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Veröffentlicht am 24.11.2024

Vielschichtiger Roman über ein wichtiges Thema

Antichristie
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Die Aufarbeitung der kolonialistischen Vergangenheit ist in Großbritannien bis heute eher Mangelware – auch in der Literatur ist dieses Thema, vor allem wenn es um Romane von etablierten Autorinnen und ...

Die Aufarbeitung der kolonialistischen Vergangenheit ist in Großbritannien bis heute eher Mangelware – auch in der Literatur ist dieses Thema, vor allem wenn es um Romane von etablierten Autorinnen und Autoren geht, beschämend unterrepräsentiert. Diesen Mangel füllen mitunter ausländische Schriftsteller aus Indien oder Südafrika. Mithu Sanyal ist es zu verdanken, dass es 2024 mit ihrem zweiten Roman „Antichristie“ zumindest einen erwähnenswerten deutschsprachigen Titel zum Kolonialismus und seinen Folgen gibt.
Als Zeitreisende bewegt sich die Protagonistin Durga durch zwei Welten: In der Gegenwart wird sie mit Themen wie Cancel Culture und Rassismus konfrontiert, wobei der Tod der Queen die Ausgangsbasis des Geschehens bildet. In den Tagen der offiziellen Trauer ist Durga damit beauftragt, für eine Fernsehserie eine alternative Version von Hercule Poirot – dem legendären Ermittler von Agatha Christie – zu entwickeln, was unmittelbar zu tiefgreifenden Debatten über kulturelle Aneignung, Identität und Diversität führt. Und auch der Tod von Queen Elizabeth II. wird zum Anlass genommen, deren Rolle im Kolonialismus zu hinterfragen.
In der Vergangenheit taucht Durga ins Londoner India House des frühen 20. Jahrhunderts ein, wo sich historische Figuren wie Vinayak Damodar Savarkar versammeln, um mit Bombenbau und Waffenschmuggel für Indiens Unabhängigkeit zu kämpfen.
Stets von einem unterschwelligen Humor begleitet, präsentiert sich Sanyals Text als eine dynamische Abfolge steiler Thesen und provokanter Aussagen, die nicht nur historische Tatsachen hinterfragen, sondern ihnen oft auch ironisch eine neue Bedeutung verleihen; ebenso werden auch historische Figuren mitunter ziemlich entfremdet. In teilweise ellenlangen Dialogen kommt es zu scharfen Auseinandersetzungen, in denen politische und ideologische Gegensätze aufeinandertreffen. Dabei gelingt es der Autorin, das Wesen des modernen Menschen als zutiefst zwiegespalten zu zeigen: selbstbewusst in seinen Ansichten, jedoch zunehmend verunsichert durch gesellschaftliche Normen und die Frage, wie weit Meinungsfreiheit reichen darf. Dieses psychologische Porträt spiegelt die zeitgenössischen Spannungen wider, die das Denken und Handeln in einer von Cancel Culture und wachsender Diversität geprägten Welt beeinflussen.
Dass die Autorin bei dieser Vielzahl an unterschiedlichen Themen und Auslegungsarten nicht immer zu finalen Schlussfolgerungen kommen kann, ist kaum verwunderlich. So mal in den meisten Fällen unterschiedliche Sichtweisen durchaus nachvollziehbar sind. So entzieht sich auch ihre fiktive Version von Savarkar einer endgültigen Beurteilung, was im Anbetracht dessen, dass seine Reputation auch in der Realität nicht zweifelsfrei geklärt ist, nur vernünftig ist.
Die Vielschichtigkeit des Romans ist beachtlich. Sanyal geht mit großer Ambition an ihr Projekt heran und verwebt zahlreiche Ebenen – von gesellschaftspolitischen Debatten über historische Ereignisse bis hin zu Fragen der Identität und kulturellen Verantwortung. Aufgrund dieser Komplexität ist eine einmalige Lektüre kaum ausreichend, um alle Facetten angemessen würdigen zu können. Als ein Spiegel aktueller Diskurse und einer gleichzeitig tiefgründigen Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit darf „Antichristie“ aber in jedem Fall als ein mutiges literarisches Experiment angesehen werden, das Historienroman und Gesellschaftskritik auf einzigartige Weise verbindet.

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Veröffentlicht am 22.11.2024

Erst weiß, dann grün, dann gelb

Über allen Bergen
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Valentine Gobys Roman „Über allen Bergen“ hat mir etwas beschert, was ich in diesem Jahr selten erleben durfte: das Gefühl, einen echten literarischen Glücksgriff in den Händen zu halten. Der Fluchtroman ...

Valentine Gobys Roman „Über allen Bergen“ hat mir etwas beschert, was ich in diesem Jahr selten erleben durfte: das Gefühl, einen echten literarischen Glücksgriff in den Händen zu halten. Der Fluchtroman über den jungen Juden Vadim aus Paris, der in den Bergen eine Zuflucht findet, entwickelt rasch eine eigene Dynamik und hebt sich deutlich von der Vielzahl zeitgenössischer Romane über den Zweiten Weltkrieg ab, die nur selten etwas Neues bieten.
Die Brillanz von Gobys Werk liegt in der klugen Erzählperspektive: Der Krieg bleibt ein fernes Echo, während die eigentliche Handlung sich in einer anderen Welt abspielt – einer Welt, die von Natur, Gemeinschaft und der Suche nach Identität geprägt ist. Vadim wird von seiner Mutter in die Berge geschickt, um den wachsenden Schikanen gegen Juden zu entkommen. Dort soll er als „Vincent“ ein neues Leben beginnen, in der Hoffnung, dass er fernab der Stadt sicher ist.
Anfangs schüchtern und unsicher, findet Vincent durch die Herzlichkeit seiner neuen Familie und der Dorfbewohner langsam Anschluss. Über mehrere Jahreszeiten hinweg – vom Winter bis zum Ende des Sommers – taucht der Leser in das einfache, aber muntere Leben in den Bergen ein. Vincent lernt Kühe zu melken, erlebt die Geburt von Kälbern und saugt wie ein Schwamm die Wunder der Natur auf. Besonders auffällig ist seine Sensibilität für Farben: Während der Winter für ihn in reines Weiß getaucht ist, empfindet er den Frühling als Grün und den Sommer als Gelb. Diese Farbempfindung erinnert an den von Goby erwähnten Maler Kandinsky, der in seinen Bildern unter anderem die Zugehörigkeit von Farben an bestimmte Formen nachzuweisen versuchte. Für Vincent haben ebenso auch die Naturspiele ihre ganz eigenen Farbwerte. Für den von Asthma geplagten Jungen wird die Welt abseits der Zivilisation zu einem Ort der Heilung – ein Ort, an dem die Zeit stillzustehen scheint, während er innerlich und äußerlich heranwächst. Gobys Stärke liegt in der einfühlsamen Darstellung von Vincents Reifeprozess, der sich in der Verbindung mit der Natur und der Gemeinschaft vollzieht. Doch nicht nur Vincent, auch die Menschen um ihn herum werden mit viel Wärme und Authentizität gezeichnet. Besonders glänzt der Roman jedoch durch die detailreiche Schilderung des Lebens in den Bergen. Mit einer fast dokumentarischen Präzision beschreibt Goby die bäuerlichen Arbeiten und den Alltag der Dorfbewohner, als wäre sie selbst Teil dieser Welt gewesen.
Stilistisch besticht „Über allen Bergen“ durch einen ruhigen, melodiösen Schreibstil. Die Übersetzerin Marlene Frucht hat diese Leichtigkeit auf beachtliche Weise ins Deutsche übertragen, ohne dabei die unterschwellige Poesie zu verlieren. Die Sätze fließen sanft, wie Blätter, die im Wind tanzen.
Obwohl ich Gegenwartsromane über den Zweiten Weltkrieg oft überdrüssig bin, schafft Goby es, diesem ausgeloteten Genre neue Facetten abzugewinnen. Indem sie den Krieg bewusst in den Hintergrund rückt, eröffnet sie Raum für die kleinen, alltäglichen Dinge des damaligen Lebens, die in vielen anderen Werken unbeachtet bleiben.
Ein kleiner Wermutstropfen bleibt jedoch: Mit knapp 340 Seiten wirkt der Roman stellenweise etwas zu langatmig. Für eine so leise und atmosphärische Erzählung hätte sich eine kürzere Form möglicherweise besser geeignet. Zudem bleibt der Roman, trotz seiner Feinfühligkeit, am Ende doch ein Werk seines Genres und kann sich nicht ganz mit den großen Meisterwerken der Kriegsromane messen.
„Über allen Bergen“ ist dennoch ein kleines literarisches Schmuckstück – ein Nebenwerk von unerwarteter Eleganz und Tiefe. Es erzählt eine Geschichte, die den Leser mit ihrer Wärme und Melancholie fesselt, und seine Veröffentlichung als stiller, poetischer Beitrag zum Genre ist allemal gerechtfertigt.

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Veröffentlicht am 29.08.2024

Zwei auf Wanderschaft

Zwei in einem Leben
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David Nicholls ist mit seinen Romanen, auch wenn sie vorrangig das Ziel der Unterhaltung verfolgen, immer wieder eine gute Wahl, denn sein Gespür für Charaktere und Dialogwitz machten bereits Bücher wie ...

David Nicholls ist mit seinen Romanen, auch wenn sie vorrangig das Ziel der Unterhaltung verfolgen, immer wieder eine gute Wahl, denn sein Gespür für Charaktere und Dialogwitz machten bereits Bücher wie "Zwei an einem Tag" oder "Drei auf Reisen" zu einem besonderen Leseerlebnis.
Bei Fischer Krüger erscheint nun sein neuer Roman "Zwei in einem Leben", wobei bereits beim deutschsprachigen Titel abzusehen ist, dass der Versuch unternommen wird, an frühere Erfolge anzuknüpfen. Die Konstruktion der Geschichte ist typisch für Nicholls, alles dreht sich um zwei Hauptcharaktere, eine Frau und einen Mann, Marnie und Michael. Beide befinden sich in ihren mittleren Jahren und durchleben derzeit eine Art Krise. Marnie, die als selbstständige Lektorin arbeitet, ist seit der Trennung von ihrem Ehemann vereinsamt und verbarrikadiert sich zunehmend in ihrer kleinen Wohnung, trifft kaum noch Freunde oder Bekannte, und erwischt sich hin und wieder dabei, wie sie mit ihren Einrichtungsgegenständen spricht. Ihre Lebenssituation wird wunderbar spezifisch geschildert, es werden nicht nur banale Klischees formuliert, mehr noch wird ihre Einsamkeit mit vielen zutreffenden Details ausgeschmückt.
Der zweite Protagonist Michael, ein Erdkundelehrer, lebt ebenfalls getrennt von seiner Lebensgefährtin, doch das Leben als Alleinlebender stellt für ihn eine Herausforderung dar, weil auch er von Einsamkeit und Zweifeln geplagt wird.
Bei einer gemeinsamen Gruppenwanderung treffen diese beiden Einzelgänger zufällig aufeinander. Ihr ersten Konversationsversuche sind zögerlich und unbeholfen, doch mit einer zunehmenden Zahl gewanderter Meilen beginnen sie, sich einander zu öffnen, und vertrauen sich schon bald sogar ihre Sorgen an. Je vertrauter der Umgang miteinander wird, desto stärker werden auch die Gefühle, die sie füreinander hegen. Der Aufbau des Romans lässt ihrer Beziehung viel Raum zur Entwicklung, die beiden Hauptfiguren nähern sich einander nur langsam an, und nicht zu jedem Zeitpunkt der Geschichte ist abzusehen, wer von den beiden, wenn überhaupt, sich einen weiteren Schritt voran wagen wird.
Vieles von dem, was man an David Nicholls Romanen schätzt, lässt sich in "Zwei in einem Leben" wiederfinden. Zum einen sein Händchen für die Protagonisten, immer wieder gelingt es ihm, bei der Beschreibung ihres Innenlebens den Nagel auf den Kopf zu treffen, ihre Gefühle und Gedanken werden so glaubhaft dargestellt, dass beim Lesen nahezu der Eindruck entsteht, der Autor habe reale Menschen porträtiert. Vor allem zu Beginn der Geschichte sind die Dialoge spritzig, pointiert und teilweise komisch, hier sticht Nicholls‘ Erfahrung als Drehbuchautor durch. Zudem ist er in der Lage, die Stimmungslage zu variieren, denn je näher Marnie und Michael sich kommen, desto tiefsinniger werden auch ihre Gespräche, anstatt einer Prise Humor, sind ihre Unterhaltungen dann von einer untergründiger Melancholie durchzogen, ebenso von neu erweckter Hoffnung. Nur die wenigsten von Nicholls‘ Autorenkollegen können Dialoge auf diesem Niveau schreiben, das ist zu würdigen.
An "Zwei an einem Tag" oder "Drei auf Reisen" kann Nicholls neuer Roman jedoch nicht heranreichen, das mag zum einen am Thema liegen. Die Chronik einer Wanderung bei englischem Wetter birgt zwar viel Potenzial für ruhige Momente, jedoch bietet der Wechsel zwischen englischen Ortschaften weniger Abwechslung als eine Tour quer durch Europa wie in "Drei auf Reisen". Und die Themen Alleinsein und Einsamkeit sind vom Autor an sich zwar gekonnt umgesetzt worden, jedoch fehlt vor allem in der zweiten Hälfe des Romans an einigen Stellen die Interaktion mit weiteren Figuren, weil Marnie und Michael zunehmend nur noch mit sich selbst beschäftigt sind. Womöglich hätte die Einführung eines zweiten Themengebiets die Geschichte noch etwas abwechslungsreicher gestaltet und somit für den letzten Rest Tiefgang gesorgt, den Nicholls Vorgängerromane nicht vermissen lassen. Dennoch bietet "Zwei in einem Leben" als Unterhaltungslektüre eine gelungenen Mischung aus Humor und Welterfahrenheit, nach der auf der Suche nach einer Romanze bevorzugt gegriffen werden sollte, als nach manch anderem Machwerk dieses Genres.

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Veröffentlicht am 26.11.2024

Magisches Chaos

Kleine Hexe Nebel 1: Das Erwachen des Drachen
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Mit dem ersten Band „Das Erwachen des Drachen“ gelingt Jérôme Pélissier und Carine Hinder ein farbenprächtiger Auftakt zu ihrer dreibändigen Comicreihe „Kleine Hexe Nebel“, die im Carlsen Verlag erscheint. ...

Mit dem ersten Band „Das Erwachen des Drachen“ gelingt Jérôme Pélissier und Carine Hinder ein farbenprächtiger Auftakt zu ihrer dreibändigen Comicreihe „Kleine Hexe Nebel“, die im Carlsen Verlag erscheint. Besonders Kinder ab 8 Jahren dürften von der kleinen Hexe und ihrer charmanten Welt begeistert sein.
Die Hauptfigur, Nebel, ist ein absoluter Hingucker: Mit ihrem runden Kopf, dem frechen Blick und dem spitzen Hexenhut strahlt sie jugendliche Unangepasstheit aus. Dank der wirkungsmächtigen Illustrationen von Carine Hinder wird Nebels Charakter perfekt eingefangen – ohne viele Worte. Sie ist eine Möchtegern-Hexe, wie sie im Buche steht: entschlossen, mutig und ein wenig tollpatschig. Ihr größter Traum ist es, eine echte Hexe zu sein. Doch leider fehlt ihr jegliches Talent, denn sie besitzt keinerlei magische Kräfte. Erst als ihr Vater ihr ein mysteriöses Zauberbuch schenkt, das er bei ihr als Baby gefunden hat, findet Nebel Zutritt zur Welt der Magie.
Gemeinsam mit ihrem treuen Freund Hugo und dem niedlichen Hausschwein Hubert eröffnet sie einen Zauberladen, um den Dorfbewohnern zu helfen. Doch schon der erste Auftrag endet im Chaos, und Nebel muss sich in ein aufregendes Abenteuer stürzen, um ihren Fehler wieder gutzumachen.
Das absolute Highlight dieses Comics ist zweifelsohne die Farbgestaltung, für die Jérôme Pélissier verantwortlich ist. Die Panels scheinen regelrecht zu glühen, und die geschickte Licht- und Farbwahl verleiht der Geschichte eine magische und heitere Atmosphäre. Die detailreichen Hintergründe, insbesondere Nebels Heimatdorf, wirken lebendig und fantasievoll – ein Hexendorf wie aus dem Märchenbuch, das Kinder und Erwachsene gleichermaßen in seinen Bann ziehen dürfte.
Auch die Figuren sind liebevoll gestaltet. Sie sprechen die junge Zielgruppe perfekt an, indem sie mit wenigen, klaren Details ihre Persönlichkeit ausdrücken: Nebel als freche Heldin, ihr Vater als kräftiger, gutherziger Beschützer, Hugo als treuer, etwas schusseliger Freund und Hubert als witziger Sidekick.
Während Zeichnungen und Farbgebung nahezu perfekt harmonieren, gibt es inhaltlich einige Schwächen. Die Story ist für Kinder ab 8 Jahren gut nachvollziehbar, hätte jedoch in ihren zentralen Momenten mehr Raffinesse vertragen können. Einige Dialoge wirken zu konstruiert, und häufig sind Kommentare des Schweins Hubert nötig, um das Geschehen zu erklären. Zudem fühlt sich das Abenteuer recht kurz an: Kaum wurde die Spannung aufgebaut, ist die Geschichte auch schon zu Ende.
Es scheint, als hätte Jérôme Pélissier, der sowohl für den Text als auch die Farben verantwortlich ist, den Fokus stärker auf die visuelle Gestaltung gelegt. Während diese fantastisch gelungen ist, hätte der Text von einem zusätzlichen kreativen Input profitieren können.
Im Allgemeinen ist „Das Erwachen des Drachen“ ein gelungener Auftakt für die Reihe „Kleine Hexe Nebel“, der vor allem durch seine farbenfrohe und fantasievolle Gestaltung besticht. Kinder werden die charmanten Figuren und die magische Erzählwelt lieben, auch wenn die Handlung stellenweise etwas stärker ausgearbeitet sein könnte. Magie, Drachen und ein wenig Chaos – dieser Comic hat das Zeug, junge Leser in seinen Bann zu ziehen.

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Veröffentlicht am 11.11.2024

Eine Krone kann man nicht teilen

Der König
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Zwei Brüder, die wie Könige über eine kleine norwegische Gemeinde herrschen, das lässt schon im Vorhinein ein interessantes und außergewöhnliches Thema für einen Kriminalroman erahnen. Tatsächlich geht ...

Zwei Brüder, die wie Könige über eine kleine norwegische Gemeinde herrschen, das lässt schon im Vorhinein ein interessantes und außergewöhnliches Thema für einen Kriminalroman erahnen. Tatsächlich geht Jo Nesbøs neuer Bestseller „Der König“ weit über die Grenzen des herkömmliches Kriminalromans hinaus. Im Vordergrund der Geschichte stehen die beiden Brüder Roy und Carl, die alles andere als typische rechtschaffene Protagonisten sind, denn ihr Verhalten und ihre Handlungen sind moralisch fragwürdig und in vielerlei Hinsicht skrupellos. Um ihre Ziele zu erreichen, scheuen sie weder vor Manipulation noch vor Mord zurück. Was ihre Taten besonders faszinierend macht, ist die allmähliche Enthüllung ihrer düsteren Vergangenheit. Nach und nach erfahren die Leser von Roys Verbrechen, die der Autor gekonnt in die Haupthandlung einflicht, wodurch ein Spannungsbogen entsteht, der weniger auf actiongeladene Szenen als auf psychologische Tiefe und die schrittweise Enthüllung familiärer Abgründe setzt.
Als Schauplatz dient die Kleinstadt Os im Norden Norwegens, dem eine bedeutende Rolle in der Geschichte zukommt. Die Gemeinde ist nicht einfach nur Kulisse, sondern ein komplexes Gebilde, dessen Bewohner eigene, tragische Geschichten und Geheimnisse verbergen. Neben Roy und Carl werden auch die Nebenfiguren detailliert und authentisch geschildert, was dem Roman eine zusätzliche Ebene der Tiefe verleiht. Die Stadtbewohner sind keine Statisten; sie haben ihre eigenen Lebensträume, Geheimnisse und Abgründe, die Jo Nesbø in zahlreichen kleinen Anekdoten und Rückblenden kunstvoll erzählt. Themen wie Korruption, Missbrauch, Familie, Sport, Achterbahnen, Wirtschaftspolitik und Liebe verweben sich dabei zu einem vielschichtigen Bild, das weniger durch klassische Spannung als durch die Stärke seiner Charakterzeichnungen und Themen überzeugt.
Interessant ist auch die dynamische Entwicklung der Brüder Roy und Carl im Laufe der Handlung. Anfangs wirken sie wie unzertrennliche Verbündete, die gemeinsam für ihre Ziele kämpfen. Doch im Verlauf der Geschichte beginnt diese Verbundenheit zu bröckeln. Die beiden Brüder entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen, ihre Ziele und Wertvorstellungen driften auseinander, und schon bald stehen sie sich als Gegner gegenüber. Die Beziehung der Brüder ist dabei alles andere als das Klischee einer typischen Bruderbeziehung. Auf den ersten Blick scheint vor allem Carl der wahre „König“ von Os zu sein, der charismatisch und ideenreich das Leben in der Kleinstadt dominiert. Doch hinter dieser Fassade ist es vor allem Roy, der die Fäden in der Hand hält. Der stille und loyal wirkende Bruder entwickelt sich zu einem eiskalten Vollstrecker, der keine Grenzen kennt, wenn es darum geht, seine Familie und deren Geheimnisse zu schützen. Dabei wird er jedoch nicht als gefühllose Killermaschine dargestellt. Jo Nesbø gelingt es, die Leser seine Beweggründe und inneren Konflikte verstehen zu lassen, sodass Roys Handlungen im Kontext der Geschichte beinahe nachvollziehbar erscheinen. Trotz seiner Skrupellosigkeit ist er eine komplexe Figur mit einem moralischen Kompass, der zwar verbogen, aber nicht vollständig zerstört ist. Seine Loyalität gegenüber seinem Bruder und seine tiefe Verbundenheit zur Familie machen ihn zu einem faszinierenden und zugleich verstörenden Charakter, der uns als Leser zwischen Mitleid und Abscheu schwanken lässt.
Jo Nesbø inszeniert in „Der König“ ein intensives Drama um Macht und Einfluss, das sich nicht wie so oft in Großstädten oder Metropolen abspielt, sondern in einer kleinen, überschaubaren Gemeinde unter einfachen Menschen. Gerade diese bodenständige Darstellung des Kampfes um Geld und Macht verleiht der Geschichte Glaubwürdigkeit und macht sie so eindringlich. Durch das Setting im ländlichen Norwegen gelingt es Nesbø, ein authentisches und realitätsnahes Bild der Gesellschaft zu zeichnen, das dem Leser eine ungewöhnliche Perspektive auf die Mechanismen von Macht und Korruption bietet.
Allerdings sind die Intrigen, die die beiden Brüder in dieser Geschichte spinnen, zwar plausibel aufgebaut, wirken jedoch häufig vorhersehbar und teilweise klischeehaft. Obwohl die politischen Machenschaften nachvollziehbar sind, bleibt die Darstellung der Machtmechanismen an der Oberfläche. Ein wenig mehr Komplexität hätte die Handlung spannender und tiefgründiger gemacht, selbst wenn das zu einer höheren Stufe der Komplexität geführt hätte.
Ein weiterer Kritikpunkt ist das Fehlen einer Figur, mit der sich der Leser positiv identifizieren könnte. Die Bewohner der Stadt Os werden fast durchgehend als egoistische und unzugängliche Charaktere gezeichnet, was es schwer macht, Sympathie zu entwickeln oder wirklich mitzufiebern. Gerade in einer unterhaltsamen Lektüre wünscht man sich jedoch eine Figur, die Hoffnung und Menschlichkeit verkörpert.
Insgesamt entwirft der Autor ein finsteres Gesellschaftsbild, das zwar erschreckend ist, jedoch durch seine trostlose Darstellung eine gewisse Authentizität gewinnt und die Konsequenzen einer empathielosen Welt eindringlich darstellt.
„Der König“ weist dabei auch deutliche Züge eines Gesellschaftsromans auf, in dem Nesbø tief in die Strukturen und Geheimnisse der Kleinstadt eintaucht. Trotz dieser Schwere und Tiefe kommt jedoch auch die Spannung nicht zu kurz: Liebhaber von Kriminalromanen werden trotz der unkonventionellen Erzählweise am Ende des Tages voll auf ihre Kosten kommen. Jo Nesbø zeigt mit „Der König“ erneut, warum er zu den besten und gefragtesten Kriminalautoren der Welt gehört. Sein neuer Roman balanciert gekonnt zwischen Krimi, Psychodrama und Gesellschaftsroman und bietet eine Geschichte, die zwar nicht mit einem literarisch ambitionierten Werk mithalten kann, aber trotzdem länger im Gedächtnis bleibt, als ein Thriller des üblichen Formats.

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