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Veröffentlicht am 20.09.2024

Kluge, nüchterne, schonungslose Selbstanalyse

Rausch und Klarheit
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An dem Tag, als Mia aufgehört hat, ist sie voller Euphorie. Wie sie die Welt jetzt wahrnimmt, das Sonnenlicht, die Vogelstimmen, den Wind in ihrem Haar, sich selbst.

Zuvor hatte sie einen Bogen um Selbsthilfegruppen ...

An dem Tag, als Mia aufgehört hat, ist sie voller Euphorie. Wie sie die Welt jetzt wahrnimmt, das Sonnenlicht, die Vogelstimmen, den Wind in ihrem Haar, sich selbst.

Zuvor hatte sie einen Bogen um Selbsthilfegruppen für Ex-Trinkerinnen gemacht, weil einem stets eine aus der Seele spricht, was bedeutet, dass man da richtig ist, hingehört, dass man mit dem Trinken aufhören muss.

Mia war eine funktionale Alkoholikerin. Sie trank nicht jeden Tag, doch wenn, dann mehr als sie sich vorgenommen hatte. Sie hatte nicht gleich als Jugendliche damit angefangen, obwohl es viele Berührungspunkte gab, denn sie ist damit aufgewachsen. In ihrer Familie war der Missbrauch von Alkohol normal, nicht der Rede wert. Sie fing damit an, weil es sie zu etwas Besonderem machte, schneller, wilder, verrückter, tiefsinniger, weniger langweilig und spießig.

Die Sucht hatte Mia schon vor ihren Alkoholexzessen besessen. Zuerst flutete der Dopaminkick sie in leidenschaftlichen Beziehungen. Sie war nicht wählerisch bei ihren Partnern, bis sie sich auf Männer einschoss, die doppelt so alt waren, wie sie, die gierig war zu gefallen und leicht zu kontrollieren und am Ende emotional ausblutete.

Als sie aufhörte, war das nur der erste Schritt, denn danach trat alles in klare Sicht, was zuvor nebulös geblieben war:

Meine brennende Wut, meine ungeheilten Kindheitswunden, mein irrationales Verhältnis zu Geld, mein verrücktes Beziehungsverhalten, meine Selbstsabotage, mein Selbstmitleid, meine Ausreden, meine falsche Toleranz … S. 12

Den Tiefpunkt, irgendein wirklich schlimmes Ereignis gab es bei ihr nicht. Ja sicher Blackouts:

Man hat ganze Stunden partieller Amnesie erlebt, in denen man wie ein Zombie herumgelaufen ist, sich unterhalten und am Leben teilgenommen hat, ohne selbst dabei gewesen zu sein. S. 17

Fazit: Ich bin ergriffen. Noch nie habe ich eine so glasklare, ehrliche Selbstanalyse einer ehemaligen suchtkranken Frau gelesen. Mia Gatow geht mit klugem, nüchternem, präzisem Erzählstil auf die Suche nach den Mechanismen der Sucht, die vielfältiger nicht sein könnten. Sie zeigt mir ihre Familie, den alkoholkranken Vater, die alkoholkranke Großmutter. Sie erzählt davon, wie die traumatisierte Nachkriegsgeneration in die kapitalistische Falle tappte, die der gestressten Frau Entspannung durch „Frauengold“ und „Klosterfrau Melissengeist“ versprach. Die Autorin verschont weder die emotional unreifen „Sugar Daddies“ noch sich selbst und ihren Hang zu Dramen oder den Hunger nach Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Die Autorin hat aus dem Vollen geschöpft und eine Lebenserfahrung gesammelt, die man einer deutlich älteren Frau zutrauen würde. Sie hat sich ihrer eigenen Wahrheit gestellt und emanzipiert. Mia Gatow „spricht mir aus der Seele“ Ihre Geschichte ist meine eigene und ganz sicher die vieler anderer Frauen. Es hat mich getroffen, einen anderen Menschen aussprechen zu sehen, was ich selbst erlebt habe und ich empfinde die gleiche Achtung vor ihr und ihrer Selbsthilfe, wie vor mir. Was für ein wichtiges und auch feministisches Buch, ein Tabubruch.

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Veröffentlicht am 11.09.2024

Ein bewegendes Debüt

Der Bademeister ohne Himmel
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Die 15-jährige Linda wohnt zwei Etagen über Hubert Raichl. Hubert ist voll dement und wird von Ewa, der polnischen Pflegekraft vierundzwanzig Stunden betreut. Kevin wohnt bei Linda um die Ecke und ist ...

Die 15-jährige Linda wohnt zwei Etagen über Hubert Raichl. Hubert ist voll dement und wird von Ewa, der polnischen Pflegekraft vierundzwanzig Stunden betreut. Kevin wohnt bei Linda um die Ecke und ist voll intelligent. Seit Lindas Eltern sich getrennt haben, mag Linda Kevin. Davor musste sie ihn wie ihr Päckchen mit zur Schule schleppen. Seine alleinerziehende Mutter fand, dass der Schulweg zu gefährlich sei.

Linda plant seit einiger Zeit ihren Abgang aus dieser Welt, das macht sie im Stillen mit sich aus.

Es ist dieser Zustand zwischen Schlafen und Wachwerden. Es dämmert einem, dass man wach wird und die Sorgen vom Vortag vermischen sich mit der Vorschau auf noch mehr Unglück. S. 204

Linda trägt den grauen Vorhang, der alles trübt, nicht grundlos. Zu oft hat sie mit ihrer Mutter im dunklen Kleiderschrank gesessen, die Herzen um die Wette rasend, weil der rasende Vater: „Komm da raus!“, schrie.

Linda verbringt die Nachmittage meistens bei Hubert. Die gottgläubige Ewa, die den Kamillentee dreißig Minuten ziehen lässt, weil er Farbe braucht, mit der selbst gemachten Ringelblütensalbe und dem Freund ohne Körperlichkeiten, muss auch mal einkaufen. Und Mittwochs verschwindet Ewa für zwei Stunden zu ihren polnischen Freundinnen. Linda hat Hubert im Griff. Wenn er auf seine Frau wartet, die er beim Einkauf vermutet, lenkt Linda ihn ab. Seine rechte Hosentasche enthält immer Walnusshälften und die linke immer ein Stofftaschentuch, darauf kann man sich verlassen. Linda erzählt Hubert vom Schwimmbad, dem Drei-Meter Brett, den warmen Sonnenstrahlen auf der Haut und dem erfrischenden Wasser, in das sie eingetaucht ist, auch wenn es nicht stimmt. Hubert gefällt es.

Nach viel Dunkelheit sind da die Tage, an denen Linda ein Liebespaar an der Bushaltestelle beobachtet und es nicht kitschig findet. Eine Frau, die mit einem Efeublatt eine Biene aus dem Brunnen fischt und wartet, bis sie weggeflogen ist und sie fragt sich, ob das immer da ist? Aber dann braucht Ewa eine Pause und fährt für Wochen nach Hause.

Fazit: Mit großem Feingefühl hat Petra Pellini ein junges Mädchen gezeichnet, das sich überflüssig findet. Wirklich gelungen lässt die Autorin ihre Ich-Erzählerin aus der Sicht einer coolen Jugendlichen erzählen, mit starkem Charakter und wenig Selbstwert. Die Geschichte ist wunderbar verwoben mit Lindas Schicksal, Huberts Demenz und Ewas Überforderung. Die Stimme der Autorin ist humorvoll und selbstironisch. Obwohl Lindas Weg immer wieder von unerwarteter Tragik gekreuzt wird, wächst sie über sich hinaus und findet ein Licht am Ende des Tunnels, das hell und vielversprechend strahlt. Ein gelungenes, bewegendes Debüt, das mich sehr berührt hat.

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Veröffentlicht am 03.09.2024

Gelungene Befreiung aus einer prägenden Mutter - Tochter Beziehung

Alle außer dir
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Marie lebt in Paris. Ihr Elternhaus in den Vogesen hat sie längst hinter sich gelassen, ihr Studium abgeschlossen und ihren Doktor gemacht. Sie ist fünfunddreißig, hat gerade entbunden und sich entschlossen, ...

Marie lebt in Paris. Ihr Elternhaus in den Vogesen hat sie längst hinter sich gelassen, ihr Studium abgeschlossen und ihren Doktor gemacht. Sie ist fünfunddreißig, hat gerade entbunden und sich entschlossen, die kleine Adèle allein großzuziehen. Die Erste, die Marie nach der Geburt anruft, ist ihre Mutter. Nach zehn Stunden Schmerz, Blutungen und einer nicht wirkenden Periduralanästhesie wirft die Mutter ihr vor, sie habe sich nicht gründlich genug auf die Geburt vorbereitet.

Sie wartete vor der Schule auf ihre Mutter, ganze Abende auf Männer, auf Antworten und am Tag der Geburt, auf die Pille, die ihr die Spannung aus der Brust nehmen soll. Das Warten hat sie gelernt.

Marie kann sich an keine Umarmung erinnern, aber vernünftig war die Mutter in ihren Verboten: kein Fernsehen, keine Barbie, keine Bluejeans, keinen Zucker, kein Mehl, keinen weißen Reis, alles zum Besten des Kindes, das sich nach Kohlehydraten verzehrte.

Als sie mit der Mutter durch die Stadt ging, schaute ein Mann, im Alter ihres Vaters sie an. Die Mutter ohrfeigte sie, alle blieben stehen, blickten auf die Szene.

Das soll dir eine Lehre sein, mit wildfremden Männern zu flirten. S. 100

Nicht mir galt die Ohrfeige, die dafür sorgte, dass sie zehn Jahre lang den Blick vor Männern senkte. Sie war einfach die Erstbeste, die sie stellvertretend für alle gutbürgerlichen Frauen dieser Stadt in Empfang nehmen musste, für all jene, die, stolz und hochnäsig, meine Mutter am Rand hatten stehen lassen. S. 102

Fazit: Maria Pourchet beschreibt eine verheerende Kindheit. Ihre Protagonistin setzt sich im Krankenhaus mit den Demütigungen auseinander. Der Rahmen ist passend, weil es auch hier unterschwellige Vorhaltungen hagelt. Tausend Worte fallen ihr rückblickend ein, die ihr das Gefühl gaben wertlos zu sein. Die sie geprägt haben, so wie ihre Mutter von der eigenen Mutter gebrieft wurde. Maries Mutter hat alle eigenen Selbstzweifel und das Gefühl der Unzulänglichkeit schonungslos, wie Gift in die Tochter sickern lassen. Die Tochter, nun selbst Mutter geworden, will ihr Erbe durchbrechen, ihrer Tochter neue Chancen für den eigenen Lebensweg mitgeben und muss deswegen in die schmerzliche Innenschau. Die Sprache der Autorin ist bewusst anklagend. Sie lässt ihre Protagonistin zurückgeben, was sie selbst erdulden musste. Am Ende wird die Geschichte versöhnlich, der Knoten ist gelöst, Marie spürt Luft in sich aufsteigen, wo vorher kein Raum war. Eine überaus kluge, gelungene Beschreibung einer Befreiung aus einer vergifteten Mutter – Tochterbeziehung.

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Veröffentlicht am 30.08.2024

Trauer empathisch erfasst

Mein drittes Leben
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Linda ist Kuratorin einer Kunststiftung und ihr Mann Richard Maler. Sie leben in einer Altbauwohnung in Leipzig, die mit Bildern dekoriert ist, die sie im Laufe ihrer Ehe ersteigert haben. Ihre gemeinsame ...

Linda ist Kuratorin einer Kunststiftung und ihr Mann Richard Maler. Sie leben in einer Altbauwohnung in Leipzig, die mit Bildern dekoriert ist, die sie im Laufe ihrer Ehe ersteigert haben. Ihre gemeinsame Tochter Sonja ist eines Vormittags auf ihr Fahrrad gestiegen, um zu ihrem Frauenarzt zu fahren. Sie hatte ihren ersten festen Freund und Linda motivierte sie, sich die Pille verschreiben zu lassen. Der Anruf aus dem Krankenhaus brüllte sie aus ihrem Alltag. Als Linda und Richard in der Klinik ankamen, war Sonja tot. Sie habe nicht gelitten, sei schon im Rettungswagen ins Koma gefallen und dann noch vor der Ambulanz multiorganversagen.

Linda liebt ihren Mann, er hat nichts falsch gemacht, sich nur eines Tages umgedreht und den Blick nach vorn gewandt, während ihrer in die Vergangenheit gerichtet blieb. Linda zieht aus, hat eine Viertelstunde von ihrem alten Leben entfernt, einen kleinen Hof gefunden, mit Garten, Schafen, Hühnern und einem alten struppigen Hund.

Richard besucht sie regelmäßig, richtet Grüße von seiner Familie und ihren Freunden aus und sie erkundigt sich nach ihnen, missbraucht ihn als Brücke zur Welt.

Die Freunde verstehen es nicht. Sie fühlen sich bestraft, ohne sich schuldig gemacht zu haben. S. 30

Sie erträgt das Mitleid in ihren Augen nicht, wie sie sich abwenden, weil sie ihren Schmerz nicht fühlen können. Die aufmunternden Worte, „wird schon wieder!“. Nichts wird mehr, wie es einmal war, sie weiß das. Ihr Eremitendasein – oft trifft sie tagelang niemanden – hat ihr die Eitelkeit genommen, die Perfektion ist weitergezogen.

Fazit: Daniela Krien zeigt die Geschichte einer Frau, die alles verliert. Der Schmerz des Undenkbaren lässt sie in tiefe Depression versinken und im Niemandsland verharren. Alle Möglichkeiten, den Verlust zu verarbeiten, sind misslungen. Die Stimmung ist melancholisch gedrückt. Hund und Garten geben den Tagen der fragilen Protagonistin Struktur, Betäubungsmittel Schlaf. Ganz zart, mit den ersten Knospen im Vorfrühling, erwacht in der Trauernden ein Funke Gefühl, eine Anteilnahme an den Schicksalen anderer Menschen. Die Autorin hat die Gefühlswelten empathisch erfasst und die Schwere brillant ohne unnötige Übertreibungen gezeigt. Ich mag ihre nüchterne, unaufgeregte Schreibweise sehr, meine klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 29.08.2024

Unbedingte Leseempfehlung für alle, die Literatur lieben

BILLIE »Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden«
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Sybilla Schwarz, von allen Billie genannt, wächst als junges Mädchen neben ihren zwei Schwestern und drei Brüdern in Greifswald auf. Ihr Vater ist der Ratsherr der Stadt und sehr beschäftigt, die Mutter ...

Sybilla Schwarz, von allen Billie genannt, wächst als junges Mädchen neben ihren zwei Schwestern und drei Brüdern in Greifswald auf. Ihr Vater ist der Ratsherr der Stadt und sehr beschäftigt, die Mutter wacht streng über die Töchter. Billie hat sich das Lesen beigebracht und streift zuweilen durch die Bibliothek ihres Vaters. Die Finger streichen entzückt die Buchrücken entlang. In ihrer Kammer taucht sie in die Heldenepen Homers, die Oden Horaz´, Vergil und Ovid ein und bemächtigt sich der lateinischen Sprache. Sie konkurriert mit ihrem Bruder Georg, der privat unterrichtet wird und so vermessen ist, sich für die Schöpfung der Menschheit zu halten, allein weil er ein Junge ist. Doch wozu das alles? Zuerst würde ihre Schwester Regina heiraten, dann Emerenzia und am Ende sie selbst.

Die Gerüchte mehren sich, dass die Katholiken gegen die Protestanten aufbegehren, sie zu unterwerfen und dann gibt Wallenstein ihnen das Recht dazu. Er hat den gottesfürchtigen Männern erlaubt nicht nur Greifswald zu besetzen, sondern rückt mit einem 40.000 Mann starkem Heer an, der Dreißigjährige Krieg beginnt. Oberstleutnant Guitzardo besetzt ihr Haus und enteignet Billies Vater. Jetzt fläzt der feiste dekadente Mann in ihrer Bibliothek, nascht das Konfekt, trinkt den Wein, den man ihm offerierte und lässt sich von Billie und der Magd Inés bedienen.

Billie lernt ihre Nachbarin Judith kennen, die mit Vater und Schwester auf der Flucht ist. Sie ist das schönste Mädchen, das Billie je gesehen hat und Judith inspiriert sie zu den schönsten Liebesversen. Bei Kerzenschein versucht sie ihre Sehnsucht zu stillen, indem sie zarte Worte aus ihrem zerrissenen Herzen tropfen lässt.

Fazit: Mein Dank an Stefan Cordes, der die Geschichte Billies aus der Vergessenheit reißt und mir dieses außergewöhnliche Mädchen vorstellt. Der Autor hat eine sympathische Heldin geschaffen, die man kennenlernen möchte. Wie mutig sie sich den Autoritäten entgegengestellt hat und jede Konsequenz in Kauf nahm, um sich ihre Integrität zu bewahren. Wie hart das Schicksal mit ihr umgegangen ist, hat der Autor, der sich empathisch in die dunkle Zeit des 17. Jahrhunderts hineinversetzt hat, als Frauen Männer zu schmücken und sich einzig unterzuordnen hatten, anschaulich gezeigt. Ich habe mich in Stefan Cordes Sog ziehen lassen und jedes Ereignis mit Spannung erwartet. So eine feine historische Aufarbeitung ist ihm gelungen, dass ich denke, dass wir auch im 21. Jahrhundert mehr Frauen wie Billie brauchen können. Unbedingte Leseempfehlung für alle, die Literatur lieben.

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