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Veröffentlicht am 21.08.2024

Nicht ganz so stark wie der Vorgänger

Verlorene Sterne
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Im Grunde ist dieses Buch die Fortsetzung von „Dort dort“ . Es rahmt den Vorgänger ein, erzählt die ganze Geschichte der Familien Bear Shield und Red Feather und gleichzeitig die Geschichte der Ausrottung ...

Im Grunde ist dieses Buch die Fortsetzung von „Dort dort“ . Es rahmt den Vorgänger ein, erzählt die ganze Geschichte der Familien Bear Shield und Red Feather und gleichzeitig die Geschichte der Ausrottung der Indianer.

Ich musste erst einmal googeln, ob man den Begriff „Indianer“ noch benutzen darf. Er wird in diesem Buch anfangs sehr selbstverständlich benutzt. Tommy Orange passt seine Sprache der Zeit an, in der die Handlung spielt und 1870 waren Indianer noch Indianer, ihr Leben allerdings sehr leidvoll.

Es kommen verschiedene Familienmitglieder zu Wort, die mit tiefer Resignation und auch triefendem Sarkasmus von Vertreibungen, Umerziehungsmaßnahmen, Pogromen und Diskriminierungen erzählen, eine Geschichte von Rassismus im Schnelldurchlauf, finster und erschütternd. Und all diese Geschichten beinhalten auch eine Art Geschichte des Drogenmissbrauchs. Alkohol, Opium oder andere Betäubungsmittel gehören zur indianischen Tradition, werden zu allen Zeiten benutzt, entweder als Trost oder zur Verdrängung aktueller Probleme, aber auch zur Heilung oder zu rituellen Zwecken.

2018 sind wir dann bei Orvil, der nach seinem großen Tanz in „Dort dort“ angeschossen und schwer verletzt im Krankenhaus aufwacht. Tabletten helfen ihm zurück ins Leben und schaffen neue Probleme. Ab da dreht sich alles um Orvils Familie und Freunde, von denen niemand wirklich glücklich ist. Alle haben eine Art Drogenvergangenheit und fühlen sich entwurzelt. Selbst wenn moderne native Americans längst nicht mehr indianische Traditionen leben, scheint etwas an ihnen zu zerren.

Diesen Teil des Buches fand ich schwer zu lesen und etwas zäh. Das Geschehen springt ständig hin und her, es wechseln die Erzähler und die Zeiten. Manchmal erzählt sogar jemand, der im Kapitel davor gerade gestorben ist. Und in Summe passiert nicht wirklich viel. Da ist die Zeit vor dem Tanz und die danach, problematisch ist alles.

Tommi Orange scheibt toll, mit ganz eigener Poesie, viel Atmosphäre aber auch Trauer, durchzogen von finsterem Humor. Er hat ein echtes Anliegen und lenkt Aufmerksamkeit auf die Probleme der native Americans, die heute noch bestehen und nur wenig Beachtung finden. In „Dort dort“ hatte er auch eine originelle Storyline, die hier leider komplett fehlt. „Verlorene Sterne“ ist noch immer ein eindrucksvolles Buch, wirkt neben seinem starken Vorgänger aber ein wenig planlos. Gerne gelesen habe ich es trotzdem.

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Veröffentlicht am 30.07.2024

allerlei Wiener Geschichten

Der Modesalon des Glücks
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Vor ewigen Zeiten habe ich Eva Ibbotson entdeckt und mochte ihre Bücher sehr. Inzwischen gelten sie wohl als Klassiker und werden vom Kampa Verlag neu aufgelegt. Ich war sehr neugierig, wie ich das Lesen ...

Vor ewigen Zeiten habe ich Eva Ibbotson entdeckt und mochte ihre Bücher sehr. Inzwischen gelten sie wohl als Klassiker und werden vom Kampa Verlag neu aufgelegt. Ich war sehr neugierig, wie ich das Lesen jetzt empfinde, wo sich mein Buchgeschmack doch etwas geändert hat.

Schon auf den ersten Seiten wusste ich wieder, was mir damals so gefallen hat. Eva Ibbotson macht alte Zeiten lebendig und zieht einen hinein. Wir sind in Wien 1911 in Susannas Modesalon. Da trifft sich die Wiener Gesellschaft, vielleicht nicht die allerhöchsten Adelskreise, aber schon jeder, der auf sich hält und ein bisschen Geld hat, ein Hauch Boheme, gestandene Bürger und auch die, die mal Geld hatten gehen noch immer zu Susanna. Die Gräfin Metz zum Beispiel zahlt ihre neue Garderobe mit fragwürdigen Antiquitäten und strapaziert Susannas Geduld.

Hier hat jede Figur eine Geschichte und es kommen wirklich viele zu Susanna, die auch selbst einiges durchstehen musste, bevor sie die wurde, die sie jetzt ist. Auch das ist typisch für Ibbotsons Bücher. Sie spinnt viele Geschichten in ihre Geschichte, die alle interessant sind und ein buntes Gesamtbild mit ganz viel Zeitkolorit ergeben.

Vielleicht ist Susanna die Spur zu schön und begabt, die Spur zu gutmütig und einen Hauch zu hilfsbereit. Das sind aber dann tatsächlich die einzigen Plattitüden, die man in diesem Buch findet. Hier geht es um Menschen mit Ecken und Kanten, um Schicksale und Kuriositäten, und um Wien ohne Kitsch oder Praterseligkeit.

Man braucht ein bisschen Geduld für dieses Buch, aber wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen, bekommt man einen wunderbaren historischen Roman, der sich leicht liest, ohne seicht zu werden. Ich habe es sehr gerne gelesen.

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Veröffentlicht am 22.07.2024

Ein sanftes Plädoyer für Achtsamkeit

Ein menschlicher Fehler
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Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mit diesem Buch warm wurde. Der Erzählstil ist nüchtern, genau wie Hae-Su, die vernünftig und sortiert von ihrem Leben, ihren Ängsten und ihrer Traurigkeit berichtet. ...

Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mit diesem Buch warm wurde. Der Erzählstil ist nüchtern, genau wie Hae-Su, die vernünftig und sortiert von ihrem Leben, ihren Ängsten und ihrer Traurigkeit berichtet. Auf den ersten Blick passt das nicht so recht zusammen.

Hae-Su ist seltsam. Sie traut sich nur im Dunklen aus dem Haus. Sie will nicht gesehen werden und mit niemandem sprechen. In ihrer Verzweiflung schreibt sie Briefe an all die Menschen, denen sie etwas zu sagen hätte, ihrem Exmann, ihrer ehemals besten Freundin, ihrem Ex-Arbeitgeber, allerlei Behörden oder auch ihrem Anwalt. Sie schreibt jede Menge Briefe, aber sie schickt sie nicht ab.
Als sie die kleine Se-I kennenlernt, geraten Dinge in Bewegung. Hae-Su hat plötzlich wieder eine Aufgabe. Eine verletzte Katze muss gerettet werden und Se-I scheint auch große Probleme zu haben.

Hier erfährt man in ganz kleinen Portionen, was Hae-Su zugestoßen ist. Eigentlich ist es keine große Sache. Eine unbedachte Bemerkung hatte üble Auswirkungen, nur muss man dann eben damit leben. Das ist nicht leicht, wenn das Gewissen schlägt.
Nach und nach wächst einem Han-Su dann doch ans Herz, wenn sie unbeholfen aber unbeirrt versucht, zu helfen. Das einsame Kind, die verletzte Katze und die traurige Frau bilden eine ganz eigene Gemeinschaft von Ausgestoßenen und zeigen uns, wie wichtig Toleranz und Beharrlichkeit sind.

Dieses Buch ist leise, aber eindringlich, ein sanftes Plädoyer für Achtsamkeit und zeigt, wie kleine Dinge große Wirkung haben können.

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Veröffentlicht am 02.06.2024

Finster, todtraurig und originell

Vor einem großen Walde
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„Märchen muss man bis zum Ende lesen.“ Das hat Sabas Mutter, immer gesagt, als sie noch lebte. Und jetzt steckt Saba selbst mitten in einem Märchen, wo der jüngere Bruder den älteren Bruder sucht, der ...

„Märchen muss man bis zum Ende lesen.“ Das hat Sabas Mutter, immer gesagt, als sie noch lebte. Und jetzt steckt Saba selbst mitten in einem Märchen, wo der jüngere Bruder den älteren Bruder sucht, der auszog den Vater zu suchen.

Wie Hänsel und Gretel den Brotkrumen folgt er den Hinweisen, die sein Bruder hinterlegt hat, durch den finsteren Wald voller Geister und wilder Tiere. In Tiblissi wurde der Zoo zerstört und jetzt ist man nirgendwo mehr sicher. Wilde Tiere und Soldaten sind allüberall.

Eigentlich waren sie vor dem Krieg in Georgien geflohen. Das Geld rechte nicht für die ganze Familie, deshalb ließen sie die Mutter zurück und sahen sie nie wieder. Den Vater hat sein Gewissen zurück ins Kriegsgebiet getrieben und jetzt auch Saba. Man kann auch aus sicherer Entfernung ein Kriegstrauma davontragen.

Saba wird auf seinem gefahrvollen Weg begleitet von Erinnerungen und den Gespenstern der Toten. Die Grenzen verschwimmen ständig. Seine Reise ist ein einziger Alptraum.

Dieses Buch ist finster, todtraurig und originell. Und auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob es mir gefällt, wenn eine Kriegsgeschichte märchenhaft verklärt wird, hat es doch einen morbiden Charme. Es erzählt auf eine höchst innovative Art von den Gräueln eines sinnlosen Krieges.

Shenja Lacher liest das Buch ganz großartig, trifft wunderbar einen Ton, der gleichzeitig georgische Schlitzorigkeit und tiefe Verzweiflung transportiert, leicht und schwer in einem. Es dauert 12 Stunden und 25 Minuten.

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Veröffentlicht am 28.05.2024

Originell und berührend

Seltsame Sally Diamond
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Dieses Buch ist anders, genau wie Sally Diamond.

Sally ist Anfang 40, hatte aber bis dahin kaum Kontakt zu anderen Menschen. Sie sagt von sich selbst, sie wäre emotional defizitär, sie reagiert oft sehr ...

Dieses Buch ist anders, genau wie Sally Diamond.

Sally ist Anfang 40, hatte aber bis dahin kaum Kontakt zu anderen Menschen. Sie sagt von sich selbst, sie wäre emotional defizitär, sie reagiert oft sehr unerwartet, ist gnadenlos ehrlich und nimmt die Menschen beim Wort. Als ihr Vater stirbt, tut sie, was er gesagt hatte: Sie verbrennt ihn mit dem Müll. Mit der Aufmerksamkeit, die das erregt, hat Sally nicht gerechnet.

Es macht großen Spaß, dieses Buch zu lesen. Sally ist rührend bemüht, alles richtig zu machen, gerät aber immer wieder in skurrile Nöte. Sie möchte herausfinden, warum sie so ist wie sie ist und kommt dabei tatsächlich finsteren Geheimnissen auf die Spur. Nach und nach landet man in einem düsteren Thriller, der gleichzeitig eine grausige Familiengeschichte erzählt.

Was kann ein Verbrechen den Menschen antun? So etwas betrifft nicht nur die Opfer, es verändert auch die Leben der Verwandten. Eltern, Geschwister, sogar Onkel und Tanten müssen ein traumatisches Erlebnis verarbeiten, das sie ihr Leben lang begleitet. Das bekommt man hier plastisch auf mehreren Zeitebenen vor Augen geführt.

Das Ende zieht sich ein wenig, aber immerhin bleiben keine Fragen offen. Mit diesem Buch bekommt man einen sehr ungewöhnlichen Thriller, der überrascht, berührt, in Abgründe blickt, aber auch versucht, zu verstehen.

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