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Veröffentlicht am 16.09.2024

Der Untergang einer Diktatur

Vaterländer
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Sabin Tambrea legt uns hier ein vielschichtiges Werk vor: Zuerst ist seine Reise aus Rumänien, der alten Heimat und der Großfamilie, nach Deutschland, zur kleinen Familie: Eltern und die große Schwester. ...

Sabin Tambrea legt uns hier ein vielschichtiges Werk vor: Zuerst ist seine Reise aus Rumänien, der alten Heimat und der Großfamilie, nach Deutschland, zur kleinen Familie: Eltern und die große Schwester. Wie der Vater während einer Auslandstournee nach Deutschland floh und nach zwei Jahren die Familienzusammenführung schaffte. Die Schikanen, denen die Mutter in Tîrgu Mures bis zur Ausreise ausgesetzt war, die Repressionen, denen die anderen Mitglieder der Großfamilie ebenfalls ausgesetzt waren. Tambrea lässt nichts aus, was "Vaterlandsverrätern", die das “heiß geliebte Rumänien", nicht zu schätzen wussten. passierte.
Zweitens ist die erste Zeit in Deutschland, wie die Eltern beruflich Fuß fassten, in diversen Orchestern ihren Beruf ausüben konnten und wie die beiden Kinder in Schule, beziehungsweise Kindergarten Anschluss fanden. Alina wird zu einer begnadeten Violinistin während für Sabin die Geige zum ungeliebten Zwangsinstrument wird.
Drittens sind die aufgeschriebenen Memoiren von Sabins Großvater mütterlicherseits aus der langen und schrecklichen Zeit als politischer Gefangener des terroristischen kommunistischen Regimes. Folterungen, Schläge, Aushungern, menschenunwürdige Haftbedingungen, die Securitate ließ nichts aus, um die Gefangenen und deren Familien gefügig zu machen. Genau wie die Nazis galt auch für die Kommunisten Sippenhaft. Wurde ein Mitglied der Familie für schuldig befunden, galt die ganze Familie auch als schuldig und hatte zu leiden. Mir fiel auf, dass der Großvater akribisch die Namen all seiner Mithäftlinge samt deren Herkunftsort und Beruf aufschrieb. Er tat das, falls ihn Angehörige dieser Mithäftlinge jemals kontaktieren sollten, er ihnen gewissenhaft Auskunft geben konnte, was er über deren Verbleib wusste. Das war in dem gefährlichen “dunklen Jahrzehnt”, wie die Zeit Ende der 40er bis Anfang der 60er Jahre in Rumänien hieß, oft die einzige Möglichkeit der Familie, etwas über den Gefangenen zu erfahren.
Viertens beschreibt Sabin Tambrea die Zeit nach der Wende, nach Ceausescus Tod, wie die Großfamilie in Rumänien sich in der neu erlangten Freiheit zurechtfindet, wie Familie Tambrea, also die Eltern und die beiden Kinder, jeden Sommer beladen mit Geschenken nach Rumänien fährt und das Wiedersehen mit allen wärmstens feiert.
Fünfter Teil des Buches beschreibt wie die kurze Zeit der Öffnung Rumäniens nach Westen aber auch im Inneren immer stärker reduziert wurde, wie die Securitate wieder erstarkte, Intellektuelle von der Zensur immer mehr mundtot gemacht wurden. Und Ende der 70er Jahre begann die Lebensmittelknappheit, wie sie nach dem Krieg nie bestanden hatte. 5 Eier, 0,75 l Öl pro Mensch und Monat, 3 mal im Jahr Fleisch: rund um die nationalen Feiertage 01. Mai, Tag der Arbeit, 23 August Tag der Waffenwende gegen Nazi-Deutschland, 30. Dezember Tag der Republik. Das bedeutete aber nicht, dass diese Lebensmittel tatsächlich zur Verfügung standen. Meistens war nicht genug da und die Mehrzahl der Menschen ging leer aus. Der Verkehr war auch streng reguliert. Sonntags durften die Autos nur im Wechsel fahren, einen Sonntag die mit gerader Zahl und nächsten Sonntag die mit ungerader Zahl im Nummernschild fahren. Aber bei 30 l Benzin, die pro Auto monatlich betankbar waren, hielt man meistens das Benzin für Notfälle und blieb sonntags zu Hause. Krankenwagen rückten nur noch für schwangere Frauen und arbeitende Menschen aus. Wenn ein Rentner einen Krankenwagen brauchte, gaben die Angehörigen meistens ein jüngeres Alter an, denn die Aussage war klar: Für Rentner sparen wir uns das Benzin für den Krankenwagen.
Thomas Kunze schrieb ein gut dokumentiertes Buch über den Lebensweg von Nicolae Ceausescu und seiner Frau Elena. Tambrea nimmt Bezug auf dieses Werk. Ich habe es auch gelesen und finde, Tambrea hat den Bezug zu Kunzes Buch sehr gut rübergebracht. Nicolae und ELena Ceausescu schafften es vom Schulabbrecher und Schuster- und Textilweberinlehre (auch nicht beendet) Karriere zu machen. Sie erkannten schnell das Potenzial, das ihnen die RKP bot. Sie erklommen politische Posten innerhalb der Partei ohne je wieder einen Tag zu arbeiten, bis in die höchsten Ebenen der rumänischen Politik. Elena Ceausescu, die nicht die Grundschule abgeschlossen hatte, wurde Doktor der Chemie, Präsidentin der rumänischen Akademie der Wissenschaften und wertete dadurch das Ansehen der Akademie gehörig runter. Ein Staatsbesuch in China und Nordkorea der beiden Genossen und die Idee des Persönlichkeitskultes fasste Fuß und war aus dem öffentlichen Leben in Rumänien nicht mehr wegzudenken.
Tambreas Stil ist jeweils dem Geschehen im Buch angepasst. Der Autor beschreibt die Abfahrt aus Rumänien, die Ankunft in Deutschland und die sommerlichen Besuche in Rumänien nach der Wende aus der Sicht eines Kindes inklusive humorvolle Episoden wie das Hüpfen auf dem Bett oder der Vater der heimlich die Katze im Hof füttert. Ernst und fast schon grausam sind die Memoiren des Großvaters Sava im Gefängnis oder die letzten Jahre der Ceausescu-Diktatur. Über Schläge und Zwangsarbeit oder Strom-, Wasser und Wärmeausfall kann man nicht lachen.
Sabin Tambreas Buch ist sehr empfehlenswert. Er gibt einen sensiblen Überblick, was es heißt, ein Vaterland zu verlassen und in der Fremde sich in ein neues Vaterland einzufinden und heimisch zu fühlen. Das Entstehen und den Untergang der rumänischen Diktatur führt Tambrea dem Leser sehr eindringlich vor Augen.

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Veröffentlicht am 01.09.2024

Selbst ist die Frau

Ein Mann zum Vergraben
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Titel, Klappentext und Titelbild lassen auf einen humorvollen Roman schließen. Aber dem ist
nicht so. Corona hat Gewalt gegen Frauen und Kinder durch den strengen Lockdown
verstärkt. Zwar leider schon ...

Titel, Klappentext und Titelbild lassen auf einen humorvollen Roman schließen. Aber dem ist
nicht so. Corona hat Gewalt gegen Frauen und Kinder durch den strengen Lockdown
verstärkt. Zwar leider schon immer präsent im Leben vieler Familien, tritt sie nun ungehemmt zu Tage, erzwungen durch das enge Beisammensein. „In Großbritannien kommt im Schnitt alle drei Tage eine Frau durch einen Mann zu Tode; beim Großteil der Fälle handelt es sich um den gegenwärtigen oder ehemaligen Lebenspartner. Im Corona-Lockdown verdoppelte sich diese Anzahl: In den ersten drei Wochen kamen vierzehn Frauen um, bei denen ein Mann der Tat verdächtigt oder angeklagt wurde.“ (S. 392)
Kein Wunder, dass einige Frauen sich nun endlich wehren. Es ist pure Notwehr, die die eine
zur gusseisernen Pfanne und die andere zum Gift greifen lässt, um ihre Teenager Tochter vor einer Zwangsheirat mit einem viel älteren Mann zu schützen.. Und die dritte ihr weinendes Baby beschützen muss. Meine Damen, das war längst fällig und die gewalttätigen Ehemänner haben ihren Tod selbst verschuldet..

Die Situation ist absolut verstörend. Aber wie die Frauen die Morde innerlich verarbeiten und
sich gegenseitig beistehen, ist genial. Sie versuchen an alles zu denken, jedes kleinste
Detail vorauszusehen, zu planen, alle Risiken abzudecken, den Fragen und Nachforschungen der Polizei glaubhaft entgegenzusteuern, alles ist meisterhaft geschrieben. Der Zusammenhalt der Frauen reicht über Generationen hinweg: „Ihre Generation hat einfach keinen Respekt mehr vor Älteren. Als wären Sie die ersten Frauen, die je dieses Problem hatten...“ (S. 390) sagt die strenge ältere Nachbarin und schließt sich der Gruppe einfach an.
Das brachliegende Grundstück in der Nachbarschaft der einen Frau wird zum Dreh- und Angelpunkt des Romans und gleichzeitig zum heimlichen Friedhof der zu entsorgenden Ehemännern. Die Frauen beantragen bei der Stadtverwaltung das Recht, das Grundstück in eine kleine öffentliche Grünanlage umzuwandeln, mit Blumen und Sträuchern und einem Birnbaum. Ein Kirschbaum steht ja schon darauf. Der Antrag wird bewilligt und die Damen können – natürlich mit gebührendem Abstand – loslegen mit dem Umgraben für das Blumenbeet. Zum Glück überprüft niemand, wieso dieses Beet solch tief eingegrabenen Untergrund hat. Der Kirschbaum wird auch noch eine Rolle spielen, sozusagen als Vorreiter.
„Der Club der heimlichen Witwen“ ist nun komplett und bedarf hoffentlich keiner Fortsetzung… Aber leider hört die Gewalt gegen Frauen nie auf.

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Veröffentlicht am 29.08.2024

Mit Schwester Holiday gäbe es vielleicht weniger Kirchenaustritte!

Verbrannte Gnade
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Schwester Holiday ist eine katholische Schwester ganz nach meinem Geschmack. Ihr Kloster mit der Eliteschule ist mitten in New Orleans. Allein die Location macht diesen Krimi schon interessant. Als nun ...

Schwester Holiday ist eine katholische Schwester ganz nach meinem Geschmack. Ihr Kloster mit der Eliteschule ist mitten in New Orleans. Allein die Location macht diesen Krimi schon interessant. Als nun das erste Feuer ausbricht und die Polizei im Dunkeln tappt, hilft Schwester Holiday den Ermittlern immer wieder auf die Sprünge, liefert ihnen Indizien und Beweisstücke, die bei der Bestandsaufnahme übersehen wurden.
Interessant ist, es tauchen immer wieder kompromittierende Teile auf, die auf Schwester Holiday selbst als Täterin hinweisen. Der die das Mörder (wir wollen ja niemanden benachteiligen) handelt aus religiös-fanatischen Gründen, geht aber sehr methodisch und überlegt vor. Auch wie immer wieder die Schuld auf Schwester Holiday gelenkt wird, ist verstörend. Der Leser weiß zwar, dass sie nicht Schuld sein kann, weil wir sie ja jeden Augenblick der Handlung begleiten, aber wir fürchten um sie. Die Polizisten Decker und Grogan würden nur zu gern jemanden verhaften, um endlich einen Schuldigen zu haben, ob wahr oder nicht. Die Einzige, die zu ihr hält, ist die Polizistin Riveaux, mit der Holiday während der Untersuchungen zusammen arbeitet. (Und den Grundstein für einen Folgekrimi legt.)
Die Dialoge im Buch sind oft sarkastisch, ironisch, aber immer treffend. Da redet niemand um den heißen Brei herum. Die Vorlieben und Antipathien unter den wenigen Lehrern dieser Schule, ob weltlich oder Ordensfrauen, werden auch klar ausgedrückt. Schwester Honoria kann Schwester Holiday nicht ausstehen, brummt ihr die schwersten Strafarbeiten auf, wie das mühselige Putzen der Hinterglasmalereien. Aber für die junge Nonne ist das keine Strafarbeit, sondern tiefste Meditation und eine Möglichkeit zur inneren Ruhe zu kommen.
Das Coverbild, mit der rauchenden Nonne auf Hinterglasmalerei, ist ein Stilbruch in der katholischen Tradition, aber der Hingucker schlechthin.

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Veröffentlicht am 25.08.2024

Familienbande in Kriegs- und in Friedenszeiten

Und dahinter das Meer
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Hitler und Göring und die deutsche Luftwaffe führten einen gnadenlosen Krieg gegen England. Zahlreiche Städte wurden niedergebrannt. Familien, die es konnten, schickten ihre Kinder in Sicherheit, nach ...

Hitler und Göring und die deutsche Luftwaffe führten einen gnadenlosen Krieg gegen England. Zahlreiche Städte wurden niedergebrannt. Familien, die es konnten, schickten ihre Kinder in Sicherheit, nach Übersee. Leider begnügte sich die deutsche Marine nicht nur Schiffe aus den USA nach Großbritannien zu torpedieren, die ja Truppen, Kriegsausrüstung und Verpflegung für die Armee transportierten, sondern auch Schiffe, die aus England Richtung USA ausliefern, mit Kindern an Bord.
In dem wunderschön geschriebenen Roman wird solch eine Verschickung beschrieben. Aus der Sicht der Eltern, des elfjährigen Mädchens und aus der Sicht der Mitglieder der Gastfamilie in den USA. Dieser ständige Perspektivenwechsel macht deutlich, wie die einzelnen Familienmitglieder, die aus England und aus den USA, mit der neuen Situation zurechtkommen. Am schwersten war es wohl für Beatrix, die plötzlich aus ihrer Familie und ihrem Umkreis herausgerissen wurde. Auf der Überfahrt freundet sie sich mit den anderen Mädchen auf dem Schiff an, nur um sie nach 2 Wochen wieder zu verlassen und von der Gastfamilie abgeholt zu werden. Wieder ein neuer Lebensabschnitt für Beatrix, der fünf Jahre dauern wird.
Die Idee zu dieser Verschickung hat Beatrix Vater, Reginald. Aber um in den Augen seiner Tochter besser dazustehen, erklärt er ihr, das wäre die Idee ihrer Mutter gewesen. Damit treibt er einen Keil zwischen Mutter und Tochter, der erst viele Jahre später heilen wird. Es ist eine spontane Eingebung Reginalds, die weitreichende Folgen haben wird.
Die Lücke, die Beatrix bei ihren Eltern hinterlässt, und Reginalds Lüge treibt auch die Eheleute auseinander. Sie werden beide aktiv aber getrennt in der Kriegshilfe, Lösch- und Räumkommandos der Vater, Buchhalterin in mehreren Geschäften und Krankenwagenfahrerin Millie.
Die amerikanische Gastfamilie besteht aus Vater Ethan, Lehrer, Nancy ist Hausfrau und die treibende Kraft der Familie, die Söhne William und Gerald. Beatrix ist altersmäßig zwischen den Söhnen, sie passt genau in diese Familie, trotz ihrer anfänglichen Angst und Scheu. Und ohne es zu merken, gewichtet sie die Familie um: “Doch Bea hat, ohne es zu ahnen, alles durchgerüttelt. Es ist, als hätte ihre Gegenwart das Gleichgewicht innerhalb der Familie verändert. Selbst Ethan hat sie ins Herz geschlossen.” (S. 63)
Die fünf Jahre, die Beatrix in den Staaten verbringt sind eigentlich ihre formativen Jahre. Als sie als 17jährige zurückkehrt, als junger Mensch, lässt sie einen Teil ihrer Seele in den Staaten. Sie wird William 1951 erklären: “Meine Lieblingsmannschaft? Die Red Sox. Mein Lieblingsort? Maine. Mein Lieblingsessen? Die Muffins von deiner Mutter. Trotzdem bin ich hier. Das ist mein Zuhause. Meine Mutter ist hier. Ich gehöre hierher, und dennoch hänge ich in der Luft, zwischen zwei Welten. Irgendwie komme ich nirgends richtig an.” (S. 194). Doch letzten Endes entscheidet sie sich für Gerald und den USA, denn “das hier fühlt sich wie mein Zuhause an, egal, was ich mir einrede oder wie sehr ich mich bemühe, mir drüben [in England] ein Zuhause zu schaffen.Das was ich bin, bin ich hier geworden.” (S. 351)
Mit viel Feingefühl und Sensibilität beschreibt Spence-Ash die Situation, in der sich alle Beteiligten befinden: Beatrix wird entwurzelt, findet eine neue Heimat in den USA, um nach fünf Jahren gezwungen zu sein, in London wieder eine Heimat zu finden. Reginald und Millie, die zurückgebliebenen Eltern, die an diesem Verlust des einzigen Kindes fast zerbrechen und in den Kriegsanstrengungen ihres Landes aufgehen. Ethan und Nancy, die Gasteltern und die beiden Söhne, die Beatrix von ganzem Herzen willkommen heißen, sich so herzlich bemühen, den Einstieg des Mädchens in das neue Leben so einfach wie möglich zu machen. Die Empathie, die einem auf jeder Seite des Buches entgegenschlägt, ohne je ins Sentimentale abzudriften, die Sensitivität und das Verständnis, die alle Beatrix entgegenbringen, unaufdringlich aber ständig präsent, all dies und die interessante Geschichte, eigentlich schon ein Stück Zeitgeschichte, machen das Buch so lesenswert.

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Veröffentlicht am 04.08.2024

Die Ängste der Vorfahren leben in den folgenden Generationen fort

Sobald wir angekommen sind
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Zweitausend Jahre Anfeindung, Hass, Verfolgung und Pogrome hinterlassen deutliche Spuren in einem Volk. Überlegen wir mal, was allein ein Bürgerkrieg in der Seele eines Volkes für Schaden anrichtet, bis ...

Zweitausend Jahre Anfeindung, Hass, Verfolgung und Pogrome hinterlassen deutliche Spuren in einem Volk. Überlegen wir mal, was allein ein Bürgerkrieg in der Seele eines Volkes für Schaden anrichtet, bis das Volk wieder zusammenfindet und das Trauma überwindet. Sei es der Sezessionskrieg in den USA, der Krieg zwischen Bolschewiki und Weißgardisten in Russland, General Francos Krieg gegen seine Landsleute, Pinochets Krieg in Chile gegen Salvador Allende, oder vor ein paar Jahren der syrische Bürgerkrieg, der bis heute andauert. Die Zäsuren die da entstehen sind gewaltig und schwer zu überwinden.
Aber wenn ein ganzes Volk fast zweitausend Jahre unausgesetzt dem Hass der Mitmenschen ausgesetzt ist, wie kann der einzelne Angehörige dieses Volkes das verkraften? Dieses Volk durfte nie sesshaft werden, es musste ständig bereit sein zu fliehen, oft mit dem nackten Leben nur davonkommen. Ende des 13 Jahrhundert wurden die Juden aus England vertrieben, 1492 wurden sie aus Spanien expulsiert, In anderen Ländern durften sie zwar bleiben, waren aber ständig Pogromen, ausgesetzt und mussten sehr hohe Steuern und Abgaben zahlen, um bleiben zu dürfen, so in den deutschen Ländern, Portugal, Russland, Polen, Frankreich, usw. In den meisten Städten durften sie nur in eigenen Vierteln leben, die bei Nacht abgesperrt wurden und die Juden durften sie bei Todesstrafe nicht verlassen, die Ghettos gehen auf diese Viertel zurück. Sie durften nur einige wenige Berufe ausüben, die meisten der Handwerkstätigkeiten waren ihnen untersagt. ,
Und dann kam das 20. Jahrhundert. Hitlers Schergen starteten eine noch nie dagewesene Kampagne der Judenverfolgung und Deportierung. Zu Millionen wurden sie aus ganz Europa zusammen gekarrt und in Viehwaggons in die KZs und Todesfabriken gebracht.
Die Überlebenden und ihre Kindeskinder haben das bis heute noch nicht überwunden. Leider ist das Thema der Judenverfolgung wieder - oder noch immer - so aktuell wie zur Zeit der ersten Pogrome in Nürnberg 1298 oder in Köln 1349.
Ich wiederhole meine Frage: wie kann ein gesamtes Volk, und jeder einzelne Angehörige dieses Volkes das überwinden?
Micha Lewinsky setzt uns mit Benjamin Oppenheim einen einzelnen Vertreter des jüdischen Volkes vor. Der aktuelle Krieg in Europa beunruhigt ihn, lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Aus einem Impuls heraus und als Folge von zwei Kriegsnachrichten flieht er mit Martina und den Kindern nach Brasilien. Ben Oppenheim ist labil, ängstlich, immer bereit zur Flucht, unentschlossen, ich-zentriert, ständig zaudernd und überlegend, voller Angst, das Falsche zu sagen, um dann doch kein Fettnäpfchen auszulassen. So will er seiner Frau Marina mal eine persönliche Frage stellen, nicht weil er wirklich neugierig wäre, sondern um ihr das Gefühl zu geben, gesehen zu werden. Und nach langen Überlegungen, während Martina darauf wartet, ‘Ben beschloss, aufs Ganze zu gehen. Er musste die Frage stellen, die ihm wirklich auf dem Herzen lag: “Wie findest du meine Drehbuchidee?” ‘ (S. 179). Er schafft es einfach nicht, sich auf andere Menschen wirklich einzustellen, sei es Martina, sei es seine Geliebte Julia oder seine Eltern. Er betrachtet alles nur von seiner Sicht aus und welchen Impakt die Taten und Meinungen der anderen auf ihn haben. Manchmal hätte ich ihn schütteln und ihm zurufen können, er solle mit der Nabelschau aufhören und wirklich auf andere Menschen zugehen, die Nähe zulassen. Er will mit seiner Geliebten Julia Schluss machen, aber als sie einwilligt und keine Einwände hat, sondern lapidar sagt: “Dann machen wir halt Schluss” (S. 209) und auflegt, ist er beleidigt. und schreibt ihr eine lange E-mail, “Julia, ich bin traurig und enttäuscht…” (S. 210), weil sie ihn als Trostpflaster instrumentalisiert hatte.
Ben ist ewig auf der Flucht, vor politischen Regressionen, dabei lebt er in der Schweiz, eines der sichersten Länder Europas und vor seinen Mitmenschen. Er steht sich selbst im Weg, kann einen einmal gefassten Entschluss nicht halten, überlegt, verwirft, ändert, tritt die Flucht nach vorn oder nach hinten an. Aber er kann nicht auf der Stelle bleiben.
Sein Sohn Moritz hat nächtliche Alpträume mit Monstern, obwohl er nie welche gesehen hat oder je in bedrohliche Situationen geraten war. Ich frage mich, was von den vielen Phobien des Vaters da auf den Sohn vererbt wurde? Bens Verhalten verstört Moritz: ’ “Ich habe Angst", sagte Moritz. Ben strich ihm übers Haar. “Du hattest doch immer schon Angst.” “Aber nur vor Monstern”, sagte Moritz. “Jetzt habe ich auch Angst vor Menschen.” ‘ (S. 262).
Als der Atomkrieg ausbleibt, beenden Ben und Martina mit den Kindern das brasilianische Abenteuer und kehren in die Schweiz zurück.
Bens Faszination für Stefan Zweig, über den er ein Drehbuch schreiben wollte, findet in Petropolis, in Zweigs Haus sein Ende: “Was suchte er hier eigentlich” (S. 276)
Salcia Landmann hat ein unübertroffenes Buch über den jüdischen Humor geschrieben und darin auch erklärt, wie und welche tiefen Wurzeln dieser besondere Humor hat. Lewinsky wirft ab und zu Pointen und Bemerkungen ins Buch, die Paradebeispiele des jüdischen Witzes sind: ‘Ein Museumswärter kam auf Ben zu. Er schien etwas sagen zu wollen. Vielleicht eine Botschaft des Hausherren? Ein letztes Geheimnis? Er sagte: “É proibido fumar!” ‘ (S. 276)

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