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Veröffentlicht am 13.10.2024

Ein Wolf im Schafspelz

Trauriger Tiger
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Sie war sieben, acht oder neun Jahre alt, sie weiß es nicht mehr so genau, als die Autorin zum ersten Mal von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde. Um den Familienfrieden nicht zu gefährden schwieg ...

Sie war sieben, acht oder neun Jahre alt, sie weiß es nicht mehr so genau, als die Autorin zum ersten Mal von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde. Um den Familienfrieden nicht zu gefährden schwieg sie, vertraute sich niemandem an. Worüber man nicht spricht, das gibt es auch nicht, das war ihr Gedanke. Das ging so weiter, manchmal täglich, bis Neige etwa fünfzehn Jahre alt war, dann hörte er auf. Aber auch jetzt schwieg sie noch. Erst im Alter von zwanzig Jahren, als sie mit dem Studium begann und von zu Hause auszog, vertraute sie sich ihrer bis dahin nichtsahnenden Mutter an. Um ihre jüngeren Geschwister nicht derselben Gefahr auszusetzen, entschlossen sich beide Frauen, gemeinsam Anzeige zu erstatten …

Neige Sinno ist eine französische Schriftstellerin und Übersetzerin, die 1977 in Vars/Haute-Alpes geboren wurde. Sie studierte in den USA Amerikanische Literatur. Neben einigen Fachtexten veröffentlichte sie bisher eine Erzählsammlung und einen Roman. „Triste Tigre“ (2023) „Trauriger Tiger“ (2024) ist ihr zweiter Roman, für den sie bereits zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen erhielt. Seit 2006 lebt die Autorin in Pátzcuaro in Mexiko und unterrichtet Interkulturelle Literatur an der Escuela Nacional in Morelia.

Der Roman „Trauriger Tiger“ (dtv 2024) ist der Versuch, die als Kind erlittene jahrelange Vergewaltigung durch ihren Stiefvater durch Schreiben aufzuarbeiten. Ob Neige Sinno das gelungen ist, kann nur sie selbst beantworten.

Gelungen ist ihr jedenfalls, ihre Leserschaft tief zu berühren und zu erschüttern. Man bewundert den Mut und die Entschlossenheit des kleinen Mädchens, ihren Kampf um Normalität und ihren Willen zu leben und zu überleben und ist gleichzeitig überrascht, wie schwer es der erwachsenen Frau heute, über 30 Jahre nach Ende der Vergewaltigungen und 25 Jahre nach ihrer Anzeige, immer noch fällt, darüber zu reden. Immer wieder sucht sie Orientierung in der Literatur, zitiert Annie Ernaux und Virginia Woolf, liest über vergewaltigte Kinder bei Faulkner, Zola und Foster Wallace und erwähnt immer wieder den Roman Lolita von Nabokov. Sie beleuchtet das Thema von allen Seiten, berichtet über das Verhör des Stiefvaters, die Reaktion der Mutter nach dessen Verurteilung und studiert Statistiken zu ähnlichen Fällen. Ihr Schreibstil dabei ist radikal ehrlich, sie schont niemanden und beschönigt nichts. Wohltuend ist zu vermerken, dass die ausführlichen Beschreibungen der Taten zwar vorhanden, aber nur ganz selten erwähnt werden.

Fazit: Ich wünsche dem Buch eine aufgeschlossene Leserschaft und empfehle es sehr gerne weiter!

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Veröffentlicht am 25.09.2024

Biografie einer 100Jährigen zwischen Wahrheit und Fiktion

Das Philosophenschiff
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Die ehemalige Star-Architektin Anouk Perleman-Jacob möchte ihre Memoiren schreiben lassen und lädt deshalb zu ihrem 100. Geburtstag einen Schriftsteller ein, der den Ruf hat, es mit der Wahrheit nicht ...

Die ehemalige Star-Architektin Anouk Perleman-Jacob möchte ihre Memoiren schreiben lassen und lädt deshalb zu ihrem 100. Geburtstag einen Schriftsteller ein, der den Ruf hat, es mit der Wahrheit nicht immer genau zu nehmen. Genau das möchte sie, der Nachwelt Rätsel aufgeben. War ihr Leben wirklich so, wie sie es dem Autor schildert und er es zu Papier bringt, oder war es doch anders? Bei seinen zahlreichen Besuchen erzählt sie aus ihrem Leben. In Sankt Petersburg geboren kam sie im Alter von 14 Jahren zusammen mit ihren Eltern auf ein sog. „Philosophenschiff“, mit dem die damaligen Bolschewiken-Machthaber auf Lenins Befehl unliebsame Intellektuelle außer Landes brachten. Sie waren nur eine Handvoll Personen auf einem Luxusdampfer für 2000 Passagiere. Während der Fahrt über die Ostsee, so berichtet sie dem Schriftsteller, hätte sie heimlich den im Rollstuhl sitzenden kranken Lenin getroffen und sich mit ihm angefreundet. Auch ihn wollten seine Widersacher loswerden …

Michael (Johannes Maria) Köhlmeier ist ein österreichischer Schriftsteller, der 1949 in Vorarlberg geboren wurde und dort auch aufgewachsen ist. Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte er Politikwissenschaft und Germanistik in Marburg/Lahn und im Anschluss daran Mathematik und Philosophie in Gießen. Bereits ab Ende der 1960er Jahre arbeitete er als freier Mitarbeiter für den ORF, wo er mit seinen Hörspielen bekannt wurde. Sein Debüt als Romanschriftsteller gab er 1982, seither schrieb er unzählige Romane, Hörstücke, Drehbücher, Liedtexte und Gedichte, für die er zahlreiche Preise erhielt. 1981 heiratete Michael Köhlmeier die Schriftstellerin Monika Helfer, sie haben zusammen vier Kinder. Der Autor lebt heute als freier Schriftsteller in Hohenems/Vorarlberg und in Wien.

Was ist Wahrheit, was ist Fiktion? Eine Frage, die man sich beim Lesen unwillkürlich stellt. Dem Autor ist es großartig gelungen, beides miteinander zu verknüpfen. In sachlich klarem Schreibstil führt er uns in die Zeit als die Bolschewiken in Russland die Macht hatten und berichtet von ihren Grausamkeiten und der Angst, mit der die Menschen leben mussten. Wir erfahren von zahlreichen bekannten russischen Personen, die teils ausgewiesen und teils vom Regime ermordet worden sind.

Leider ist die Geschichte ohne Kenntnisse über die russische Revolution und über die gegenseitigen Intrigen der damaligen Machthaber nur schwer zu verstehen. Mir sagten die meisten der namentlich erwähnten Personen wenig oder überhaupt nichts und über jeden Namen bei Wikipedia nachzuschlagen war mir bald zu mühsam. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die alte Dame in ihren Erinnerungen nicht chronologisch vorging, sondern immer nur kurze Episoden aus verschiedenen Zeiten erwähnte. Dennoch hat mich die Geschichte gepackt und ich war, bedingt auch durch den großartigen Schreibstil des Autors, mitten drin im Geschehen.

Fazit: Ein interessanter Roman, der sich leicht lesen lässt, aber schwer zu verstehen ist.

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Veröffentlicht am 02.09.2024

Familiengeschichten

Nur nachts ist es hell
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Man schreibt das Jahr 1972, Elisabeth ist jetzt 77 Jahre alt und sieht sich am Ende ihres Lebens. Da sie ihre Lebensgeschichte der Nachwelt erhalten möchte, schreibt sie ihre Erlebnisse in ein Tagebuch, ...

Man schreibt das Jahr 1972, Elisabeth ist jetzt 77 Jahre alt und sieht sich am Ende ihres Lebens. Da sie ihre Lebensgeschichte der Nachwelt erhalten möchte, schreibt sie ihre Erlebnisse in ein Tagebuch, welches für ihre Großnichte Christina bestimmt ist. Sie beginnt mit ihrer Kindheit, erzählt von ihren drei Brüdern, berichtet von den beiden Weltkriegen, von ihrer Ehe mit Georg Tichy, von ihren beiden Söhnen und von der Arztpraxis, die sie zusammen mit ihrem Mann führte. Ihr Leben verläuft nicht einfach, sie muss viele Schicksalsschläge hinnehmen, die beiden Weltkriege hinterlassen ihre Spuren …

Der österreichischen Autorin Judith W. Taschler, geb. 1970 in Linz, ist nach ihrem Roman „Über Carl reden wir morgen“ (2022) mit „Nur nachts ist es hell“ (2024) eine weitere fesselnde Geschichte über die Brugger-Familie gelungen, die eng an die Geschichte ihrer eigenen Familie angelehnt ist. Über fünf Generationen begleiten wir die Schicksale der einzelnen Familienmitglieder von der Belle Époque über beide Weltkriege, die bei allen seelische und körperliche Wunden hinterlassen haben, und erfahren auch von den Schwierigkeiten, als Frau in der damaligen Zeit Ärztin zu werden.

Der Schreibstil ist sehr sachlich gehalten, wodurch sich die Geschichte flüssig lesen lässt - durch die vielen Zeitsprünge und die große Anzahl immer neu auftretender Figuren bedarf es jedoch einer gewissen Konzentration und Aufmerksamkeit. Intrigen, Heimlichkeiten, Missverständnisse und überraschende Wendungen, wie sie nun mal im Leben vorkommen, verleihen dem Geschehen eine kontinuierliche Spannung.

Fazit: Ein weiterer beeindruckender Roman über die Familie Brugger, den ich gerne weiter empfehle!

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Veröffentlicht am 22.08.2024

Hoffnungsland Amerika

Sing, wilder Vogel, sing
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Gerade als Honora geboren wurde flatterte ein Vogel ins Haus, was zur damaligen Zeit ein schlechtes Omen bedeutete. Bald darauf starb ihre Mutter. Ihr Vater lehnte das Kind ab, sodass sie völlig auf sich ...

Gerade als Honora geboren wurde flatterte ein Vogel ins Haus, was zur damaligen Zeit ein schlechtes Omen bedeutete. Bald darauf starb ihre Mutter. Ihr Vater lehnte das Kind ab, sodass sie völlig auf sich selbst angewiesen war und ohne menschlichen Kontakt aufwuchs. Auch im Dorf wurde sie als Außenseiterin gemieden, bis sich William für sie interessierte und sie heiratete. Dann kam das Jahr 1849, das Jahr der schlechten Ernte. Die Menschen hungerten und starben, Honora überlebte als eine der wenigen und wagte die gefahrvolle Überfahrt nach Amerika, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch auch dort sollte sie enttäuscht werden …

Jaqueline O’Mahony, geb. 1972 in Cork, ist eine irisch/britische Schriftstellerin, die bereits im Alter von 14 Jahren als „Young Irish Writer of the Year“ ausgezeichnet wurde. Sie studierte in Irland, Italien und den USA und arbeitete als Journalistin u.a. für die ‚Vogue‘. 2015 absolvierte sie ihren Master in Creative Writing an der City University. Ihr Debütroman „A River in the Trees“ erschien 2020 und wurde bereits für diverse Preise nominiert. Die Autorin lebt heute mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in London.

„Sing, wilder Vogel, sing“ ist die schonungslose Geschichte menschlichen Leids, Hunger, Entbehrungen und verzweifelter Hoffnung. Packend und mitreißend beschreibt die Autorin die Tragödie an der irischen Westküste im Jahr 1849, das infolge der Kartoffelfäule und Missernten als Hungerjahr in die Geschichte einging. Der Marsch der verzweifelten Menschen über den Doolough Pass, ihre Hoffnung etwas Nahrung zu bekommen, ihre grenzenlose Enttäuschung und der unheilvolle Rückweg bei Kälte und Schnee, bei dem nur wenige überlebten, war für mich eine der besten Passagen des Buches. Die Beschreibung von Fakten der irischen Geschichte verbunden mit Auswanderung und der Hoffnung auf ein besseres Leben ist der Autorin außerordentlich gut gelungen. Die Geschichte von Honora, einer jungen Frau die in der Heimat keine Perspektive mehr hat, damit zu verbinden, ist ganz besonders glaubwürdig.

Trotz meiner Begeisterung habe ich auch einiges zu kritisieren. Bisweilen kam es mir tatsächlich so vor, als hätte die Autorin den Faden verloren und sich nicht mehr an das vorher geschriebene erinnert. Es werden Situationen geschildert, von denen man als Leser keine Ahnung hat, wie es dazu gekommen ist. Einige Beispiele: Honoras erster Ehemann ist plötzlich tot – Honora hat es ohne Ticket und ohne Geld aufs Schiff geschafft, dort hatte sie ein Bett und Verpflegung – Honora und die kranke Mary machen sich von NewYork auf den Weg in den Westen, auf einmal sind sie dort und Mary ist gesund – Honora/Nell flieht mit Prosper aus dem Bordell, dann sind sie urplötzlich im zweiten Sommer auf ihrer Farm – wie kann jemand mit einem gebrochenen Bein nach zwei Tagen wieder springen? – von dem am Ende erwähnten Blutmond, unter dem sie zur Welt gekommen sein soll, wurde bei ihrer Geburt jedoch nichts erwähnt.

Fazit: Keine leichte Kost, aber trotz meiner Kritikpunkte eine lohnende Lektüre!

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Veröffentlicht am 18.08.2024

Falsche Entscheidungen

Lord Jim
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Jim ist noch keine vierundzwanzig Jahre alt aber schon Erster Offizier auf der Patna, die mit achthundert Pilgern auf dem Weg nach Mekka beladen ist. Als das Schiff ein Leck bekommt und zu sinken droht, ...

Jim ist noch keine vierundzwanzig Jahre alt aber schon Erster Offizier auf der Patna, die mit achthundert Pilgern auf dem Weg nach Mekka beladen ist. Als das Schiff ein Leck bekommt und zu sinken droht, verlässt es die Besatzung, ohne sich um die unter Deck schlafenden Passagiere zu kümmern. Doch die Patna sinkt nicht, ein anderes Schiff entdeckt sie und schleppt sie in den nächsten Hafen. Bevor ihnen der Prozess gemacht werden kann, setzt sich der Kapitän der Patna mit seiner Besatzung ab, lediglich Jim stellt sich der Verantwortung. Bei der Gerichtsverhandlung verliert er seine nautischen Patente. Marlow, der als Beobachter den Prozess verfolgte, hat Mitleid mit Jim und vermittelt ihm schließlich, nach mehreren Fehlversuchen, eine Stelle. Er soll in Patusan, einer abgelegenen Gegend in Südostasien, für Marlows Freund Stein, einem reichen Kaufmann, als dessen Stellvertreter tätig sein. Jim bewährt sich, es gefällt ihm dort, bis er von seiner Vergangenheit wieder eingeholt wird …

„Lord Jim“ Ist ein Roman des polnisch-britischen Schriftstellers Joseph Conrad, der von 1857 bis 1924 lebte. Er zählt zu den großen Meistern der englischen Literatur, seine Werke wurden teilweise verfilmt bzw. dienten als Vorlage und gehören auch heute noch zum Repertoire der Schullektüre. Er sprach vier Sprachen und schrieb mehrere Romane, deren Schauplätze er als britischer Kapitän bereiste. Conrad wurde im Russischen Kaiserreich in Berdytschiw, heute Ukraine, geboren und ist in Canterbury, England, begraben.

Die erste Auflage des Romans „Lord Jim“ in englischer Sprache stammt aus dem Jahre 1900 – die mir vorliegende deutsche Übersetzung ist ein Druck von 1962 der Büchergilde Gutenberg. Schreibstil und Ausdrucksweise sind daher etwas antiquiert und nicht ganz einfach zu lesen. Dennoch war es für mich äußerst lohnenswert, mich mit dem Buch zu befassen.

Der Autor bedient sich verschiedener Erzählperspektiven. Anfangs berichtet ein neutraler Erzähler über die Ereignisse, später übernimmt Marlow, der einigen Freunden und Bekannten über das Geschehen berichtet. Auch Jim kommt einige Male ausführlich zu Wort, während ein Brief von Marlow den Schluss bildet. Der Roman gliedert sich in zwei große Teile, Jims seelische Verfassung und sein Gewissenszustand nach seinem moralischen Fehler an Bord des Auswandererschiffes Patna und seine abenteuerlichen Erlebnisse unter den Eingeborenen von Patusan, wo er sich endlich bewähren kann und sogar die Liebe einer einheimischen Frau, die er Juwel nennt, gewinnt.

Doch nichts ist von Dauer – es handelt sich bei dem Roman schließlich um eine Tragödie!

Fazit: Wer sich gerne mit alten Klassikern befasst, dem kann ich das Buch ans Herz legen – alle anderen, Finger weg!

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