Eine kaleidoskopische Darstellung von Ehre und Moral in der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts
Anna KareninaAnna Karenina gehört zweifelsohne zu den größten Werken des russischen Autors Lew Tolstoi und ist längst nicht mehr aus der Weltliteratur wegzudenken. Der Inhalt dürfte also den allermeisten schon bekannt ...
Anna Karenina gehört zweifelsohne zu den größten Werken des russischen Autors Lew Tolstoi und ist längst nicht mehr aus der Weltliteratur wegzudenken. Der Inhalt dürfte also den allermeisten schon bekannt sein.
Auf knapp 1000 Seiten begleiten wir Leben und Alltag zahlreicher Charaktere, die dem russischen Adel angehören. Grob kann man die Geschichte in zwei wesentliche Handlungsstränge einteilen: Die verhängnisvolle Affäre Anna's mit dem Grafen Wronski einerseits und die steten Bemühungen Konstantin Lewin's seinen Platz in der Welt zu finden.
Ich will gar nicht beschönigen, dass dieses Buch eine wirkliche Herausforderung ist. Es zu Lesen ist ein regelrechtes Mammutprojekt, daher ist Durchhaltevermögen angesagt. Und nicht nur die Länge des Buches sondern auch die Erzählweise des Autors kann zur Belastungsprobe werden. Tolstoi erzählt nicht einfach die Geschichte seiner Figuren, sondern entführt uns in ihr Leben. Das umfasst neben den Spannungsreichen Momenten auch teilweise langatmige Episoden des Alltags. Wir lernen die Sorgen und Ängste der Figuren kennen, lesen über ihre politischen Meinungen und ethischen, wie auch moralischen Überzeugungen und das in einem Ausmaß, dass die Ausführungen bisweilen langweilig werden können.
Ist man aber bereit, sich diesen Widrigkeiten zu stellen, wird einen dieses Buch nicht so leicht wieder freigeben.
Quasi nebenbei zeichnet Tolstoi ein geradezu kaleidoskopisches Bild der russischen Gesellschaft dieser Zeit, wo man neben der unantastbaren und über alles erhabenen Moralvorstellungen des Adels auch viel über Politik, Religion und Kultur des zaristischen Russlands lernt. Besonders in der Figur von Lewin erlebt man ein ständiges Für und Wider zu den verschiedenartigstenThemen. Interessanterweise wird durch diese Einschübe der Fokus von der ursprünglichen Roman-Handlung immer wieder umgeleitet. Ich kann es nicht besser beschreiben, als das man das Gefühl bekommt, das Leben der Figuren im Stillen zu begleiten und in allen, noch so unbedeutenden Einzelheiten erleben.
Und obwohl gerade diese minuzöse Ausgestaltung von "Nebensächlichkeiten" zu besagten langatmigen Textpassagen geführt haben, sind gerade diese der Grund dafür, dass ich zu den Charakteren eine innigere Bindung aufbauen konnte, wie selten zuvor bei einem Buch. Zeitweise kann man geradezu vergessen, dass es sich bei Anna, Oblonski, Lewin, Kitty und wie sie alle heißen um keine realen Personen handelt. Die Erzählung lässt einen über das Fiktive hinaus denken, dass man den beinahe Eindruck bekommt, sie alle seinen historische, reale Figuren, die so einst durch Moskau und St.Petersburg gewandert sind.
Sie sind derart fehlerhaft und unperfekt für sich, wie auch in ihren Beziehungen untereinander, dass sie über die Maßen real erscheinen. Diese Empfindung hat mich nachhaltig beeindruckt und die Schicksale der Charaktere lassen mich auch lange nach Beendigung des Buches nicht los.
Ich möchte nicht zu ausschweifend werden, daher noch ein paar letzte Worte zu der Schmuckausgabe des Coppenrath Verlags, die ich gelesen habe. Grundsätzlich handelt es sich um eine wunderschöne Ausgabe, die mit vielen entzückenden und liebevoll gestalteten Illustrationen und "Beilagen" kommt. Eine Kleinigkeit, die mich durchaus etwas gestört hat, war dass das eingearbeitete Lesebändchen zu kurz ausgefallen ist, um es bequem auf der ganzen Breite des Buches nutzen zu können.
Außerdem bringt diese Ausgabe einiges auf die Waage, daher eignet es sich nicht wirklich für die Handtasche oder das In-der-Hand-Lesen, es sei denn, man möchste das zufällig noch mit Krafttraining verbinden. (Tatsächlich habe ich es einmal ungünstig über eine Kante schwebend abgelegt und bin beim Vorbeigehen mit dem Oberschenkel genau gegen die Ecke des Buches gelaufen.. das gab nen saftigen blauen Fleck) Was ich also sagen will, diese Ausgabe ist etwas schwer zu handhaben.
Insgesamt war "Anna Karenina" für mich ein großer Genuss und die Schmuckausgabe macht im Regal viel her. Ob man die jetzt haben muss, darf jeder für sich selbst entscheiden, allerdings kann ich die Geschichte an sich aus tiefster Überzeugung weiterempfehlen.