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Veröffentlicht am 14.09.2024

Feststecken in der Aquariumwand

Als wir Schwäne waren
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Behzad Karim Khanis neuer Roman „Als wir Schwäne waren“, erschienen 2024 bei Hanser Berlin, schließt von der poetischen Wucht her nahtlos an „Hund, Wolf, Schakal“ an, lässt aber auch viele Lücken und kommt ...

Behzad Karim Khanis neuer Roman „Als wir Schwäne waren“, erschienen 2024 bei Hanser Berlin, schließt von der poetischen Wucht her nahtlos an „Hund, Wolf, Schakal“ an, lässt aber auch viele Lücken und kommt so aus einer einseitig wirkenden Betrachtungsweise nicht ganz heraus.

Das Buch startet mit einem Paukenschlag von Prolog, gerichtet an ein 5-jähriges Kind, von dem wir nicht entschlüsseln werden, ob es sich hier um den Autor selbst handelt. Direkt der erste Absatz hat mich mitten ins Herz getroffen, hier steckt schon so viel drin! Lieblingssatz daraus: „Und ich, tausend Lügen klüger, sagte nicht, dass fair ein so einfaches Wort ist, und Gerechtigkeit ein so schwieriges“. Um diese Gerechtigkeit wird es viel gehen auf den knapp 200 Seiten die folgen und um das Konzept von Heimat, und die Suche nach einer solchen, nach einem Ankommen, sie treibt den Protagonisten Reza den ganzen Roman lang um. Sehr berührend und auch bedrückend die Kindheitsschilderung angekommen in Deutschland, in Bochum, abgeschieden vom Rest der Stadt, das Fremde, die Versuche, Gemeinschaft zu finden, die sich schnell immer wieder im Keim ersticken, aber auch die eigene, selbstgewählte Abgrenzung. Die Diskriminierung und der Alltagsrassismus bis hin zur offenen Provokation. Gewalt als einziger Weg nicht unterzugehen. Mit wenigen klaren und sprachspielerisch großartigen Sätzen schafft der Autor es immer wieder, Kulturunterschiede deutlich zu machen. Ich liebe dabei seinen Humor, mit dem er immer so viel Leichtigkeit in die Schwere bringt. Viel Zeitkolorit der 90er Jahre, dass er auch mit wenigen Informationen greift. Der Stolz der Perser als wichtiges Thema, etwas, dass unsere Gesellschaft immer wieder einfach ignoriert, aber auch die Sanftmut, die unendliche Geduld, die große Gastfreundschaft, das immer helfende Herz, die ausgeprägte Höflichkeit, die leisen Stimmen.

Behzad Karim Khani schreibt episodenhaft und fragmentarisch, er erzählt ein schnelles Aufwachsen, das sich immer mehr mit Gewalt und Verachtung füllt, ohne dass man lesend den Finger darauf legen kann, worin diese fußen. Reza hat einen starken Hang, sich unbeteiligt zu geben, wirkt emotional abgekoppelt, fast dissoziiert teilweise, wie er zwischen hoher Gewaltbereitschaft und der absoluten Unlust auf Gewalt und Konflikt pendelt. Gefühleanhalten nennt er selbst diesen Zustand. Da wir nichts über seine Reise nach Deutschland erfahren, ist es schwer zu sagen, ob es ein zugrundeliegendes Trauma gibt. Das ist ein nicht wegzuredendes Manko des Romans, der Autor gibt uns keinerlei Hintergrundinformationen zu seinem Protagonisten. So wird die Gewalt- und Abstiegsspirale, in die er sich aktiv begibt, schwer nachvollziehbar, die Anklagehaltung findet keine lesbaren Wurzeln. Reza fühlt sich in seiner Würde stark verletzt, es wird jedoch nicht identifizierbar, wann und wodurch das geschah.

Was aber sehr deutlich wird, ist das Gefühl, nicht mehr heilen zu können und keinen wirklichen Platz auf der Welt zu haben. Hierfür findet der Autor ein starkes Bild, wenn er von einem Aquarium spricht, wo er immer unter Beobachtung steht, aber auf der anderen Seite der Wand ist kein Leben möglich. Und so wird er sich in die Wand bohren – wie er das macht, das erfährt man im Buch.

„Hier gibt es nichts für dich, wofür es sich zu brennen lohnt.“ Sagt Rezas Mutter und sie trifft für mich den Nagel auf den Kopf. Aus diesem Zustand gibt es viele Auswege, einer ist Adrenalin. Was können wir tun, gegen die Leere, in die viele Geflüchtete geraten?
Behzad Karim Khani findet durchweg eine starke Sprache für dieses Gefühl, unfassbar schöne Bilder, man möchte jeden Satz unterstreichen, ausschneiden, aufhängen. Doch es bleiben auch sehr viele Fragen offen, was der lesenden Person oft die Möglichkeit zur Empathie nimmt.

Seinen Frieden nur zu finden, indem man versucht, sich im Dazwischen einzurichten, weil das das Beste ist, was man überhaupt erreichen kann – das finde ich persönlich ganz furchtbar. Damit dürfen wir uns auseinandersetzen, um Alternativen zu finden zum Adrenalin. Vielleicht durch das Lesen dieses Buches.

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Veröffentlicht am 08.09.2024

Ein Buch wie eine Glasperle

Das Geheimnis der Glasmacherin
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Tracy Chevalier legt mit „Das Geheimnis der Glasmacherin“, erschienen 2024 bei Atlantik/Hoffmann und Canmpe, einen sehr besonderen historischen Roman vor, der insbesondere für Venedig-Liebhaber:innen ein ...

Tracy Chevalier legt mit „Das Geheimnis der Glasmacherin“, erschienen 2024 bei Atlantik/Hoffmann und Canmpe, einen sehr besonderen historischen Roman vor, der insbesondere für Venedig-Liebhaber:innen ein Must-Read ist. Das Buch kommt mit einem motivisch zauberhaften Schutzumschlag und ist zudem mit einem Farbschnitt versehen, der seinesgleichen sucht, eine Pracht im Bücherregal!

Erzählt wird die Geschichte von Orsola Rosso, Tochter einer Glasmacherfamilie auf der Insel Murano vor Venedig im Jahr 1486, die nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters heimlich die Kunst des Glasmachens und der Glasperlenherstellung erlernt, um den Familienbetrieb zu retten. Der besondere Kniff dieses Romans, der sehr viele Informationen über die Kunst des Glasherstellens behält und einen tollen Einblick in die Historie und viel Lokalkolorit der Lagungenstadt Venedig und der Insel Murano bietet, ist, dass Chevalier dabei die Zeit auf der Insel Murano in einem anderen Tempo als auf dem Festland und in Venedig vergehen lässt – was ihr die Gelegenheit gibt, ein zeitliches Panorama vom 15. Jahrhundert bis in die heutige Zeit zu spannen – ein wirklich beeindruckendes Projekt. Dabei werden insbesondere die Ereignisse rund um die Lagunenstadt seziert und die Lesenden lernen viel über die besondere Beziehung der Lagunenbewohner zu den Festland-Italienern. Auch lässt Chevalier immer wieder italienische Worte einfließen, was als Stilmittel genutzt die Lesenden sehr das italienische Flair spüren lässt.

Ich fand es sehr spannend, über die strikten Regeln der Glasmacherkunst zu lesen, die eine ganz eigene Welt formen – und natürlich hat auch Orsolas Geschichte ihre Besonderheiten, über die ich nicht zu viel verraten will. Insgesamt war es mir manchmal fast ein bisschen viel der Information, weshalb ich mich nicht ganz zu 5 Sternen durchringen kann, aber ich habe diesen Roman insgesamt sehr genossen und bin vor allem von dem Formexperiment (diese lassen sich ja bei historischen Romanen doch eher selten finden) sehr begeistert. Eine klare Leseempfehlung für dieses Buch, das selbst wie ein wunderschönes Muranoglas schimmert.

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Veröffentlicht am 18.08.2024

Viele Geheimnisse verborgen im Mulch der Vergangenheit

Im Unterholz
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„Im Unterholz“, das preisgekrönte Kriminalroman-Debut von Sara Strömberg, erschienen 2024 bei Blanvalet, ist ein packender Krimi, der vor allem durch seine dichte psychologische Konstruktion besticht. ...

„Im Unterholz“, das preisgekrönte Kriminalroman-Debut von Sara Strömberg, erschienen 2024 bei Blanvalet, ist ein packender Krimi, der vor allem durch seine dichte psychologische Konstruktion besticht. Ummantelt von einem atmosphärischen, klug designten Cover in Schwarz-weiß-gelb und versehen mit einem neon-gelben Farbschnitt (Woher kommt eigentlich dieser aktuelle schwarz-gelb-Trend im Krimigenre?), im Innencover mit einer Karte von Schweden ausgestattet, die den Nicht-Expert:innen räumliche Orientierung schenkt, tauchen die Lesenden auf etwas mehr als 400 Seiten immer mehr ab in das Unterholz eines Waldes aus Vergangenheit und Heute.
Ein dicker Pluspunkt direkt vorab: Die ermittelnde Person stellt eine Frau in den Wechseljahren dar und räumt so unromantisch, unverklärt und ehrlich mit dieser Zeit im Leben einer Person mit weiblichen Hormonen auf, dass mich allein das schon sehr für diesen Krimi eingenommen hat. Vera Bergström ist beruflich gescheitert, von ihrem Partner verlassen, von den Hormonen gepeinigt und auch sonst ganz allgemein am unteren Ende der Fahnenstange angekommen. Und auch wenn das vielleicht ein bisschen viel Scheiter heiter Story auf einmal ist, hat mich diese Figur, die sich letztlich auch purer Lebenslangeweile in den neuen Fall stürzt, perfekt abgeholt.
In der Kleinstadt Järpen wird eine Frau ermordet aufgefunden – und da die Polizei auf der Stelle tritt und es keine wirkliche lokale Presse gibt, macht sich Vera auf die Suche nach Informationen. Je weiter sie dabei Schicht für Schicht diesen Fall entblößt, desto mehr wird ihr journalistisches Fieber wieder angefixt, bis sie am Ende sehr viel riskiert, um diesen Fall aufzuklären, aber unter Umständen damit auch der Lethargie entkommt, die sie seit Jahren fesselt. Bergström macht die Atmosphäre einer Kleinstadt geschickt sichtbar und geht immer mehr verschlungene Waldpfade mit ihrer Handlung entlang, so dass hinter jeder Kurve wieder eine neue scheinbare Lösung auf die Lesenden wartet. Über weite Strecken ist das vor allem psychologisch brillant geschrieben, dieser Roman hat eher Ruhe als Tempo, seine Suspense generiert sich nicht so sehr aus Action, sondern viel mehr aus den Abgründen, die das Leben in einer Einöde mit sich bringen kann. Ein kleines Manko sind die doch sehr vielen Zufälle, die Vera bei ihrer Wahrheitssuche weiterhelfen, so viele, dass hier die Grenze zur Plausibilität für mich doch klar überschritten wird. Und insgesamt wäre der Handlungsbogen meiner Meinung nach auch mit 50 Seiten weniger ausgekommen. Wundervoll geschrieben dagegen die vielen Beobachtungen über das Altern als schmerzlichen Prozess und die fast schon philosophischen Einschübe zur Frage, ob Schuld überhaupt abgebüßt werden kann. Gibt es Neuanfänge? Wann hat der fehlende Mensch genug gelitten?
Ein toller Kriminalroman für den nun kommenden Herbst und Winter.

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Veröffentlicht am 16.06.2024

Zivilisation als Fessel

Darwyne
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„Darwyne“, der neue Thriller von Colin Niel, kommt in einer großartigen Aufmachung, das düstere Cover in Grünschwarztönen, Bäume, Amazonaswald und viele Wurzeln, die in 3D-Haptik mit einer glänzenden, ...

„Darwyne“, der neue Thriller von Colin Niel, kommt in einer großartigen Aufmachung, das düstere Cover in Grünschwarztönen, Bäume, Amazonaswald und viele Wurzeln, die in 3D-Haptik mit einer glänzenden, rauen Extraschicht versehen sind, darin ein Leguan versteckt, den man erst auf den zweiten Blick entdeckt, exquisites Spiel mit Licht und Schatten. Ein Klappentext, der endlich mal wieder nicht zu viel verrät, sondern genau im richtigen Maß neugierig macht. Colin Niel selbst ein vielgelobter und mehrfach preisgekrönter Thrillerschreiber, der schon zuvor zwei sehr besondere Thriller vorlegte. Da sind die Erwartungen hoch.

Darwyne, und mit Sicherheit erinnert der Name nicht zufällig an Darwin und das Survival of the Fittest, ist ein 10-jähriger Junge, der im Slum Bois Sec allein mit seiner Mutter am Rande des Amazonaswaldes lebt. Er kam mit einer Fehlstellung seiner Füße auf die Welt und auch sonst offenbart sich im Verlauf des Thrillers so manche Fehlstellung – in seinem Leben. Die Mutter hat gerade wieder einen neuen Lover, „Stiefvater Nummer 8“. All seine Vorgänger sind ebenso spurlos verschwunden, wie sie zuvor plötzlich in Darwynes Leben aufgetaucht sind. Das Leben im Slum ist hart und immer wieder für Darwyne von Gewalt geprägt, doch je weiter der Thriller voranschreitet, umso klarer wird, dass nicht die augenscheinliche Gewalt das wirkliche Problem ist.

Niel schreibt dicht und beklemmend, atmosphärisch stark und mit vielen Details, die einen die Menschen, die Hitze, den Dreck und die Kargheit des Lebens physisch erleben lassen. Je mehr die Handlung sich entwickelt, umso tiefer geraten wir in einen Knoten, der den Wurzeln auf dem Cover ähnelt und immer mehr die Luft nimmt. Darwyne ist ein Ausnahmekind, eine Inselbegabung, so unfähig er ist, im Alltagsleben von Slum, Familie und Schule zurechtzukommen, so sehr kommt er im Wald ins Leben. Hier verwandelt er sich in ein vollkommen anderes Wesen, perfekt angepasst an sein Habitat. Ich will nichts von der Handlung vorwegnehmen, gesagt werden kann aber, dass ich lange nichts so Grausames gelesen habe – und hier reden wir überhaupt nicht über Splatter oder explizite Szenen, die Grausamkeit entsteht ganz aus dem tiefsten Abgrund der menschlichen Psyche heraus. Die Genialität von Niel besteht darin, dass all das Unvorstellbare eben doch vorstellbar ist. Weshalb mich Darwyne nicht mehr losgelassen hat, sowohl die Figur als auch der Thriller, den ich in einem Rutsch gelesen habe.

Punktabzug gibt es leider dennoch, das Finale basiert auf einem Handlungsschritt, der aus dem Verhalten der Figuren zuvor einfach komplett unlogisch ist. In keiner möglichen Welt würden sie, so wie sie von Niel konstruiert sind, so handeln. Auch wenn es nachvollziehbar ist, warum sie für den Plot so agieren, hätte hier ein besserer Anlass geschaffen werden müssen.

Insgesamt liegt hier aber ein sehr besonderer Thriller vor, ganz ab vom Mainstream, mit tollen Figuren, einem Kind, dass mir noch lange nachgehen wird und einer Story, die einem gerade auch emotional alles zusammenzieht, atmosphärisch dicht und sprachlich sehr gelungen. Ein rundum beeindruckendes Leseerlebnis.

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Veröffentlicht am 03.06.2024

Indridason kann auch historisch!

Der König und der Uhrmacher
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„Der König und der Uhrmacher“ von Arnaldur Indridason, erschienen bei Bastei Lübbe, ist ein Buch, das zwischen den Welten reist – einerseits ganz real zwischen Dänemark und Island, andererseits ideell, ...

„Der König und der Uhrmacher“ von Arnaldur Indridason, erschienen bei Bastei Lübbe, ist ein Buch, das zwischen den Welten reist – einerseits ganz real zwischen Dänemark und Island, andererseits ideell, indem der Roman sich souverän auf der Grenze verschiedener Genres seinen Weg sucht. Indridason kennt mensch primär von seinen einzigartigen Krimis – mit diesem neuen Werk beweist er, dass er auch einen historischen Roman unterhaltsam und fesselnd zu schreiben vermag. Sein Erstling im historischen Genre kommt in einem schön bebilderten Schutzumschlag: Einfach ästhetisch mit dem angedeuteten Ziffernblatt und dem Himmel wie Eis, davor der Palast. Dazu ein schönes atmosphärisches Bild im Innencover, wobei es schade ist, dass es zweimal dasselbe ist. Das orange Hardtop in Leinenoptik greift das Orange der Schrift im Cover auf, ebenso das Lesebändchen – und Lesebändchen lieben wir alle, oder? Optik also 10/10.

In der Handlung trifft der islandstämmige Uhrmacher Jón Sívertsen im Königspalast unverhofft auf König Christian VII, und während Jón, auch eher durch Zufall, den Versuch unternimmt, eine einzigartige astronomische Uhr instand zu setzen, entwickelt sich zwischen diesen zwei Charakteren eine immer intensivere Beziehung. Vom König vorangetrieben erzählt der Uhrmacher von seinem ehemaligen Leben auf Island und den harten Bedingungen, die dort – unter der Macht der dänischen Krone und Christians Vater – herrschten. So entfaltet sich immer mehr in schnellen Wechseln eine Island- und eine Dänemarkhandlung, erst spät im Buch wird offenbar, wie diese zusammenhängen und warum König Christian sich so brennend für Jóns Leben interessiert. Die Beziehung zwischen beiden ist von einigen Ups and Downs und wilden Verwicklungen geprägt. Indridason zeichnet die Charaktere wunderbar sperrig, wie alte Baumwurzeln kommen sie einem vor, und gegensätzlich, der König ist sehr sprunghaft und emotional, Jón der Uhrmacher formt mit seiner Vorsicht und Bedächtigkeit ein gutes Gegenstück. Es ist berührend, mit wie viel Eifer er versucht, die alte Uhr zu restaurieren, obwohl sich niemand für sie interessiert. Eine gute Parabel auf das Leben vielleicht, viele Dinge, die niemand sieht, erhalten Wert, wenn mensch sich um sie kümmert. Auch dem König tut der Kontakt richtig gut. Diese Menschen gehen wie die gesamte Handlung auf reale historische Figuren und ein Stück Zeitgeschichte zurück, es macht viel Freude, sich damit nebenher oder nach dem Buch zu beschäftigen, Indridasons lebendige Phantasie hat sehr neugierig gemacht. Der Schreibstil zwischen den Handlungen variiert zunächst deutlich, sehr märchenhaft in der Palasthandlung und eher wie ein historischer Roman oder ein Bericht in der Islandhandlung – im weiteren Verlauf nähern sich die beiden Ebenen stilistisch immer mehr an. Das Buch lässt sich sehr entspannt und dabei spannend lesen, Indridasons besonderer Stil zeigt sich auch hier, insbesondere findet er wirklich beeindruckend gute Übergänge und Sprachbilder, die die Gegensätze der Welten sehr aktiv unterstreichen. Und auch philosophische Fragen kommen nicht zu kurz. Was ist eigentlich Zeit und wie ist sie entstanden? Haben wir Angst vor dem Tod oder Sehnsucht nach dem Leben? Was ist Wahrheit – und wie geht man mit ihr um? Und wer hat hat mehr Recht – die Ordnung oder die Menschlichkeit?

Insbesondere das letzte Drittel des Romans hat es emotional ganz schön in sich und ist nichts für schwache Nerven. Indridason zeichnet ein sehr nüchtern-wahrhaftiges Bild einer Zeit, in der der einzelne Mensch wenig galt und die Herrschenden Entscheidungen aus der Distanz trafen. Vielleicht insofern auch ein gutes Buch, heute, um sich zu erinnern, dass Demokratie ein kostbares Gut ist. Am Ende schließt sich der Kreis des Romans, indem König Christian genauso wie am Anfang, in exakt gleicher Manier, wieder in der Werkstatt auftaucht. Dass dann fast die Uhr hingerichtet wird und nur die Liebe dieses Schicksal abwenden kann – das ist eine schöne Message. Gut, dass es die Liebe gibt in der Welt! Möge sie uns möglichst oft zu den richtigen Entscheidungen führen und weg von den falschen. Damit die Vergangenheit uns nur an Gutes erinnert. Und es möglichst wenig zu bereuen gibt – das könnte eine mögliche Lehre sein, die dieser Roman uns mitgibt.

Insgesamt hat das Buch mir sehr gut gefallen, toll zu sehen, dass Indridason auch historisch kann! Was den fünften Stern verhindert, ist das Erzähltempo und die zunehmenden Erzähldopplungen in der zweiten Hälfte des Buches, hier findet der Autor keine sinnvollen Erzählanlässe mehr, um die Handlungen direkt zu verbinden, was auf Dauer etwas ermüdend war. Aber dennoch eine klare Leseempfehlung, allein schon, um die Bekanntschaft mit König Christian VII zu machen, lohnt sich diese Lesereise.

Ein großes Dankeschön an lesejury.de sowie Bastei Lübbe für das Rezensionsexemplar!

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