die unbarmherzig auf diese Verletzlichen Jagd machen. „Solito“ ist ein Buch über Familie, Mut, Menschlichkeit, Entschlossenheit, Durchhaltevermögen und Hoffnung. Ich kann es nur wärmstens empfehlen.
Julia hat immer Schwierigkeiten gehabt, für sich selbst zu träumen. Stattdessen neigt sie oft dazu, die guten Dinge, die ihr widerfahren, zu meiden und sich selbst zu sabotieren. Es gibt zwei Ereignisse ...
Julia hat immer Schwierigkeiten gehabt, für sich selbst zu träumen. Stattdessen neigt sie oft dazu, die guten Dinge, die ihr widerfahren, zu meiden und sich selbst zu sabotieren. Es gibt zwei Ereignisse in ihrem Leben, bei denen alles aus den Fugen geriet, und als eine zufällige Begegnung mit einer alten Freundin eine Erinnerung an eines dieser Ereignisse auslöst, entfaltet sich die Geschichte, wie Julia ihr perfektes Vorstadtleben mit ihrem Ehemann Mark und ihren beiden Kindern Ben und Alma fand. Das erste Ereignis führte sie unabsichtlich zu ihrem jetzigen Leben, das zweite könnte alles zerstören.
Claire Lombardos Erzählweise ist wie das erneute Anschauen deiner Lieblings-Sitcom; es ist tröstlich und genüsslich, verlangsamt alles in deinem eigenen Leben, um sich an den Dramen eines fiktiven zu laben. Die Charaktere würde ich als bissig beschreiben und auf ihre eigene Art brillant.
„Genau so, wie es immer war“ befasst sich mit Mutterschaft und Identität, Untreue und entfremdeten Familien. Der Roman behandelt geschickt angespannte Beziehungen und einen mütterlichen Instinkt, der seine Trägerin scheinbar verlassen hat. Er scheut sich nicht, die Kämpfe einer neuen Mutter darzustellen, und ebenso wenig den ständigen Kampf, alles richtig zu machen – besonders wenn eine wirklich mütterliche Figur im eigenen Leben gefehlt hat.
Der Roman ist herzhaft und wunderschön in seinen Reflexionen. Ich könnte noch viele weitere Hunderte Seiten von Claire Lombardos dysfunktionalen Familien lesen, die die wachsenden Schmerzen jeder errungenen Lebensetappe durchleben.