Platzhalter für Profilbild

Annis22

Lesejury Profi
offline

Annis22 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Annis22 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.09.2024

Moralische Abgründe

Trophäe
0

Das Spitzmaulnashorn fehlt noch in Hunters Trophäensammlung, dann hat er die “Big Five” voll. Also ersteigert er die Lizenz und reist nach Afrika. Nachdem Wilderer ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht ...

Das Spitzmaulnashorn fehlt noch in Hunters Trophäensammlung, dann hat er die “Big Five” voll. Also ersteigert er die Lizenz und reist nach Afrika. Nachdem Wilderer ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht haben, beobachtet Hunter wütend ein indigenes Volk. Und dann erzählt sein Jagdleiter ihm, dass es da eine noch exklusivere Lizenz gibt. Ob er schon einmal von den “Big Six” gehört hat?

“Trophäe” ist ein ganz außergewöhnlicher Roman, der einen tief in seinen Bann zieht. Zunächst lernen wir den Protagonisten kennen: Hunter White, weiß, reich, männlich, der Prototyp eines Großwildjägers. Auf den ersten Blick unsympathisch, schafft es die Autorin Gaea Schoeters doch, ihn in all seinen menschlichen Facetten darzustellen und so sympathisiert man immer mehr mit ihm.
Hunters Gedanken sind es auch, die die “Pro”-Argumente für die Großwildjagd in Afrika liefern, die auf den ersten Blick auch ganz nachvollziehbar wirken.
Und dann kommt der Cut, der große moralische Konflikt: Hunter bekommt das Angebot, gegen Bezahlung Jagd auf den Anhänger eines indigenen Volkes zu machen.
Hier fängt man gemeinsam mit dem Protagonisten zu zweifeln an: Denn wenn die Trophäenjagd auf Tiere Naturschutz bedeutet, bedeutet die Menschenjagd dann nicht Entwicklungshilfe? Wo zieht man die Grenze? Warum ist das eine legitim und das andere absolut absurd und unvorstellbar?

Großartig erzählt, begleiten wir Hunter auf seiner Reise. Mit einer enorm bildgewaltigen Sprache werden wir auf diesen fremden Kontinent entführt, lernen so viel - nicht nur über die Jagd, sondern über die Politik des Landes, über die Flora und Fauna, über die bemerkenswerten Naturvölker. Man merkt, wie unglaublich viel Recherchearbeit Schroeters in ihren Roman gesteckt hat und kann so viel aus diesem mitnehmen.
Gleichzeitig schafft sie es, einen von Seite eins an in einen Sog zu ziehen, aus dem man erst nach Beenden des Buches entkommt.

“Trophäe” ist ein kluger Roman, welcher zum Nachdenken anregt und einem so vieles lehrt. Ich werde wohl ihn wohl noch lange im Gedächtnis behalten und gerne weiterempfehlen. ⭐️5/5⭐️

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.08.2024

Sorgt für Verständnis

Dschinns
0

1999: Hüseyin hat fast dreißig Jahre lang in Deutschland gearbeitet und sich nun seinen Lebenstraum erfüllt: eine Eigentumswohnung in Istanbul.

Doch als er in der fertig eingerichteten Wohnung steht, ...

1999: Hüseyin hat fast dreißig Jahre lang in Deutschland gearbeitet und sich nun seinen Lebenstraum erfüllt: eine Eigentumswohnung in Istanbul.

Doch als er in der fertig eingerichteten Wohnung steht, erleidet er einen Herzinfarkt und stirbt.

Als seine Familie aus Deutschland zur Beerdigung anreist, kommen jahrzehntelang unterdrückte Gefühle hoch.


Mit “Dschinns” hat Fatma Aydemir einen großartigen und vielschichtigen Familienroman geschaffen. Beginnend mit der Perspektive des Vaters inklusive dessen Herzinfarkt, lässt sie uns nach und nach die Sicht der anderen Familienmitglieder erfahren; erst die der vier erwachsenen Kinder, abschließend die der Mutter. Dabei wechselt sich die Gegenwart mit der Vergangenheit ab und es zeigt sich schnell, dass jeder auf seinem jeweiligen Lebensweg mit eigenen Geistern zu kämpfen hat. Zusammengenommen entsteht so das eindrucksvolle Porträt einer Familie, die den Zusammenhalt verloren hat.

Allein das fein beobachtete Zusammenspiel zwischen Geschwistern, Eltern, Söhnen und Töchtern würde schon für einen tiefsinnigen Roman reichen, hinzu kommt aber noch der Migrationshintergrund der Figuren. Aydemir zeigt auf, mit welchen Konflikten die “Gastarbeitergeneration” und deren Kinder zu leben hat: Die Suche nach Heimat, Zugehörigkeit und Akzeptanz, ein Nicht-Auffallen-Wollen, der Traum von einem besseren Leben, gleichzeitig das Bewahren von kulturellen Traditionen - kurz gesagt: ein ständiges Zerrissenheitsgefühl. Dazu kommt der dauernde Rassismus, viele schreckliche Situationen und Ängste, die für Migrantinnen Alltag sind.

Und zu guter Letzt hat der Plot das Buch für mich so besonders gemacht: Erst im Kapitel der Mutter, Emine, wird das letzte große Geheimnis der Familie gelüftet, welches vorher schon oft angedeutet wurde, aber für mich absolut überraschend kam. Erst im Nachhinein versteht man so vieles von dem Vorangegangenen.


Neben dem großartigen Inhalt besticht die Autorin durch ihren lebendigen und mitreißenden Schreibstil, durch einen unfassbar wohlüberlegten Aufbau und die Erzählform. Ihre Charakterdarstellungen sind authentisch, empathisch und gut beobachtet. Der Roman war wirklich ein Highlight für mich, er regt zum Nachdenken an und sorgt für gegenseitiges Verständnis. Daher empfehle ich ihn auch wärmstens an jede
n weiter. ⭐️5/5⭐️

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 16.08.2024

Besonderer Roman über Kunst und das Erwachsenwerden

Der Distelfink
0

Theo ist 13 Jahre alt, als seine Mutter bei einer Explosion in einem New Yorker Museum umkommt. Außerdem gelangt dabei verbotenerweise ein Kunstwerk in seinen Besitz, der Distelfink.
Während Theo immer ...

Theo ist 13 Jahre alt, als seine Mutter bei einer Explosion in einem New Yorker Museum umkommt. Außerdem gelangt dabei verbotenerweise ein Kunstwerk in seinen Besitz, der Distelfink.
Während Theo immer weiter in einen Strudel aus Trauer, Lügen, falschen Entscheidungen gerät, scheint das Gemälde die einzige Konstante in seinem Leben zu bleiben, ihn auf merkwürdige Weise zu faszinieren.

Aufgrund seines gewaltigen Umfangs (über 1000 Seiten) lag “Der Distelfink” lange ungelesen in meinem Regal. Dies war aber absolut unbegründet, denn schon nach kurzer Zeit hat mich das Buch - ebenso wie das Gemälde es bei Theo getan hat - in seinen Bann gezogen.
Gerade durch die hohe Seitenzahl lernen wir die Charaktere außerordentlich gut kennen, es ist, als seien sie Personen aus dem realen Leben und keine Fiktion.
Dem Buch zu folgen, war wie das Anschauen einer guten Serie: Nach jedem Kapitel wollte ich “nur noch eine Folge schauen”, wollte noch tiefer in die Geschichte eintauchen.
Wir folgen Theo beim Erwachsenwerden und doch ist es kein reiner Coming-of-Age-Roman. Es geht um Freundschaft, Liebe, um Kunst, um Richtig und Falsch, um Verlust und Verrat.

Donna Tartt hat einen ruhigen und sachlichen Erzählton und schafft es trotzdem, ihre Leserinnen zu berühren - sowohl emotional als auch intellektuell. Viele Tempowechsel sorgen für die nötige Spannung; in der einen Szene werden detailliert Kleinigkeiten beschrieben, in der nächsten überschlagen sich die Ereignisse.
Und doch ist es nicht die Geschichte an sich, die mich überzeugt hat, sondern hauptsächlich die Charaktere, die ich gerne auch noch auf 1000 weiteren Seiten begleitet hätte.

Kurzum: “Der Distelfink” hat mich komplett in seinen Bann gezogen und ich kann es allen Liebhaber
innen von ruhigerer Literatur ans Herz legen. ⭐️5/5⭐️

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 08.08.2024

Stimmungsvoller Roman

Ein Lied über der Stadt
0

Franken, 1929: Die junge Luise hat nur einen Traum: Sie möchte das Fliegen lernen.
Allen Widerständen zum Trotz geht sie nach München und wird Pilotin.
Sechs Jahre später kehrt sie zurück und muss feststellen, ...

Franken, 1929: Die junge Luise hat nur einen Traum: Sie möchte das Fliegen lernen.
Allen Widerständen zum Trotz geht sie nach München und wird Pilotin.
Sechs Jahre später kehrt sie zurück und muss feststellen, dass sich durch die politische Lage alles in ihrem Dörfchen verändert hat. Und nicht nur das: Ihr Vater und ihr Jugendfreund Georg sind in Gefahr, denn sie rebellieren gegen die Nationalsozialisten.

Über Ewald Arenz’ Schreibstil muss ich wohl nicht mehr viel sagen, außer: er brilliert auch in diesem Roman wieder einmal. Er ist wortgewandt und ansprechend, trotzdem nicht hochgestochen oder unnatürlich und einfach sehr angenehm zu lesen.
Der Inhalt ist interessant, wenn auch nicht unbedingt etwas Neues und teils vorhersehbar (bis auf das unglaubliche spannende Ende), aber das hat dem Lesevergnügen keinen Abbruch getan, denn: Arenz ist für mich der Meister der Stimmungen und das beweist er mit diesem Roman wieder einmal mehr als deutlich. Luises anfänglicher Wunsch nach dem Fliegenlernen ist ebenso greifbar wie die Bedrückung durch die politische Lage im zweiten Teil und die Freiheit, die Luise im Gegensatz dazu beim Fliegen empfindet.
Auch hat der Autor es wieder einmal geschafft, mich in eine andere Epoche zu versetzen und mir den damaligen Zeitgeist näherzubringen.

“Ein Lied über der Stadt” ist nicht einfach ein weiterer Roman, der im Nationalsozialismus spielt. Er ist so klug geschrieben, dass man die beklemmende Stimmung der damaligen Zeit geradezu spürt. Im krassen Gegensatz dazu stehen Mut, Liebe und Güte der Protagonisten. Für mich definitiv eins der besten Bücher des Autors. ⭐️5/5⭐️

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 17.07.2024

Spannendes Psychogramm einer Mutter

Kleine Monster
0

Pia und Jakob werden ins Schulbüro gerufen: Ihr siebenjähriger Sohn soll einer Mitschülerin gegenüber sexuell übergriffig geworden sein?
Während Jakob dem Mädchen glaubt, hat Pia Zweifel. Sie möchte die ...

Pia und Jakob werden ins Schulbüro gerufen: Ihr siebenjähriger Sohn soll einer Mitschülerin gegenüber sexuell übergriffig geworden sein?
Während Jakob dem Mädchen glaubt, hat Pia Zweifel. Sie möchte die Wahrheit von ihrem Sohn hören, versucht es mit allen Mitteln. Doch der schweigt.
Und während sie sich mit dem Problem auseinandersetzt, kommt mehr und mehr ihr eigenes Kindheitstrauma zutage. Denn sie weiß sehr wohl, dass Kinder “kleine Monster” sein können.

Jessica Lind erschafft mit ihrem neuesten Roman ein fesselndes Familiendrama. Sie legt das Hauptaugenmerk dabei auf Pias Psyche.
Kurze, szenische Kapitel wechseln zwischen der Gegenwart und ihrer eigenen traumatischen Vergangenheit, erzeugen dabei ein hohes Erzähltempo und bedrückende Spannung.
In “Kleine Monster” geht es um die Ambivalenz des Elternseins, um verschiedene Erziehungsmethoden, um Trauer, Schuld und Verdrängen. Auf 250 Seiten entsteht hier eine enorme Themendichte und doch wirkt es nicht überladen.

In vielen Gedanken um Pias Sohn konnte ich mich selbst wiederfinden: die Versuche, alles richtig und besser zu machen als die eigene Mutter; die Verzweiflung, wenn man sein Ziel nicht erreicht, weil das Kind eben ein eigener Mensch ist.
Auch die Vergangenheitskapitel sind sehr spannend: aus einer Kindheitsidylle wird schon bald ein Albtraum und man stellt sich mehr und mehr die Frage: Wer trägt die Schuld? Kann man überhaupt jemanden beschuldigen? Und gibt es von Natur aus böse Kinder?
Was steckt eigentlich hinter den Fassaden von vermeintlich perfekten Familien?

Der einzige Kritikpunkt ist für mich das recht offene Ende. Dennoch ist “Kleine Monster” für mich definitiv eines meiner Jahreshighlights und bekommt ⭐️5/5⭐️.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere