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Veröffentlicht am 09.09.2024

Ferrante-Feeling

Das Schweigen meiner Freundin
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Giulia Baldellis Erstlingswerk "Das Schweigen meiner Freundin" entfaltet eine fesselnde Erzählung über die komplexe Freundschaft zwischen Giulia und Cristi. Die Geschichte beginnt mit der 60-jährigen Giulia, ...

Giulia Baldellis Erstlingswerk "Das Schweigen meiner Freundin" entfaltet eine fesselnde Erzählung über die komplexe Freundschaft zwischen Giulia und Cristi. Die Geschichte beginnt mit der 60-jährigen Giulia, die allein in einem düsteren Wald auf ihre alte Freundin Cristi wartet, obwohl sie weiß, dass Cristi nicht erscheinen wird. Giulia ist schwer krank und hat nur noch wenige Monate zu leben. Ihre Familie ahnt nicht, wo sie ist – sie hat ihnen vorgespielt, einen beruflichen Termin wahrzunehmen. Doch insgeheim ist sie in ihren Heimatort zurückgekehrt, um endlich ein Geheimnis zu offenbaren, das sie seit fünfzig Jahren belastet.
Rückblenden führen den Leser ins Jahr 1991, als die zehnjährige Giulia Cristi zum ersten Mal begegnet. Anfangs widerwillig, beginnt Giulia, die Verantwortung für das zurückhaltende, drei Jahre jüngere Mädchen zu übernehmen. Doch schon bald entwickelt sich eine enge Verbindung zwischen den beiden, die durch das Erscheinen von Mattia, einem weiteren Kind im Dorf, auf die Probe gestellt wird. Mattia und Cristi fühlen sich zueinander hingezogen, was in Giulia tiefe Eifersucht weckt.
Baldelli gelingt es, ihre Figuren mit bemerkenswerter Tiefe und Einfühlungsvermögen zu zeichnen. Die Charaktere sind facettenreich und authentisch, was sie lebendig und greifbar macht. Besonders eindrucksvoll ist die Darstellung der ambivalenten Beziehung zwischen Giulia und Cristi, die von unausgesprochenen Gefühlen und schwelender Spannung geprägt ist. Ihre Verbindung ist geprägt von Zuneigung, Rivalität und einer unergründlichen Bindung, die sich über Jahrzehnte erstreckt.
Der Roman ist in sechs Abschnitte unterteilt und deckt einen Zeitraum von über zwanzig Jahren ab. Baldelli fängt die Atmosphäre der 1990er Jahre und das ländliche Leben in einem kleinen italienischen Dorf mit einer außergewöhnlichen Präzision ein. Die Schauplätze, von der engen Wohnung in Bologna bis hin zu den malerischen Landschaften des Dorfes, werden so lebendig beschrieben, dass man als Leser das Gefühl hat, direkt vor Ort zu sein.
Die Stärke des Buches liegt in der intensiven Emotionalität, die Baldelli ohne Übertreibung vermittelt. Die Geschichte bleibt bis zum letzten Satz packend und tief berührend, da sie nicht nur die Themen Freundschaft und Liebe, sondern auch Verrat, unerfüllte Sehnsüchte und die Schattenseiten menschlicher Beziehungen beleuchtet.
"Das Schweigen meiner Freundin" ist ein kraftvoller und feinfühliger Roman, der die Leser in eine bewegende Geschichte voller emotionaler Tiefe zieht. Baldellis erzählerisches Können, gepaart mit der dichten Charakterzeichnung, macht dieses Buch zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis, das lange nachwirkt und unbedingt empfohlen werden kann.

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Veröffentlicht am 05.09.2024

Monolog aus dem Gehirn einer psychotischen Frau

Mein Mann
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Maud Venturas Roman „Mein Mann“ ist ein fesselndes Porträt einer Frau, die in ihrer Liebe zu ihrem Ehemann an die Grenzen der Vernunft gerät. Die namenlose Protagonistin, eine 40-jährige Lehrerin und Übersetzerin, ...

Maud Venturas Roman „Mein Mann“ ist ein fesselndes Porträt einer Frau, die in ihrer Liebe zu ihrem Ehemann an die Grenzen der Vernunft gerät. Die namenlose Protagonistin, eine 40-jährige Lehrerin und Übersetzerin, ist seit 15 Jahren verheiratet und hat zwei Kinder. Doch trotz des scheinbar perfekten Lebens ist sie von einer tiefen Obsession für ihren Mann ergriffen, die ihr gesamtes Dasein bestimmt.
Ventura gliedert die Erzählung in sieben Tage und einen abschließenden Epilog, was dem Roman eine besondere Struktur verleiht. Jeder Tag ist mit einer bestimmten Farbe und Stimmung verbunden, was die intensive, fast klaustrophobische Atmosphäre unterstreicht, in der die Protagonistin gefangen ist. Der Montag ist für sie der bevorzugte Tag, was sinnbildlich für ihren verzweifelten Versuch steht, Kontrolle und Sicherheit in einer Beziehung zu finden, die zunehmend von Misstrauen und Manipulation geprägt ist.
Die Autorin schafft es meisterhaft, die toxische Dynamik in dieser Ehe darzustellen. Obwohl die Frau seit vielen Jahren mit ihrem Mann zusammen ist, fehlt es der Beziehung an einem grundlegenden Element: Vertrauen. Stattdessen kreisen ihre Gedanken unaufhörlich um die Frage, ob ihr Mann sie genauso liebt, wie sie ihn liebt. Jeder Tag wird zu einem Test seiner Zuneigung, und seine Antworten bestimmen ihre Laune und Handlungen. Ihre Bestrafungen für vermeintliche Lieblosigkeiten reichen bis hin zu Affären mit anderen Männern, die jedoch nichts weiter sind als Werkzeuge in ihrem ausgeklügelten Spiel.
Die Protagonistin notiert und organisiert ihr Leben mit akribischer Genauigkeit in farbcodierten Notizbüchern, was anfangs wie ein Ausdruck von Ordnung erscheint, im Laufe der Geschichte jedoch immer mehr als Ausdruck einer Zwangsstörung erkennbar wird. Venturas Schreibstil vermittelt diese Spannung auf subtile Weise und zieht den Leser immer tiefer in das labyrinthische Innenleben der Frau. Man schwankt zwischen Mitleid und Ablehnung, ist fasziniert von ihrer Verletzlichkeit und gleichzeitig abgestoßen von ihren manipulativen Methoden.
Besonders beeindruckend ist, wie Ventura es schafft, die Leser ständig im Ungewissen zu halten. Man weiß nie genau, ob die Protagonistin paranoid ist oder ob ihre Sorgen begründet sind. Ist ihr Mann tatsächlich der treibende Faktor hinter ihrem Verhalten, oder ist es ihre eigene Unsicherheit, die die Beziehung vergiftet? Diese ständige Unklarheit erzeugt eine Sogwirkung, die es schwer macht, das Buch aus der Hand zu legen.
Das Ende des Romans ist überraschend und bringt eine unerwartete Wendung, die viele der zuvor aufgeworfenen Fragen auf eine neue Art und Weise beleuchtet. Ventura liefert hier kein einfaches Happy End, sondern fordert den Leser dazu auf, seine eigenen Vorstellungen von Liebe, Besessenheit und Kontrolle zu hinterfragen.
„Mein Mann“ ist ein intensiver, tiefgründiger Roman, der auf beklemmende Weise zeigt, wie Liebe in Obsession umschlagen kann. Die Protagonistin, in ihrer Zerrissenheit meisterhaft beschrieben, bleibt auch nach dem letzten Satz im Gedächtnis haften. Dieses Buch ist eine eindringliche Erkundung der dunklen Seiten menschlicher Beziehungen und ein absolutes Muss für alle, die psychologisch komplexe Geschichten schätzen.

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Veröffentlicht am 31.08.2024

Wasser verbindet uns und alles

Am Himmel die Flüsse
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„Am Himmel die Flüsse“ von Elif Shafak ist ein beeindruckendes Werk, das historische Tiefe mit einer fesselnden Erzählkunst vereint. Das schlichte, doch eindrucksvolle Cover, das die Symbolik des Wassers ...

„Am Himmel die Flüsse“ von Elif Shafak ist ein beeindruckendes Werk, das historische Tiefe mit einer fesselnden Erzählkunst vereint. Das schlichte, doch eindrucksvolle Cover, das die Symbolik des Wassers einfängt, verweist auf das, was alles vereint und zieht den Leser in die Geschichte hinein.
Elif Shafak erzählt die miteinander verflochtenen Geschichten dreier Figuren, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben, jedoch durch das Wasser auf eine tiefere Weise verbunden sind. Arthur, der im 19. Jahrhundert in den Abwasserkanälen Londons aufwächst, begibt sich später auf eine abenteuerliche Reise in den Nahen Osten, um das Gilgamesch-Epos zu erforschen. Zaleekhah, eine irakischstämmige Hydrologin unserer Zeit, bewegt sich ebenso sicher in den Wasserkreisläufen der Natur wie in den Strömen ihrer inneren Welt. Und Narin, ein kleines Mädchen aus der Gemeinschaft der Jesiden, besitzt eine besondere Gabe, die sie von ihrer Großmutter geerbt hat und die sie eng mit dem Wasser verbindet. Die Erzählstränge bewegen sich auf unterschiedlichen zeitlichen Ebenen, haben alle mit dem Orient und Mesopotamien zu tun und vor allem mit Wasser.
Shafak gelingt es meisterhaft, historische Ereignisse und aktuelle Themen in die Handlung zu integrieren, ohne den Lesefluss zu unterbrechen. Sie beleuchtet die Verfolgung der Jesiden, die Unterdrückung von Frauen und die Zerstörung kulturellen Erbes und stellt wichtige Fragen zu dem richtigen Umgang mit antiken Kunstwerken, die heute in westlichen Museen ausgestellt sind. Diese Themen sind geschickt in die Erzählung verwoben, sodass der Leser sich nicht belehrt fühlt, sondern mitgerissen wird von der Strömung der Geschichte.
Die sorgfältige Recherche, die in die detaillierte Darstellung historischer und geografischer Aspekte eingeflossen ist, verleiht dem Buch eine Authentizität, die selten so wirkungsvoll erreicht wird. Die fließenden Wechsel zwischen den Perspektiven und Zeitebenen verbinden sich am Ende zu einem großen Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Shafaks Sprache ist klar und zugleich poetisch, und sie fängt sowohl die Schönheit als auch die Schrecken der geschilderten Welt auf meisterhafte Weise ein.
„Am Himmel die Flüsse“ ist nicht einfach ein Buch, das man liest, sondern eine Erfahrung, die man durchlebt. Es regt zum Nachdenken an – über die Geschichte der Menschheit und die ewigen Kreisläufe, die uns alle verbinden. Ein tief bewegender Roman, der lange im Gedächtnis bleibt und Elif Shafak als eine der großen Erzählerinnen unserer Zeit bestätigt. Eine klare Empfehlung für alle, die literarische Tiefe mit historischem Bezug schätzen.

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Veröffentlicht am 31.08.2024

Intensiver Roman über Identität und Schicksale

Nur nachts ist es hell
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Judith W. Taschler beweist mit ihrem neuesten Roman einmal mehr, warum sie zu meinen liebsten Erzählerinnen zählt. Die Fortsetzung der Geschichte der Familie Brugger aus dem Buch „Über Carl reden wir morgen“ ...

Judith W. Taschler beweist mit ihrem neuesten Roman einmal mehr, warum sie zu meinen liebsten Erzählerinnen zählt. Die Fortsetzung der Geschichte der Familie Brugger aus dem Buch „Über Carl reden wir morgen“ ist ein eindringliches Porträt über familiäre Bindungen, gesellschaftliche Herausforderungen und die Kraft des persönlichen Engagements. Mit einer einfühlsamen und dichten Erzählweise schafft es die Autorin, mich unmittelbar in das Leben der Protagonistinnen hineinzuziehen und mich ihre Schicksale intensiv und kraftvoll miterleben zu lassen.
Im Mittelpunkt des Romans steht Elisabeth, die jüngste Tochter der Familie Brugger, die ihre Erlebnisse und die Geschichte ihrer Familie in einem monologisierenden Brief an Christina, die Tochter ihrer Nichte, festhält. Besonders fesselnd ist Elisabeths Weg als Frau in der Medizin, der sie zu Themen führt, die in ihrer Zeit und Umgebung tabuisiert sind. Sie engagiert sich mit bemerkenswertem Mut und auch für Frauen, die ungewollt schwanger werden und in ihrer Verzweiflung auf gefährliche „Engelmacherinnen“ angewiesen sind. Judith W. Taschler geht dabei mit großer Sorgfalt und Tiefe auf die schwierigen gesellschaftlichen Umstände ein, ohne je den emotionalen Kern der Geschichte zu verlieren.
Doch nicht nur Elisabeths beruflicher Weg wird beleuchtet. Der Roman zeigt auch die vielen Facetten des Lebens innerhalb der Familie Brugger, die von Geheimnissen und unerwarteten Wendungen geprägt sind. Diese familiären Verstrickungen und die Frage nach der Wahrheit lassen mich immer tiefer in die Geschichte eintauchen und sorgen für eine durchgehende Spannung.
Judith W. Taschler gelingt es, mit einem feinen Gespür für Sprache und Atmosphäre eine Welt zu erschaffen, die nicht nur glaubwürdig, sondern auch packend ist. Die Geschichte entfaltet sich mit einer solchen Intensität, dass man als Leser
in die Entwicklungen beinahe hautnah miterlebt. In ihrem Monolog springt Elisabeth zuweilen in der Zeit ohne dass dies immer kenntlich gemacht würde. Mit Aufmerksamkeit gelingt das Lesen jedoch gut. Das Buch ist gut verständlich ohne die Vorgeschichte aus „Über Carl reden wir morgen“ gelesen zu haben. Beides bewegende Bücher.

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Veröffentlicht am 04.08.2024

Feinfühlige Erzählung von einer temporären Schicksalsgemeinschaft

Taumeln
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Sina Scherzant erzählt von einer kleinen Gemeinschaft von Menschen. Sie haben sich nach dem Verschwinden von Luisas Schwester Hannah zusammengefunden, um regelmäßig - auch noch zwei Jahr nach dem Verschwinden ...

Sina Scherzant erzählt von einer kleinen Gemeinschaft von Menschen. Sie haben sich nach dem Verschwinden von Luisas Schwester Hannah zusammengefunden, um regelmäßig - auch noch zwei Jahr nach dem Verschwinden der schönen Hannah - im Wald nach dem Verbleib der Vermissten zu suchen. Sie eint die Hoffnung auf ein Zeichen von Hannah, die Sehnsucht nach einer Lösung für die eingezwängte Trauer durch den Verlust und sie unterscheiden sich in ihren Motiven und Lebenslagen.

Die Autorin kann die einzelnen Figuren und deren persönliche Tiefe gut in den Äther der Geschichte bringen. Ganz feinfühlig, behutsam und wie sprachliches Pulver erhält jede handelnde Person eine Bühne, wird jede Zwischenmenschlichkeit authentisch platziert und kann mich beim Lesen jede Schwingung emotional betroffen machen. Das Buch lebt in einer ganz eigenen Geschwindigkeit. Obwohl der Plot keine reißerischen Wendungen hat und die Story plätschert, muss ich immer weiter lesen und bin gefangen in den Sphären dieser Menschen, die jeder auf der Suche nach etwas anderem sind.

Das Buch hat keinen besseren Titel als „Taumeln“. Jeder einzelne dargestellte Charakter taumelt auf seine Weise ebenso wie Luisa und ihre Eltern im Mäander des Lebens. Poetisch, tiefgehend, fesselnd.

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