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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.08.2024

Klassikerin

Ex-Wife
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Dieser Roman kam mir ein bisschen so vor wie die reiche, amerikanische große Schwester von „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun.
Patricia lebt als Ex-Frau unabhängig und berufstätig im New York ...

Dieser Roman kam mir ein bisschen so vor wie die reiche, amerikanische große Schwester von „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun.
Patricia lebt als Ex-Frau unabhängig und berufstätig im New York Ende der 1920er-Jahre. Obwohl sie Halt bei einer guten Freundin und Spaß am New Yorker Nachtleben findet, trauert sie ihrem Mann und dem Leben als Ehefrau hinterher. Schließlich sind die Rollenerwartungen an Frauen klar: Sie soll möglichst gutaussehend, möglichst rein und möglichst verheiratet sein. Patricia versucht allerdings immer wieder sowohl Ablenkung durch Sex als auch eine neue Liebe zu finden. Dabei begegnen ihr neben Männern, die zu guten Freunden werden, auch immer wieder misogyne und gewalttätige Männer, sodass die Strukturen als sexistisch und ungerecht entlarvt werden.
An „Das kunstseidene Mädchen“ hat mich einerseits die Erzählweise erinnert, die mitunter gedankenstromartig ist, dann wieder raffend wie ein Tagebucheintrag. Zudem wird durch die Erzählweise deutlich, dass Patricia einige misogyne Strukturen selbst eher nicht hinterfragt, sondern vor allem versucht, mit deren negativen Folgen klarzukommen. Andererseits gibt es aus meiner Sicht auch inhaltliche Überschneidungen: Patricias Suche nach Glück, die Rolle von Mode und Äußerlichkeiten dabei, ihr ständiges Scheitern und Wiederaufstehen oder ihre Hilfsbereitschaft gegenüber anderen Frauen. Eines hat Patricia jedoch ihrer deutschen kleinen Schwester voraus: Durch Bildung und soziale Herkunft kann sie ihren Lebensunterhalt selbst finanzieren. Sie zeigt, dass Frauen ökonomisch nicht auf Männer angewiesen sein müssen.
Alles in allem habe ich den Roman sehr gerne gelesen - ich kann es Fans vom kunstseidenen Mädchen und/oder Sex and the City empfehlen. Aus meiner Sicht eignet sich der Roman durch die Erzählweise und den kulturhistorischen Hintergrund von Prohibition und der Lebensweise von bürgerlichen Frauen in den 1920ern auch sehr gut zur Klassikerin.

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Veröffentlicht am 18.08.2024

Ein Roman wie ein Gedicht

Als wir Schwäne waren
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Dieser Roman ist definitiv das Highlight meiner Augustbücher. Khani beschreibt das Aufwachsen eines Jungen, der mit seinen Eltern aus dem Iran ins Ruhrgebiet geflohen ist. Er lernt schnell, dass „Du bist ...

Dieser Roman ist definitiv das Highlight meiner Augustbücher. Khani beschreibt das Aufwachsen eines Jungen, der mit seinen Eltern aus dem Iran ins Ruhrgebiet geflohen ist. Er lernt schnell, dass „Du bist hier Gast“ in Deutschland nicht herzlich und freundlich gemeint ist, dass er nie „dazu“ gehören wird, immer Beobachter bleiben wird. Außerdem lernt er, wie er sich in seinem Viertel, in dem es zwar viele Arten von Armut, aber nicht viele Chancen gibt, mit Gewalt Respekt verschaffen kann. Trotzdem spürt er, dass er mit seiner Wut seine eigentlichen Gefühle von Angst und fehlendem Selbstwertgefühl nur überdeckt. Seine Eltern, im Iran Akademiker, in Deutschland plötzlich ohne Abschluss, gehen mit der Fremdheit anders um, nichts davon taugt als Vorbild für die eigene Identität.
Viele Absätze habe ich zweimal gelesen, weil ich sie so dicht, schonungslos und ausdrucksstark fand. Der Roman ist geschrieben wie ein Gedicht - da ist kein Wort zu viel, alles ist präzise beobachtet, jedes Bild ist treffend. Selbst für die Beschreibung von Gewalt findet der Autor immer wieder poetische Bilder, die hinter die harten Fassaden des Jungen und seiner Freunde schauen lassen. Die Stimmung wechselt dabei mühelos von Nachdenklichkeit zu Kälte zu Witz zu Warmherzigkeit und zurück. Insgesamt gefällt mir „Als wir Schwäne waren“ daher sogar noch besser als Khanis Debütroman „Hund Wolf Schakal“.

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Veröffentlicht am 01.08.2024

Atmosphärisch dicht und unbedingt lesenswert

Von Norden rollt ein Donner
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„Im Norden grollt ein Donner“ hat mich von Beginn an durch seine atmosphärische Dichte und seine düstere Stimmung in seinen Bann gezogen. Schon das Anfangszitat von Theodor Storm weist auf Abgründe in ...

„Im Norden grollt ein Donner“ hat mich von Beginn an durch seine atmosphärische Dichte und seine düstere Stimmung in seinen Bann gezogen. Schon das Anfangszitat von Theodor Storm weist auf Abgründe in der Idylle hin. Und dann kündigt sich bereits auf der ersten Seite mit Grollen ein Gewitter an: Das bedeutet für Jannes, den 19-jährigen Schäfer, der sich im Familienbetrieb um die Herde der Heidschnucken kümmert, nicht nur beschwerliche Ausflüge mit den Schafen, sondern auch, dass Jannes beginnt, verdrängte Vergangenheit und unterdrückte Gefühle in der vermeintlichen Heideidylle wahrzunehmen.

Eine spürbare Unruhe geht in Jannes‘ Umfeld um: Die Zukunft des Familienbetriebs ist ungeklärt und der erkrankte Vater Friedrich ist besessen von der Rückkehr der Wölfe in die Heide, was auch das Dorf in Aufruhr versetzt. Dies führt schnell zu politischen Konflikten um die Forderung, die Wölfe mit Gewalt zu bekämpfen, was mich durch die eindringlichen und präzisen Dialoge zwischen den Dorfbewohnern mehr als einmal an die gewaltsame Bekämpfung von allem, was gesellschaftlich neu und zunächst fremd erscheint, erinnert hat. All dies drängt Jannes in die Einsamkeit der Heide, wo er nach und nach hinter die Fassade der Heideidylle schaut, über die im Dorf und der Familie beharrlich geschwiegen wurde.

Die Themen des intergenerationalen Schweigens über die deutsche Vergangenheit und des Wiedererstarkens völkischer und rechtsextremer Ideologie unter dem Deckmantel des sog. „Heimatschutzes“ werden in diesem Roman literarisch so geschickt verarbeitet, dass der Inhalt niemals aufgesetzt wirkt, sondern die Verbindungen zwischen Jannes sowie der Vergangenheit und Gegenwart der Heide immer folgerichtig erscheinen. Auch dadurch wurde der Roman für mich zum spannenden Pageturner, auch wenn ich ihn aufgrund der intensiven, auch bildhaften Sprache sowie der stimmungsvollen Landschaftsbeschreibungen, die immer auch etwas über die Figuren und ihr Umfeld aussagen, eigentlich bewusst langsam gelesen habe. Die literarische Reise in die Abgründe eines idyllischen Scheins und der zugleich kritische Blick auf historische und aktuelle Strömungen in der deutschen Gesellschaft haben mir von der ersten bis zur letzten Seite wirklich sehr gut gefallen. Das ist ein Buch für Menschen, die Literatur lieben!

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Veröffentlicht am 15.07.2024

Jahreshighlight

Die schönste Version
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Was für ein Roman! Sprachlich mühelos intensiv und leicht zugleich, die Handlung packend und nebenbei inhaltlich unfassbar intelligent - kurz: Ich bin restlos überzeugt.

Im Zentrum der Geschichte steht ...

Was für ein Roman! Sprachlich mühelos intensiv und leicht zugleich, die Handlung packend und nebenbei inhaltlich unfassbar intelligent - kurz: Ich bin restlos überzeugt.

Im Zentrum der Geschichte steht die Beziehung zwischen Jella und Yannick, deren erste große Liebe damit endet, dass Yannick Jella fast erwürgt und diese zurück in ihr Kinderzimmer fliehen muss. Hier erinnert sie sich, wie ihr Aufwachsen sie zu diesem Punkt in ihrem Leben geführt hat: die Jugend in einer trostlosen Kleinstadt in der Lausitz, die ersten Erfahrungen, was es bedeutet, männlichem Begehren schutzlos ausgeliefert zu sein, die Rollen, die sie als Frau erfüllen soll, die Unsicherheit über eigene Bedürfnisse, kunstseidenes Verdecken dieser, aber auch Freundinnen, die zu ihr halten. Das klingt zwar nach schwerer, bedrückender Thematik, dennoch liest sich der Roman unglaublich leicht.

Für mich ist dieser Roman bereits jetzt ein moderner Klassiker und hat einen Ehrenplatz neben „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun verdient, auf die es zahlreiche Anspielungen gibt. Ich habe den Roman atemlos gelesen, zugeklappt und erst einmal geweint, so intensiv werden Jellas Gefühle transportiert. Durch die zugespitzte Schilderung von Jellas Leben als Frau, das immer wieder an alltäglichen Beispielen verdeutlicht wird, hat der Roman mir ermöglicht, auch eigene Verhaltensmuster in der Jugend und im Erwachsenenalter zu reflektieren, die zwar nicht so extrem waren, aber dennoch Züge der Muster aufwiesen, denen Jella ausgesetzt ist. Ich bin überzeugt, dass sich fast alle Frauen in den patriarchalen Strukturen, die Thomas so präzise beschreibt, wiedererkennen können. Gleichzeitig zeigt die Erzählerin, wie bedeutsam Solidarität von Freundinnen und Familie ist. Daher: Lest dieses Buch! Alle!

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Veröffentlicht am 07.07.2024

Faszinierend

Das Pfauengemälde
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„Das Pfauengemälde“ von Maria Bidian ist mir zuerst aufgefallen, weil es einem anderen gerade erschienen Roman vom Cover her erstaunlich ähnlich sieht. Nachdem ich angefangen hatte, zu lesen, wusste ich ...

„Das Pfauengemälde“ von Maria Bidian ist mir zuerst aufgefallen, weil es einem anderen gerade erschienen Roman vom Cover her erstaunlich ähnlich sieht. Nachdem ich angefangen hatte, zu lesen, wusste ich aber schnell, dass dies hier ein einzigartiges Debüt ist.

Zwei Jahre nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters beschließt Ana im Sommer nach Rumänien zu fahren, um ihre rumänische Familie zu unterstützen, enteigneten Familienbesitz zurückzubekommen. Im Gegensatz zu ihrer Verwandtschaft, die hauptsächlich an der großen alten Familienvilla interessiert ist, möchte Ana das „Pfauengemälde“ finden, ein Erbstück, von dem ihr Vater oft geredet hatte. Vor Ort taucht sie einerseits in die Geschichte ihrer Familie und ihres Vaters im Kommunismus ein, andererseits gerät sie in die aktuellen Proteste für Demokratie.

Der Roman thematisiert so Fragen von Erinnerung, Identität, Wahrheit und Verantwortung. Bidian gelingt es dabei, diese Fragen in eine fesselnde Handlung einzubetten und diese in einer Weise zu erzählen, die einfühlsam, melancholisch, komisch, politisch und sehr persönlich ist.

Insgesamt war „Das Pfauengemälde“ ein überraschend packendes Debüt, das mich nicht nur sehr gut unterhalten und gefesselt hat, sondern auch sprachlich überzeugt und neugierig auf die Geschichte und aktuelle Politik Rumäniens gemacht hat, mit der ich mich noch nie beschäftigt habe. Eine klare Leseempfehlung für alle, die Anas Reflexionen über ihre rumänische Familie folgen möchten und Lust auf schöne Sprache haben!

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