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Veröffentlicht am 04.09.2024

Veni, vidi, solvi - Ich kam, sah und löste

Das größte Rätsel aller Zeiten
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Willkommen in Creighton Hall, Heimat der Gemeinschaft der Rätselmacher, einer Gruppe liebenswerter Sonderlinge, die eine Passion für die Erstellung von Knobeleien eint. Labyrinthe, Puzzles, Schiebekästchen, ...

Willkommen in Creighton Hall, Heimat der Gemeinschaft der Rätselmacher, einer Gruppe liebenswerter Sonderlinge, die eine Passion für die Erstellung von Knobeleien eint. Labyrinthe, Puzzles, Schiebekästchen, aber natürlich auch die Wortspiele, bei denen man um die Ecke denken muss, um die Lösung zu finden. Meisterin dieses Fachs ist die als Squire bekannte Pippa Allsbrook, verantwortlich für das herausfordernde Kreuzworträtsel in der Wochenendausgabe der Times (wer schon einmal versucht hat, es zu lösen, weiß wovon ich spreche). Und jene Pippa findet eines Nachts auf den Stufen des Hauses eine Hutschachtel, darin einen männlichen Säugling. Seine Herkunft ist auf die Schnelle nicht auszumachen, also nimmt sie sich dessen an, gibt ihm den Namen Clayton und sorgt fortan für ihn.

Jahrzehnte später, 25 Jahre sind vergangen, Clayton lebt noch immer in Creighton Hall und kümmert sich hingebungsvoll um die mittlerweile betagten Rätselmacher. Aber eine fehlt, denn Pippa, seine Ziehmutter ist gestorben. Aber selbst aus dem Grab heraus spürt er ihre Fürsorge, will sie ihn doch dazu ermutigen, den sicheren Kokon zu verlassen und in die Welt hinaus zu ziehen, um das Rätsel seiner Herkunft zu lösen. Und zu diesem Zweck hat sie ihm verschlüsselte Hinweise hinterlassen, die ihm schnitzeljagdmäßig Stück für Stück seinem Ziel entgegenbringen.

Samuel Burrs Debüt hat alles, was einen unterhaltsamen en glischen Roman auszeichnet, den man am liebsten in einem Rutsch lesen möchte: Eine liebenswerte Gemeinschaft, verbunden durch eine gemeinsame Passion. Ein Rätsel, das es zu lösen gilt. Und nicht zuletzt die stimmige Atmosphäre eines britischen Landsitzes.

Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt und erhält so eine ganz besondere Dynamik. Vergangenheit und Gegenwart wechseln sich ab, wobei die Beschreibung der früheren Jahre nicht nur den Hintergrund der gemeinsamen Geschichte der Rätselmacher bildet sondern auch auf das Hier und Heute hinführt, in dem Clayton sich auf die Suche nach seinen Wurzeln begibt. Für ihn gilt es nicht nur, die kryptischen Hinweise zu seiner Herkunft zu entschlüsseln, sondern sich auch in einer Welt zurecht zu finden, die ihm bisher fremd war. Stück für Stück wächst er an den Herausforderungen, entwickelt Selbstvertrauen und wird erwachsen.

Ein wunderbares Buch über Freundschaft jenseits der Altersgrenzen, warmherzig, klug und mit liebenswerten Protagonisten, das nicht zuletzt dazu ermutigt, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Nachtrag: Die eingeschobenen Rätsel fand ich allerdings nicht sonderlich herausfordernd, hätten gerne etwas raffinierter sein dürfen

Veröffentlicht am 22.08.2024

Die Dogs auf dem Weg nach Calais

Winterwölfe
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Die Schlacht von Crécy ist geschlagen, die Truppen König Edwards III. haben über die Franzosen gesiegt. Aber nicht alle von Loveday FitzTalbots „Essex Dogs“ haben überlebt, waren sie anfangs noch zu zehnt, ...

Die Schlacht von Crécy ist geschlagen, die Truppen König Edwards III. haben über die Franzosen gesiegt. Aber nicht alle von Loveday FitzTalbots „Essex Dogs“ haben überlebt, waren sie anfangs noch zu zehnt, hat die Gruppe aus Engländern, Walisern und Schotten mittlerweile ihren engen Zusammenhalt verloren und ist auf sechs Männer zusammengeschrumpft. Und auch der erhoffte Reichtum aus dem Feldzug ist ausgeblieben. Die Zahlmeister des Königs, von denen sie ihren wohlverdienten Lohn erhalten sollten, sind spurlos verschwunden oder tot, und alles, was sie an Wertvollem von den Toten auf dem Schlachtfeld erbeuten, müssen sie auf Anordnung des Königs abliefern. Und da sie nicht mit leeren Händen heimkehren wollen, fügen sie sich dessen Befehl und machen sich auf den Weg Richtung Calais, um die gut gesicherte Hafenstadt einzunehmen. Wie erwartet wird dieser Marsch allerdings kein Spaziergang, sondern entwickelt sich zu einer Mission, die Leib und Leben bedroht und einmal mehr von Entbehrung, Erschöpfung und blutigen Auseinandersetzungen geprägt ist.

Wie bereits in „Essex Dogs“ behält der Historiker Dan Jones die verbürgten Fakten im Blick und nutzt sie als Hintergrund für seine Trilogie, in der es nicht, wie leider viel so oft in historischen Romanen darum geht, höfische Pracht und ritterliche Gefühle zu feiern. Jones konzentriert sich auf die Schicksale derjenigen, die ganz am Ende der Nahrungskette stehen, die aus welchen Gründen auch immer ihr Leben in die Waagschale werfen, um ihr Auskommen zu sichern. Sie werden zu beliebig ersetzbaren Schachfiguren für die Könige und Feldherren. Allerdings sollte man auch deren Abhängigkeit von den Geldgebern nicht außer Acht lassen, die, sofern sie nicht über die nötigen Mittel verfügen, ihre Kriege finanzieren und im Hintergrund nicht nur Intrigen spinnen, sondern auch ihre Profitinteressen nicht aus dem Blick verlieren.

Aus dieser Verbindung von Fakten (am Ende des Buchs gibt es die zehnseitigen Anmerkungen des Historikers plus Literatur-Liste) und Fiktion entsteht so ein unterhaltsamer und fesselnder historischer Roman über eine von kriegerischen Auseinandersetzung geprägte Epoche des dunklen Mittelalters, der die Vorfreude auf den abschließenden Band der Trilogie schürt.

Veröffentlicht am 20.08.2024

Heiße Eisen

Paradise City
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In seinen Thrillern nimmt sich Jens Lapidus immer wieder gesellschaftlich relevanter Themen an, die aktueller nicht sein könnten. So auch in „Paradise City“, seinem neuesten Buch, in dem er ein düsteres ...

In seinen Thrillern nimmt sich Jens Lapidus immer wieder gesellschaftlich relevanter Themen an, die aktueller nicht sein könnten. So auch in „Paradise City“, seinem neuesten Buch, in dem er ein düsteres Bild von Schwedens Zukunft zeichnet. Allerdings könnte aber auch aus naheliegenden Gründen diese dystopische Story in einem x-beliebigen westeuropäischen Land verortet sein, sind doch die Herausforderungen, vor denen Politik und Gesellschaft aktuell stehen, überall nahezu gleich.

Worum geht es? In Stockholm nimmt die Kriminalität rasant zu, was im Wesentlichen der sozialen Ungleichheit und der wachsenden Zahl der Migranten zugeschrieben wird. Bandenkriege, Drogenhandel und Schießereien gehören zum Alltag, die Polizei richtet Sonderzonen ein, was allerdings nicht den gewünschten Effekt hat. Es bilden sich Parallelgesellschaften, die Gewalt eskaliert weiter, also zieht man, um die Bevölkerung zu schützen, hohe Mauern um diese Gebiete, deren Bewohner sie zukünftig nur noch nach intensiven Sicherheitskontrollen verlassen oder betreten dürfen. Zusätzlich werden strafverschärfende Maßnahmen eingeleitet. Nach drei Verurteilungen erhält der Bewohner eines sozialen Brennpunkts den Status eines BOP, was bedeutet, dass er zum einen den Anspruch auf die Sozialleistungen wie z.B. Krankenversicherung verliert, zum anderen nach dem vierten Verstoß lebenslänglich weggesperrt wird.

Eine dieser Sonderzonen ist Järva, Paradise City genannt, und ausgerechnet dort will die Innenministerin eine Wahlkampfveranstaltung abhalten. Natürlich kommt es, wie es kommen muss. Es gibt Tumulte, Handgemenge, Ausschreitungen, Verhaftungen. Schüsse fallen, und die Ministerin wird entführt, nicht zuletzt, weil ihre Personenschützerin sich an die Vorschriften des Regelwerks gehalten und nicht der Situation angemessen reagiert hat. So sehen es zumindest ihre Vorgesetzten.

Es steht außer Frage, dass man alles tun muss, um die Ministerin zu befreien. Fakt ist allerdings, dass die Offiziellen, in diesem Fall Sondereinheit und SÄPO, um Leib und Leben fürchten und sich nicht ins Innere von Paradise City trauen.

Unter den Verhafteten ist auch Emir, ehemaliger Mixed Martial Arts Kämpfer, mittlerweile bereits dreimal verurteilt, nierenkrank und auf regelmäßige Dialyse angewiesen. Um diese zu finanzieren treibt er Schulden ein und begeht mit Isak, seinem Freund aus Kindertagen, in Järva Raubüberfälle, bei denen reichlich Geld zu holen ist. Das war auch an diesem Tag geplant, hat aber in einer Katastrophe geendet. In dem Tumult trifft Emirs Kugel versehentlich den Kopf seines Freundes, Emir selbst wird verhaftet, inhaftiert und wartet nun auf seinen Prozess. Ihn guckt man sich für die Befreiungsaktion aus.

Hat er denn eine Wahl? Nein, zumal damit gedroht wird, Isak die notwendige Behandlung zu verweigern, was einem Todesurteil gleichkommt. Emir würde begnadigt, sein Status revidiert, was auch seine finanziellen Probleme lösen würde. Fünf Tage bleiben bis zur nächsten Dialyse, in diesem Zeitraum muss die Aktion abgeschlossen und die Ministerin befreit sein, andernfalls wird nicht nur Emir an Nierenversagen sterben.

„Paradise City“ ist ein dystopischer Thriller mit jeder Menge Action, der aber zugleich auch einiges an Denkanstößen durch die Fokussierung auf Themen bietet, die aktuell für unsere westlichen Gesellschaften relevant sind. Natürlich bleibt das eine oder andere Klischee nicht aus, vor allem dann, wenn es darum geht, die Verantwortlichen für die Entführung zu entlarven und zur Rechenschaft zu ziehen. Häufige Szenenwechsel sorgen für hohes Tempo und halten die Spannung auf einem konstant hohen Level. Auch wenn die Ähnlichkeiten von Ausgangslage, Setting und Hauptfigur mit John Carpenters Film „Die Klapperschlange“ kaum zu übersehen sind…ich habe Emir gerne auf seiner Mission begleitet, ihm die Daumen für einen erfolgreichen Abschluss gedrückt und mich über seine persönliche Entwicklung gefreut. Daumen hoch!

Veröffentlicht am 08.08.2024

Über Herkunft, Familie und das Verschwinden einer Klasse

Die Arbeiter
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Martin Becker schämt sich seiner Herkunft nicht. Im Gegenteil. Er setzt in seinem autofiktionalen Roman „Die Arbeiter“ seiner Familie, stellvertretend für die Arbeiterklasse, ein Denkmal. Berührend und ...

Martin Becker schämt sich seiner Herkunft nicht. Im Gegenteil. Er setzt in seinem autofiktionalen Roman „Die Arbeiter“ seiner Familie, stellvertretend für die Arbeiterklasse, ein Denkmal. Berührend und voller Emotionen schreibt er über (s)ein Aufwachsen in einer Familie, die zu kämpfen hat.

Der Vater Bergmann, die Mutter Näherin. Vier Kinder, eines davon adoptiert und lebenslang auf Hilfe angewiesen. Das Geld ist knapp, aber vielleicht hat ja die Lottofee irgendwann ein Einsehen. Wenigstens müssen sie keine Miete zahlen, auch wenn die Schulden für das kleine Reihenhaus selbst nach dem Tod noch nicht komplett getilgt sind. Das bisschen Wohlstand auf Pump erkauft. Wenn das Geld reicht, das jährliche kleine Glück. Eine Woche Urlaub am Wattenmeer. Nicht in einem schicken Hotel, sondern in einer schlichten Ferienwohnung. Viel Bier, Kurze und Kippen, billiges Fleisch auf dem Tisch.

Ein Leben, in dem man sich jeden Tag krumm legt, und das in Gestalt eines frühen Todes seinen Tribut fordert: „Das waren wir. Eine Familie aus der Vergangenheit. Aus der Kleinstadt, aus dem Reihenhaus. Das nie ganz uns gehörte. Wie alles. Ohne Geld, mit geringer Lebenserwartung. Arbeit taktet die Tage durch, bis sie stottern, bis sie gezählt sind.“ (S. 11)

Heute würde man diese Lebensumstände prekär nennen, damals waren sie in Arbeiterfamilien fast schon normal. Und so erinnert Becker nicht nur seine eigene Familiengeschichte, sondern erzählt auch von einer Klasse, die im Aussterben begriffen ist. Unter anderem, weil viele der typischen Arbeitsplätze in Bergbau und Schwerindustrie verschwunden sind, aber auch, weil die Automation in vielen Bereichen Einzug gehalten hat.

Martin Beckers Roman ist eine Geschichte des Erinnerns und des Abschiednehmens, voller Liebe und Melancholie. Keine Verklärung von Herkunft und Mangel à la „wir waren zwar arm, aber glücklich“, sondern ein wertfreies Betrachten aus der Distanz. Er versteht, denn auch wenn er qua Bildung den „Aufstieg“ geschafft, die Vergangenheit vordergründig hinter sich gelassen und Frieden mit ihr geschlossen hat, ist es ihm doch bewusst, dass er diese nie ganz abstreifen kann. Sie hat sich tief in ihm eingebrannt hat und wird immer ein Teil von ihm bleiben. Und das ist auch gut so.

Veröffentlicht am 06.08.2024

Aus totgeschwiegener Zeit

Nach uns der Sturm
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Die malaysische Autorin Vanessa Chan, seit ihren Studienjahren in den Vereinigten Staaten ansässig, thematisiert in ihrem ersten Roman „Nach uns der Sturm“ ein dunkles Kapitel der Geschichte ihres Heimatlands. ...

Die malaysische Autorin Vanessa Chan, seit ihren Studienjahren in den Vereinigten Staaten ansässig, thematisiert in ihrem ersten Roman „Nach uns der Sturm“ ein dunkles Kapitel der Geschichte ihres Heimatlands. Sie bricht damit das Schweigen der älteren Generation, die verstummt, wenn die Rede auf die Jahre zwischen 1935 bis1945 kommt. Für ihre Großeltern ein Tabu-Thema, das mit schmerzhaften Erinnerungen, aber offenbar auch mit belastenden Schuldgefühlen besetzt ist. Es sind wenige Informationen, die sie peu à peu von ihrer Großmutter bekommen hat, diese sind die Grundlage für diesen Roman.

Mitte der dreißiger Jahre ist Malaysia noch eine britische Kolonie. Die meisten Menschen haben sich mit den Kolonialherren arrangiert, arbeiten sogar für sie, haben ihren Stolz hinuntergeschluckt und erfüllen ihre Pflicht. Nicht so Cecily, gelangweilte Hausfrau und Mutter, deren Alltag eintönig ist. Sie vermisst die Abwechslung, sucht den Kick und ist deshalb eine leichte Beute für Fujiwara, den hochrangigen japanischen Offizier, mit dem sie bei einem offiziellen Dinner ins Gespräch kommt. Er verschleiert seine wahre Identität, sucht bei dieser Veranstaltung nach jemandem mit Verbindungen zu den Briten, und da kommt ihm Cecily gerade recht, arbeitet doch deren Mann für die Kolonialmacht. Es kommt, wie es kommen muss. Fujiwara politisiert sie mit der „Asien-den-Asiaten“ Parole. Und was macht sie? Sie spioniert ihren Mann aus, versorgt Fujiwara mit geheimen Informationen, die helfen, die japanische Invasion in Malaysia vorzubereiten.

Später, ihr Heimatland ist mittlerweile von den Japanern besetzt, muss sie erkennen, dass sie damals einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, gebärden diese sich doch um ein vielfaches brutaler im Umgang mit ihren Landsleuten. Auch ihre eigene Familie wird nicht verschont. Ihr Mann schuftet seither in einer Fabrik, die älteste Tochter arbeitet in einem Teehaus, der Sohn wird unter unsäglichen Bedingungen in einem Arbeitslager gefangen gehalten, und die gerade einmal Siebenjährige im heimischen Keller versteckt, damit sie nicht in die Prostitution verschleppt wird.

Der Roman teilt sich in zwei Hälften, ein Vorher und ein Nachher. Während der erste Teil sich im Wesentlichen noch auf Cecily konzentriert, stehen im zweiten Teil die Kinder und deren Schicksal im Fokus. Und es sind die ungeschönten, harten Beschreibungen der Gewalt, Schikanen und Demütigungen von Seiten der Besatzer, die kaum auszuhalten sind. Dennoch möchte ich der Autorin dafür danken, dass sie in ihrem Debüt einen kaum beachteten Zeitraum der Geschichte Asiens ausgewählt, darüber geschrieben und damit, zumindest bei mir, einen weißen Fleck auf der Karte getilgt hat. Sehr empfehlenswert!