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Veröffentlicht am 27.09.2024

Fast romantisch

Hey guten Morgen, wie geht es dir?
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Die Tänzerin Juno lebt in Leipzig zusammen mit ihrem Mann. Dieser, Jupiter, ist schwer krank und braucht Junos Unterstützung. Das Geld ist knapp und der Zerstreuung wenig. Juno kann nicht gut schlafen. ...

Die Tänzerin Juno lebt in Leipzig zusammen mit ihrem Mann. Dieser, Jupiter, ist schwer krank und braucht Junos Unterstützung. Das Geld ist knapp und der Zerstreuung wenig. Juno kann nicht gut schlafen. Also hängt sie spät abends oft am Computer und scrollt so vor sich hin. Immer häufiger stößt sie auf Love-Scammer und zum Glück kennt sie die Mache und das Wort. Sie wird auf keinen von ihnen hereinfallen. Ein wenig dreht Juno den Spieß um und lügt was das Zeug hält bis sie blockiert wird. Bis da einer ist, der nett antwortet, dem sie ein wenig von der Wahrheit erzählt.

Möchte man in Junos Haut stecken? Sie ist nicht mehr ganz jung, aber Tänzerinnen müssen ihren Körper fit halten und so bekommt sie hin und wieder Auftritte. Jupiter ist Autor, aber krank. Manchmal müssen sie vom Pflegegeld leben, doch machmal gibt es einen unerwarteten Geldsegen. Dann wieder flüchtet Juno für ein paar Tage in ihr Elternhaus, um mal rauszukommen, um das Schlafen wieder zu lernen. Ihr und Jupiter geht es nicht schlecht, es könnte nur einfacher sein. Da sind die Nachrichten, die sie mit dem Unbekannten austauscht wie eine Insel.

Auf der Shortlist der Nominierungen für den Deutschen Buchpreis ist dieses Buch zu finden. Und genau darüber hat man selbst es auch gefunden, sonst wäre es leicht zu übersehen gewesen. Doch dieser kleine Roman besticht mit seiner Leichtigkeit, in der doch einiges an Tiefgang verborgen ist. Vor Love-Scammern wird gewarnt, die Schicksale einiger Frauen, von denen Juno erfährt, sind mitunter herzzerreißend. Schön, wenn es mal eine einen Scam mit den Scammern wagt. Und doch handelt Juno auch aus einer Not heraus. Obwohl sie und Jupiter sich einander zugetan sind, leben sie doch nebeneinander her. Da bekommt der Nachrichtenaustausch etwas von einem Ersatz und auch etwas Bittersüßes. Man möchte sie wie Juno auf den Boden legen und die Decke betrachten. Ein Roman, der richtig auf der Shortlist tanzt.

Veröffentlicht am 22.09.2024

Der Anruf

Mauern und Lügen
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Mit einem unerwarteten Anruf wird Hauptkommissar Philipp Gerber über einen Anschlagsplan auf seinen ehemaligen Chef Hiram C. Anderson informiert. Alarmiert eilt er zum Frankfurter Flughafen, wo sich die ...

Mit einem unerwarteten Anruf wird Hauptkommissar Philipp Gerber über einen Anschlagsplan auf seinen ehemaligen Chef Hiram C. Anderson informiert. Alarmiert eilt er zum Frankfurter Flughafen, wo sich die Maschine schon im Anflug befindet. Mit knapper Not kann er das Attentat verhindern. Dabei kommt einer der Attentäter um, während die andere, eine russische Scharfschützin. Diese pocht auf ihren Diplomatenstatus. Derweil ist Gerbers Lebensgefährtin, die Journalistin Eva Herden in Berlin. Anfang August 1961 berichtet sie über die täglich steigenden Zahlen von Menschen, die aus der DDR flüchten. Um die Stimmen der Menschen einzufangen, fährt sie zu den Auffanglagern und landet unversehens im Osten der Stadt.

Zum vierten Mal kommt Kommissar Philipp Gerber, der im zweiten Weltkrieg auf Seiten der Amerikaner kämpfte, in direkte Berührung mit der deutschen Geschichte. Durch Anderson erfährt er von einem möglichen Verräter in den Reihen der deutschen Behörden. Und Eva bringt aus Ostberlin ein Gerücht über einen möglichen Mauerbau mit, von dem sowohl der Bundeskanzler als auch die Amerikaner erfahren sollen, damit verhindert werden kann, dass die Menschen in Ost und West völlig voneinander abgeschottet werden. Zu allem anderen versucht Philipp Gerber auch die Hintergründe zu dem Attentat aufzuklären, wenn schon die Täterin nicht dingfest gemacht werden konnte.

Wie schon bei seinen anderen Krimis um Hauptkommissar Philipp Gerber und Eva Herden versteht es der Autor gekonnt, seine Fälle mit Ereignissen der deutschen Zeitgeschichte zu verbinden. Hätte der Mauerbau verhindert werden können? Doch welche Auswirkungen hätte das auf die dauernde Kriegsbedrohung aus dem Osten gehabt? Hinzu kommt noch, dass Gerber persönlich eingebunden ist und ebenfalls eine Mission in Berlin zu erfüllen hat. Eva Herden sieht einige Dinge aus einer anderen Perspektive, was die Lektüre umso spannender macht. Gut, dass sie und Philipp nicht immer einer Meinung sind. So erhält man selbst nochmal andere Denkansätze zu einer fesselnden zeitgeschichtlichen Phase. So mag man Geschichte, so mag man Krimis oder Thriller.

Veröffentlicht am 13.09.2024

Kesselbach

Reichskanzlerplatz
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Die Mutter seines Schulkameraden Helmut ist früh gestorben. Erst viel später traut sich Hans, einen Kondolenzbrief zu schreiben. Daraufhin werden er und Helmut Schulfreunde. Eine Stiefmutter namens Magda ...

Die Mutter seines Schulkameraden Helmut ist früh gestorben. Erst viel später traut sich Hans, einen Kondolenzbrief zu schreiben. Daraufhin werden er und Helmut Schulfreunde. Eine Stiefmutter namens Magda gibt es für Helmut, die seine Mutter in keiner Weise ersetzen kann. Mit den Jahren empfindet Hans mehr für Helmut. In den 1920ern hätte man darüber vielleicht noch hinweg gesehen. Helmut beginnt aber, sich für die nur wenige Jahre ältere Stiefmutter zu interessieren. Ein tragischer Todesfall bereitet aber allen Träumen ein Ende. Hans geht für einige Zeit zum Militär und beginnt dann sein Jurastudium. Als er Magda wieder trifft, hat diese den Joseph Goebbels kennengelernt.

Hans Kesselbach erzählt von seiner Zeit mit Helmut, die ihm im Leben die Wichtigste war. Doch auch Magda Quandt, später Goebbels, spielt eine große Rolle in seinem Leben. Natürlich kommt die Zeit, in der er seine Homosexualität noch mehr verbergen muss. Die Nazis gewinnen immer mehr an Einfluss, es scheint erst nicht so schlimm, Irgendwann werden sie sich selbst ausmerzen. Doch Hans erkennt, niemand unternimmt etwas. Und so wird es schlimmer und schlimmer. Hans ist nicht überzeugt, aber er will nicht verschwinden, also macht er soweit mit, wie es ihm notwendig erscheint. Magda jedoch, ist mit Überzeugung bei der Sache.

Wie beklemmend ist diese Beschreibung zunächst des Niedergangs der Weimar Republik, des Aufstiegs des dritten Reichs und schließlich dessen Untergangs. Spannend ist dabei die gewählte Sichtweise des Homosexuellen Hans, der sich nach der relativen Freiheit in der Weimarer Republik immer mehr verstecken muss. Warum greift niemand ein? Die Birten, die Franzosen? Haben sie wirklich geglaubt, die Sache werde sich selbst totlaufen? Hat sie irgendwie, allerdings mit den schlimmsten und größtmöglichen Verlusten. Irgendwann war es zu spät, etwas zu unternehmen. Welche Rolle spielten Frauen wie Magda Quandt? War sie durch ihre Geltungssucht so vernebelt, dass sie gar nichts gemerkt hat? Und immer schwingt diese immer weiter anwachsende Beklemmung mit. Die Mitläufer sind auch mitschuldig geworden. Nach der Lektüre muss man doch einmal durchatmen.

Der Roman steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreis 2024 und da hat die Jury eine gute Wahl getroffen.

Veröffentlicht am 11.09.2024

Vertrauen

Treue
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In den 1920er Jahren ist Benjamin Rask wohl einer der gewieftesten Finanzmagnaten in New York. Doch sein Leben wird erst ganz als er seine Frau Helen kennenlernt. Dass diese ihren geliebten Vater an eine ...

In den 1920er Jahren ist Benjamin Rask wohl einer der gewieftesten Finanzmagnaten in New York. Doch sein Leben wird erst ganz als er seine Frau Helen kennenlernt. Dass diese ihren geliebten Vater an eine geistige Erkrankung verloren hat, wirkt fast wie ein grausames Omen. Dennoch sind die Eheleute in der ersten Zeit glücklich. Mit seinen genialen Händchen schafft es Rask sogar dem Börsencrash des Jahres 1929 zu entgehen und aus einer Situation, die wohl viele in den Ruin getrieben hat, noch Gewinn zu schlagen. Doch nicht immer ist alles so wie es scheint.

Aus vier Perspektiven wird die Geschichte eines genialen Finanziers erzählt. Auf den ersten Blick scheint es sich um sehr unterschiedliche Geschichten zu handeln. Erst beim Lesen begreift man, dass es doch um das gleiche Thema geht. Ein Mensch hat so viel Vorausschau, dass er dem großen Crash zuvorkommt. Doch nicht umsonst werden unterschiedliche Sichtweisen gewählt, um die Story zu erzählen. Nach und nach ergeben sich immer mehr Feinheiten, die die Geschichte in einem völlig anderen Licht dastehen lassen.

Trust lässt sich soweit bekannt unter anderen mit Finanztrust, Investmentgesellschaft oder auch mit Vertrauen übersetzen. Wie der Roman zu seinem deutschen Titel „Treue“ gekommen ist, erschließt sich nicht so ganz. Zumindest in der englischsprachigen Ausgabe wird Treue nicht in nennenswerten Umfang erwähnt, wenn überhaupt.

Der Autor hat mit seinem Roman den Pulitzer Preis 2023 gewonnen und manchmal stechen Preisbücher wirklich hervor und manchmal sind sie einfach nur schwierig zu lesen. Und so war man vielleicht etwas skeptisch. Als sich nun jedoch die Gelegenheit ergab, das Buch im Original zerwerfen, war die Neugier doch vorhanden. Und siehe da, das Buch sticht durchaus heraus. Zum einen ist da die Form der unterschiedlichen Perspektiven und zum anderen der Inhalt an sich. Dieser handelt von einem Finanzmagnaten und seiner Frau und wie die berufliche Tätigkeit und die Ehe sich aus verschiedenen Blickwinkeln darstellt. Da wird aus einer konventionellen Geschichte eine erstaunliche. Um Sympathie geht es allerdings weniger, was vielleicht etwas fehlt. Dies tritt aber hinter den Entdeckungen, die das Buch bietet, zurück.

Veröffentlicht am 08.09.2024

Eine alte Dame erzählt

Das Philosophenschiff
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Die hundertjährige Architektin Anouk Perleman-Jacob hat vor einiger Zeit mit dem Rauchen begonnen. Sie will es dem Tod, der sicher bald kommt, etwas leichter machen. Weil der Schriftsteller dafür bekannt, ...

Die hundertjährige Architektin Anouk Perleman-Jacob hat vor einiger Zeit mit dem Rauchen begonnen. Sie will es dem Tod, der sicher bald kommt, etwas leichter machen. Weil der Schriftsteller dafür bekannt, nicht immer ganz bei der Wahrheit zu bleiben, ist genau der Richtige, um einen Teil ihrer Lebensgeschichte zu erzählen. Und tatsächlich nimmt der Autor sich der Aufgabe an. Manchmal ist es leichter sich unter Fremden zu unterhalten und seine Geschichte zu erzählen. Als junges Mädchen wurde sie gemeinsam mit ihren Eltern im Jahr 1922 aus Petersburg verbannt. Auf einem Passagierschiff müssen sie Russland mit unbekanntem Ziel verlassen.

Anouk Perleman-Jacob hat ihren Weg gemacht. Über Deutschland und Amerika hat sie ihr Weg nach Österreich geführt. Doch von ihrer Karriere, ihrem Privatleben will sie nur am Rande erzählen. Nein, ihr geht es um die Ausweisung von ihrer eigenen Regierung aus ihrem Heimatland, aus ihrer Heimatstadt. Was hat ihrer Meinung nach dazu geführt? Und wieso verliert das Schiff plötzlich an Fahrt? Geht es ihnen nun allen an den Kragen? Offensichtlich nicht, denn dann wäre Anouk nicht mehr da, um zu berichten. Ein anderes Boot geht längsseits und ein geheimnisvoller Reisender wird an Bord gebracht.

Wenn ein Roman zum Nachforschen animiert, was Fiktion ist und was Wahrheit, dann ist der Ansatz gelungen. Wie auch in den Informationen zu lesen, handelt es sich tatsächlich teilweise um geschichtlich belegte Ereignisse. Anouk und ihre Lebensgeschichte in diesen Kontext hineinzuschreiben hat etwas Besonderes. Man fragt sich selbst, wie wäre es, wenn das Land einen als unliebsam abstempelt und einen ausweist. Keine schöne Vorstellung. Das macht etwas mit einem, das Weltbild wird verrückt. Vielleicht wird man auch selbst verrückt. Anouks Resilienz ist spektakulär und auch wie pfiffig sie mit dem Autor spielt. Da muss der Autor fast schon kriminalistische entwickeln, um zu kontern. Einzig der Sinn mancher Nebensätze erschließt sich nicht immer. Anouks Geschichte dagegen berührt, der geheimnisvolle Fremde gibt Rätsel auf und die Nominierung dieses Romans sowohl für den deutschen als auch für den österreichischen Buchpreis erscheint mehr als gerechtfertigt.

Das Titelbild mit dem in der Ferne sichtbaren Dampfschiff in der ein wenig diesig und trostlos wirkenden Küstenlandschaft passt gut zu der Stimmung, die einen wohl überfällt, wenn man vom eigenen Land den Stuhl vor die Tür gestellt bekommt.