Ein sehr wichtiges Buch in unserer Zeit
Das Wesen des Lebens„Erst muss man vorbei an dem Afrikanischen Elefanten und durch eine Tür […] dann haben die Besucher dieses Wesen vor sich, seine vollkommen andersartigen Glieder. […] Seine Größe fesselt die Aufmerksamkeit ...
„Erst muss man vorbei an dem Afrikanischen Elefanten und durch eine Tür […] dann haben die Besucher dieses Wesen vor sich, seine vollkommen andersartigen Glieder. […] Seine Größe fesselt die Aufmerksamkeit der Menschen. Kinder rennen herbei und rufen »Dinosaurier!«, denn diese erwarten sie am sehnsüchtigsten, doch die Eltern zögern. Sie haben den Museumsplan studiert und wissen, dass sich die prähistorischen Tiere im zweiten Stock befinden, nicht hier, weshalb sie sich nach vorne beugen und ihrem Nachwuchs das Namensschild vorlesen: Stellers Sehkuh.“
Schätzungen zufolge sterben täglich 130 bis 150 Arten aus. Jeden Tag verschwinden Lebewesen unwiederbringlich von der Erdoberfläche. Von vielen haben wir niemals etwas gehört, andere wiederum sind allseits bekannt. Und es gibt solche, die es quasi zur Weltbekanntheit gebracht, wie das Mammut oder der Dodo. Einen sehr berührenden Roman über eine ausgestorbene Art, den Riesenalk, habe ich bereits letztes Jahr gelesen und nun durfte ich wieder ein sehr berührendes Buch über ein weiteres sehr faszinierendes, ausgestorbenes Tier lesen und zwar über die Stellersche Sehkuh.
Vier Menschenschicksale, die in irgendeiner Form eng mit der Stellerschen Sehkuh verbunden sind, dürfen wir in Iida Turpeinens Roman „Das Wesen des Lebens“ mitbegleiten. Es fängt im Jahr 1741 an, als der Theologe und Naturforscher Georg Wilhelm Steller mit der russischen Besatzung auf dem Schiff Swjatoi Pjotr zu einer Forschungsreise aufbricht. Das Schiff strandet irgendwann an einer Insel, wo die zusammengeschrumpfte Mannschaft Wesen im Wasser erblickt, die wohl früher von Seereisenden als Meerjungfrauen in die Erzählung eingingen. Steller studiert das Verhalten der Tiere, lässt aber auch eins der von der Mannschaft erlegten Tiere zerlegen, er misst es und legt sein Skelett frei. Dieses kann er allerdings auf der Rückfahrt nicht mitnehmen, wieder in Russland angekommen stirbt er bereits fünf Jahren nach Antreten der Forschungsreise an einer Fieberkrankheit und hinterlässt nur seine Aufzeichnungen.
Etwas mehr als hundert Jahre später übernimmt der finnische Gouverneur Furuhjelm die Kolonie in Alaska. Nachdem alle Rohstoffe und Tiere, die ihres Pelzes wegen gejagt werden, von diesem Teil des amerikanischen Kontinents verschwunden sind, sucht Johan Hampus Furuhjelm krampfhaft nach einem plausiblen Grund für das Fortbestehen der Kolonie und seines Gouverneurspostens und lässt die Ureinwohner Alaskas nach dem Skelett der Stellerschen Sehkuh suchen. Die Inuit werden auf einer kleinen Insel fündig, Alaska wird dennoch kurz darauf von den Amerikanern gekauft. Hampus Furuhjelm vergisst aber nicht, dass er seinem Freund von Nordmann, der Professor für Zoologie an der Kaiserlichen Alexanders-Universität ist, das Skelett der Seekuh versprochen hat und so wird es von ihm zusammengebaut und von seiner Assistentin und begnadeten Zeichnerin Hilda Olson aufs Papier gebannt. An der Kaiserlichen Alexanders-Universität gehört von nun an die Stellersche Seekuh Professor Bonsdorffs Skelettsammlung an. Erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts dürfen die Knochen der Seekuh in das Tierkundemuseum umziehen, die von dem finnischen Konservator und Naturschützer John Grönvall liebevoll konserviert und neu zusammengesetzt werden. Das Skelett kann bis zum heutigen Tag im Naturhistorischem Museum in Helsinki besichtigt werden.
Iida Turpeinen hat mit „Das Wesen des Lebens“ ein wichtigen Roman geschaffen, der meiner Meinung nach von jedem gelesen werden sollte. Sie schafft es in jede ihrer Figuren, die historische Persönlichkeiten sind, Leben einzuhauchen, sodass man das Gefühl hat, alles leibhaft mitzuerleben. Mit dem Fortschreiten der Zeit im Buch zeigt sich auch immer mehr, dass sich die Einstellung der Menschen gegenüber der Lebewesen, die sie umgeben, sehr stark verändert. Während sie im 18. und 19. Jahrhundert als Gut angesehen werden, das ausgebeutet werden darf und dem menschlichen Zweck zu dienen hat, setzen sich Gelehrte und Forscher im 20. Jahrhundert für den Erhalt und Schutz bestimmter Tierarten ein. Sogar diese langsame Entwicklung gelingt es der Autorin wunderbar in ihrem Roman zu bannen. Mit ihrem feinfühligen Schreibstil gelingt es ihr, die grausamsten menschlichen Taten so darzustellen, dass man nicht vor Grauen in Ohmacht fällt und trotzdem den Schmerz und die Trauer empfindet, die die beschriebenen Szenen unweigerlich in einem auslösen.
„Einen Moment lang ist sie da, die alles verschlingende, zarte Trauer, wenn wir dieses Tier betrachten, groß und sanft, für immer fort.“