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Veröffentlicht am 25.09.2024

Wie weit muss man gehen, um sich selbst zu finden?

Spatriati
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»Spatriati, so nennt man in Apulien die Unbestimmten, die aus der Art schlagenden, die Spinner, mitunter auch die Ziellosen und Alleinstehenden, kurz: die nicht dazugehören.«
Francesco und Claudia gehen ...

»Spatriati, so nennt man in Apulien die Unbestimmten, die aus der Art schlagenden, die Spinner, mitunter auch die Ziellosen und Alleinstehenden, kurz: die nicht dazugehören.«
Francesco und Claudia gehen in Martina Franca, in der apulischen Provinz, aufs gleiche Gymnasium und könnten gegensätzlicher nicht sein. Er himmelt sie an, doch sie nimmt kaum Notiz vom ihm. Francesco kommt aus einfachen Verhältnissen, dessen Eltern eher eine Zweckehe führen. Desiati nennt es das grausame Gesetz des ruhigen Lebens, nach einem Verhaltenskodex zu leben, der einem einiges an Disziplin abverlangt, vor allem an so kleinen Orten, wo jeder zu wissen scheint, was sich gehört und was nicht.
Claudia kommt nicht nur aus einer anderen Gesellschaftsschicht, sondern fällt schon durch ihr Äußeres auf mit ihrer mondweißen Haut und ihren leuchtend roten Haaren. Sie ist sich von Beginn an ihrer Andersartigkeit bewusst und gibt Paroli, als sie gefragt wird, warum sie nicht wie die anderen sei. »Es ist schon schwer genug, so wie ich zu sein, wie sollte ich da auch noch wie die anderen sein.« S.10

Als Franks Mutter eine Affäre mit Claudias Vater beginnt, beschließt Claudia, in Frank eine Art Bruder, einen Verbündeten zu sehen. Frank, der in den Traditionen seiner Heimat und dem katholischen Glauben verhaftet ist, versteht nicht, warum sie seine Liebe nicht erwidern kann. Er kann es nur akzeptieren, dass sie schon bald weggehen will, weil sie sich vom Korsett – der Denkweise der Menschen ihrer Heimat – eingeengt fühlt. Während Frank versucht, sich dem Leben hier anzupassen, seine Homosexualität verleugnet, und immer wieder an Grenzen stößt, schlittert Claudia auf der Suche nach ihrer Identität von einer toxischen Beziehung in die nächste, sucht ihr Glück in der Fremde. Es wird Jahre dauern, bis Frank ihr nach Berlin folgt, um sich endlich selbst zu finden.

Berlin als Ort soll in der Geschichte eine zentrale Rolle spielen. Desiati, der selbst zeitweise dort lebt, sagt, Berlin sei die Heimat der zweiten Chance: »Eine Stadt, in der diejenigen, die sich gebrochen fühlen, Heilung finden können. In Berlin erzählten mir alle, die ich kennenlernte, fröhlich, kritisch, unbeschwert und diszipliniert von ihrem Scheitern.«

Spatriati ist ein komplexer Roman, der einige Tabus enthüllt. Es geht darum, das Anderssein zu akzeptieren, den Mut, dazu zu stehen, Grenzen aufzusprengen und Liebe als etwas zu verstehen, das weit mehr ist als die Verbindung zu nur einem anderen Menschen. In der es keine Regeln gibt, keine Eifersucht, keine Einschränkungen. Die Erkenntnis, dass der Weg dahin seine Narben hinterlässt, aber letztlich zur Befreiung und eigenen Identität führt.
Desiati lässt sich Zeit, den Irrungen und Wirrungen der Liebe und der damit verbundenen Selbstfindung zu folgen, zeigt, dass »coming of age« oft ein jahrzehntelanger Prozess der Leugnung, des Nichtwahrhabenwollens ist, viel Mut erfordert, auch Rückschläge und Verletzungen auszuhalten. Ich muss zugeben, dass er mich in der Mitte kurzzeitig verloren hatte, weil ich nicht verstand, wohin die Reise gehen soll. Nach einer Pause und einigen Recherchen bekam ich tatsächlich einen anderen Blick auf die Geschichte, begann nochmal von vorn und konnte ihm endlich mit Begeisterung folgen. Vielleicht waren es die Bezüge zu den mir unbekannten italienischen Autoren und apulischen Bräuchen, die er (hat man sie erstmal verstanden) in großartige Bilder verpackt, wie zum Beispiel den Biss der Tarantel.
Das Anderssein zieht sich als roter Faden durch den Roman, über die 25 Jahre, die wir die beiden begleiten. Immer wieder sind es die Erwartungshaltungen anderer, an denen man scheitert, zumindest in ihren Augen. Sich von der Meinung anderer unabhängig zu machen, zu akzeptieren, dass man ein Spatriato ist, bedeutet letztlich Befreiung und ändert vielleicht auch den Blick auf all jene, die in unseren Augen »anders« sind, um ihnen mit mehr Toleranz zu begegnen.

»Es ist äußerst schmerzhaft, sein ganzes Leben lang nicht man selbst zu sein.« S.100

Es geht aber auch um Heimat, Herkunft und Zugehörigkeit. Dass man sich davon nie ganz befreien kann. »Unsere Himmel packen einen mit ihren verdammten scharfen Krallen, man kommt nicht ohne Kratzer von ihnen los.« S.66
Letztlich tun sich Welten auf zwischen dem kosmopolitischen Berlin mit seiner grenzenlosen sexuellen Freizügigkeit und dem provinziellen, miefigen Apulien, in denen Francesco einen Kompromiss finden, sich arrangieren muss.

»Unsere Herkunft haftet an uns wie ein riesiges Muttermal, du kannst es so sehr bedecken, wie du willst, es bleibt doch immer da.«

Nicht immer ein leichtes Stück Literatur, dass aber am Ende überzeugt hat. Desiati erhielt dafür 2022 den renommierten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega. Übersetzt von Martin Hallmannsecker.

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Veröffentlicht am 21.09.2024

Wütend, eindringlich, poetisch

Als wir Schwäne waren
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»Wir sind ein Alptraum. Ich weiß nur nicht wessen.«

… lese ich hinten auf dem Einband und muss schlucken. Ein Satz, der umhaut, genau wie die Geschichte zwischen den Buchdeckeln.

Rezas Leben in der Plattenbausiedlung ...

»Wir sind ein Alptraum. Ich weiß nur nicht wessen.«

… lese ich hinten auf dem Einband und muss schlucken. Ein Satz, der umhaut, genau wie die Geschichte zwischen den Buchdeckeln.

Rezas Leben in der Plattenbausiedlung ist ein Alptraum. Geprägt von Gewalt, Diskriminierung und Kriminalität. Er war 9, als er mit seinen Eltern aus dem Iran floh und nun in den 90ern versucht, seinen Platz in einer fremden Gesellschaft zu finden, irgendwo zwischen Kinderbanden, Kleinkriminellen und Dealern, wovon seine Eltern kaum etwas mitbekommen. Beide sind Akademiker, ihre Abschlüsse werden aber nicht anerkannt. Auch wenn sein Vater nun Taxi fährt, hält er an seinen Werten, seinem Stolz fest. Doch was helfen Reza Werte, wenn er jeden Tag auf der Straße um Anerkennung kämpfen muss, sich durchsetzen muss. Hier herrscht das Gesetz des Stärkeren, wenige gewinnen, die meisten verlieren. Manchmal auch ihr Leben.

In kurzen Episoden aber mit sprachgewaltiger Poesie in seinen direkten Worten schreibt Karim Kahni von der Suche nach Heimat, von Chancenlosigkeit, von Erniedrigung und Wut. Sehr viel Wut! Wut auf ein ganzes Land, in dem es keinen Platz gibt für Menschen wie Reza und seine Familie. Keine Zukunft – einst sozialer Wohnungsbau, jetzt Endstation für die meisten. Die Realität hat ihnen die Flügel gestutzt, sie ziehen nicht mehr weiter, suchen nicht mehr nach einem besseren Dasein, dümpeln genau wie die Schwäne im Teich vor sich hin. Nichts ist geblieben von den stolzen Zugvögeln seiner einstigen Heimat.

Dass sich Reza vielleicht auch dank seiner Bildung aus dem Milieu befreien kann, wird deutlich, wenn man sich die Biografie des Autors betrachtet, denn das Buch trägt einige autobiografische Züge. Doch er wird ein Heimatloser bleiben, auf der Suche nach sich selbst, der sein Trauma in Therapien verarbeiten lernt.

Es ist ein unbequemes Buch, das uns den Spiegel vorhält. Von wegen Willkommenskultur! »Wo »Du bist Gast hier!« eine Drohung ist …«, schreibt Karim Khani. Kalt, unfreundlich und herzlos. Nur nicht hinschauen, wenn wir die unterschiedlichsten Kulturen in Ghettos zusammenstecken – Hauptsache, sie bleiben da, wo sie sind. Ich kann seine Wut nicht nur verstehen, ich kann sie auch fühlen. Und in meinem Kopf läuft in Endlosschleife »Bochum«, in dem sich die Ruhrpottler für ihren Zusammenhalt und ihre Menschlichkeit feiern. »Du Blume im Revier« … Ob Menschen wie Reza die Hymne mitgrölen würden?

Fazit: Ein Buch, das alles auf den Punkt bringt, kraftvoll, schonungslos und doch mit poetischen Worten und Bildern. Das das typische Leben in der Diaspora zeigt, Wut begreifbar macht. Das zeigt, dass Integration nicht nur von einer Seite ausgeht. Ein Heimatbuch eines Heimatlosen, wie er selbst sagt.

Ich bedaure, dass ich »Hund, Wolf, Schakal« noch nicht gelesen habe, werde das aber umgehend nachholen. »Als wir Schwäne waren« ist definitiv ein Highlight für mich.

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Veröffentlicht am 09.09.2024

Brandaktuelles Thema literarisch sehr gut ausgearbeitet

Im Land der Wölfe
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Und in was für einen Osten! Diese Balken, diese dicken blauen Balken. Jeden Tag wachsen sie drüben in Sachsen, länger als alle anderen blauen Balken der Republik.«

Inmitten dieser Spielwiese der Blauen ...

Und in was für einen Osten! Diese Balken, diese dicken blauen Balken. Jeden Tag wachsen sie drüben in Sachsen, länger als alle anderen blauen Balken der Republik.«

Inmitten dieser Spielwiese der Blauen gibt es ein kleines grünes Fleckchen Hoffnung, das es zu unterstützen gilt, denkt sich Nana und fährt Hals über Kopf aus Berlin nach Grenzlitz, um die dortige Oberbürgermeisterkandidatin der Zukunftsgrünen zu coachen. Denn Katjas Chancen, die Blauen um Paul Witte zu schlagen, stehen nicht schlecht, hier in der Kleinstadt an der polnischen Grenze. Doch man hält Nana auf Abstand und so macht sie sich auf, die Menschen dort kennenzulernen, die Dagebliebenen, die Zurückgekehrten, die Migranten und Falk Schloßer, eine aus Wittes Truppe. Ausgerechnet von ihm erfährt sie von den Sorgen der Menschen von Ort und fühlt sich auch noch zu ihm hingezogen.
In der B-Story erfahren wir von Nanas eigenen Problemen und warum sie Berlin verlassen hat. Nachdem ihr Bruder Noah ihr offeriert hat, kein Mann mehr sein zu wollen und von ihr Verständnis und Begeisterung erwartet hat, kam es zum Zerwürfnis. In vielen E-Mails zeichnet Noah die Kindheit der beiden nach, ein kaputtes Elternhaus, Nanas Weg zur Antifa. Auch hier lauern viele Missverständnisse, die Nana erst jetzt allmählich versteht.

Elsa Koester, die stellvertretende Chefredakteurin des Magazins ›Der Freitag‹, hat einen vielschichtigeren Roman geschrieben, als es der Klappentext verspricht. Es wäre blauäugig zu erwarten, dass er Lösungen für das politische Desaster im Osten liefern könnte. Aber er zeigt viele Alltagsszenen, die durchaus schlüssig die aktuelle Stimmung widerspiegeln, macht auf einige Probleme aufmerksam, die typisch für die neuen Bundesländer sind. Von der »Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht« Mentalität bis zu »Wir-lassen-uns-nicht-unterkriegen«. Und wer hört schon auf eine aus Berlin. Ausgerechnet Berlin, da wo man Politik für die anderen macht, aber nicht für Menschen wie in Grenzlitz. Menschen, die sich alleingelassen fühlen, die sich nicht nur wie am Rand von Sachsen fühlen, sondern wie am Rand der Welt. Wirtschaftlich abgehängt, verlassene Innenstädte, Verrat nicht erst zu Zeiten der Wende. Vergangenheit und Gegenwart werden hier aufgespürt und verbunden. Aber gibt dieser Roman nun eine Antwort auf die Frage, wie Faschismus im Osten Deutschlands entsteht? So zumindest die Behauptung im Klappentext. Meines Erachtens nein. Dazu ist das Problem viel zu vielschichtig. Was ich aber durchaus gespürt habe, sind die stetigen Bedrohungen, die Machtdemonstrationen, die Einschüchterungsversuche.
Gerade mit Schloßer ist Koester eine interessante, streitbare Figur gelungen, der treusorgende Familienvater, der sein eigens Päckchen zu tragen hat, und sich um die Gemeinschaft kümmert. Wenn es aber darum geht, Angst und Hass zu verbreiten, ist er in vorderster Reihe dabei. Nun gut, wir kennen die verdrehte Argumentation.
Auch Noahs Geschichte, die die Kindheit der Geschwister beleuchtet, hat mich durchaus gefesselt. Allerdings drängt sie sich in der zweiten Hälfte des Buches immer mehr in den Vordergrund, so dass die heiße Phase des Wahlkampfes in den Hintergrund rückte. Zwar verbindet sich alles, weil letztlich auch alles zusammenhängt, aber der Fokus geht von der laut Klappentext zu erwartenden Geschichte verloren.
Ein heißes, brandaktuelles Thema, dem sich die Autorin hier gewidmet hat. Ich habe in vielen Szenen die momentane Stimmung gespürt, die auch mir tagtäglich entgegenschlägt. Auch sprachlich hat mich Koester absolut begeistert.

Wie schon gesagt, Lösungen zu erwarten, wäre zu vermessen, aber es gibt Möglichkeiten und Wege, die Koester auch anspricht. Nicht zuletzt geht es darum, miteinander zu reden, zuzuhören, die Menschen mit ihren Sorgen und ihrer Vergangenheit zu verstehen, das Richtige für sie zu tun. Unsere persönlichen Probleme werden sich immer in den Vordergrund drängen, genau wie im Buch, allzu gern möchten wir davonlaufen, die Augen davor verschließen, »die anderen« die anderen sein lassen, doch genau das hat uns dahin geführt, wo wir jetzt in diesem Land stehen. Wenn auf die Politik kein Verlass mehr ist, sind wir Menschen gefragt.
Großer Lesetipp, vor allem für die »Wessis«, um die Gräber nicht noch größer werden zu lassen.

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Veröffentlicht am 23.08.2024

Die Macht der Worte

Bei Licht ist alles zerbrechlich
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»Mein erstes Lesebuch war ein Zettel, auf dem die Prinzipien der Rassengesetze abgedruckt waren, deren Bedeutung mir ein jüdischer Lehrer erklärte … Während ich sie las, wurde mir klar, dass es keine guten ...

»Mein erstes Lesebuch war ein Zettel, auf dem die Prinzipien der Rassengesetze abgedruckt waren, deren Bedeutung mir ein jüdischer Lehrer erklärte … Während ich sie las, wurde mir klar, dass es keine guten und schlechten Wörter gab. Alles hing von den Taten ab.« S.127

Das Leben in Tora e Piccilli scheint für alle vorbestimmt, so auch für Davide, Sohn eines Schweinehirten und Faschisten. Davide wäre gern wie die anderen Kinder, doch er wird von ihnen ausgeschlossen und verspottet, weil er den Gestank der Schweine nicht loswird und einen Gehfehler hat. Teresa, die Tochter eines Seilers, ist die Einzige, die zu ihm hält, ihn verteidigt und ihm das geben kann, wonach er sich am meisten sehnt – schreiben zu lernen. Sie ist ein willenstarkes Mädchen, sie weiß, dass sie die Enge des Dorfes eines Tages verlassen wird. Je mehr Zeit Davide mit ihr verbringt, umso deutlicher spürt er die Magie der Worte, die er lernt, die er heimlich in gestohlene Hefte schreibt. Schreiben wird für ihn zum Akt der Rebellion gegen seinen despotischen Vater, denn er fühlt, dass in den Worten eine andere Zukunft für ihn liegt.
Im Sommer 1942 wird sich das Leben im Dorf verändern, als 36 Juden aus Neapel auf Anordnung des Duce zur Zwangsarbeit umgesiedelt werden. Davide ist von dem gleichaltrigen Nicolas sofort angetan und weiß, dass er einmal werden will wie er. Davide sieht in ihm, was er nicht ist: Nicolas ist gebildet, sauber, gutaussehend. Nicolas’ Vater wird ihn heimlich unterrichten. Die drei verbringen den Sommer zusammen, der sie alle verändern wird. Bis die Ereignisse sie zwingen, sich zu trennen und erwachsen zu werden. Doch die verwirrende Freundschaft wird Davide immer begleiten und ihn Jahre später motivieren, sich auf die Suche nach den beiden zu machen.

Das Buch strotz vor Lebendigkeit und Authentizität, vor meinem inneren Auge entstehen Bilder von der unendlich Feldern und Wäldern, ich rieche den Schweinegestank an Davides Kleidung, fühle aber auch der Engstirnigkeit und Hörigkeit der Dorfbewohner, die Solla so treffend in knappen Sätzen zu skizzieren weiß.

»…(die) sonntags schwatzend auf dem Kirchplatz am Podestà standen, um allen zu zeigen, an was sie glaubten: an die Kirche und an den Faschismus, einen Gott im Himmel und einen auf Erden.« S.29

Es ist berührend, wenn Davide dem Klang der neuen Worte nachspürt, die ihm neue Horizonte eröffnen, ihm erlauben zu träumen, ein anderer zu werden, ein Mensch mit eigenem Willen. Wenn er über die Nachahmung hinauskommt, wenn aus unbeholfenen Kringeln und Kreisen Worte in seinen Heften, in seinem Kopf entstehen, die Ordnung und Verständnis in seine Welt bringen.

»Schweine. Ich versuchte es. Ich schob das Sch zwischen den Zähnen hervor und schürzte die Unterlippe, um das w auszusprechen. Es klang wie ein neues Wort. Das war nicht mehr das Viehzeug, das ich kannte. Ich sah die Tiere in einem neuen Licht, den Unterschied zwischen ihnen und uns.« S.61

Solla ist ein sehr einfühlsamer, tiefgründiger Entwicklungsroman gelungen, der mich direkt ins Herz des Protagonisten geführt hat. Er schreibt sehr eindrucksvoll von der Kraft der Worte, die die Macht haben, sich zu finden, über sich selbst hinauszuwachsen, den gesellschaftlichen Zwängen zu entkommen ohne die Verbindung zu seiner Herkunft zu verlieren. Eine berührende Geschichte über Freundschaft, über die Verwirrung der Liebe, über Mut und Rebellion. Sollas Sprache ist klar, jeder Satz hat seine Bedeutung für den Fortgang der Geschichte. Vielleicht ist auch deshalb der Mittelteil des Buches deutlich geraffter, denn alles führt auf das Ende hin, bei dem sich Kreise schließen werden und das mich zutiefst berührt hat.

Ein großartiges Stück italienische Literatur, dessen Worte man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte, wie es Davide getan hat.

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Veröffentlicht am 21.08.2024

Düstere, fesselnde Atmosphäre

Vom Krähenjungen
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Es war einmal …

… ein See, der nie zufriert, in dem nichts lebt, in dem nie jemand schwimmt. Dort draußen in dem toten Wald, in dem ein toter Wolf vor einer einsamen Hütte wacht.

»Geh nicht hin, sagen ...

Es war einmal …

… ein See, der nie zufriert, in dem nichts lebt, in dem nie jemand schwimmt. Dort draußen in dem toten Wald, in dem ein toter Wolf vor einer einsamen Hütte wacht.

»Geh nicht hin, sagen sie, aber hier bist du und wirst wiederkommen, du weißt es. Der See hat seine Fäden um dich gesponnen, du bist ihm ins Netz gegangen.« S.14

Doch Karoline wird magisch davon angezogen und von Sam, der zurückgekehrt ist. Sam, der Krähenjunge, der gar kein Junge ist und nie einer war, den eine seltsame Stille umgibt. Von dem alle in der Bäckerei reden und doch schweigen. Der Enkel von der Anna, die vor vielen Jahren von einem reichen Münchner im Cabrio mitgenommen wurde. Märchen, denkt sich Karolina, sie erzählen nichts als Märchen. Doch dann spürt sie Sams unheimliche Aura, der sie sich nicht entziehen kann.

Auch wir Leser*innen können uns nicht dem unheimlichen, schaurigen Sog entziehen, der entsteht, wenn die Autorin viele Stimmen zu Wort kommen lässt. Menschen, die Sam kannten oder auch nur die Gerüchte über ihn, dem scheinbar alles gelingt, der auftaucht und verschwindet, der die Gabe hat, Menschen anzuziehen.

»Und dann hat er mich angesehen, mit diesem ganz speziellen Sam-Blick, bei dem du automatisch die Arme hochreißen willst zur Abwehr. Aber es hilft ja nichts, du kommst nicht von ihm los, nicht weiter als die Motten vom Licht. Nur das Sam kein Licht gibt, nicht die kleinste Spur davon.« S.127

Menschen sterben und die Leute wissen, dass Sam der Schuldige ist, allein, weil er in ihrer Nähe war. Oder wollen sie es nur wissen? Sie legen die Fährte, der die Polizei folgen soll, nur damit alles wieder so wird, wie es war, bevor das Gewitter den See erschaffen hat, von dem es heißt, gefrorene Blitze lägen noch immer auf dessen Grund.

Es ist ein atmosphärisches Debüt, dass hier die Autorin auf unkonventionelle, poetische Weise erzählt. In vielen Perspektiven versucht sie Sams Geschichte und seinem Wesen auf den Grund zu gehen. Spinnt viele Fäden, die sich verknüpfen oder auch nicht, hebt die Chronologie der Ereignisse auf und lüftet doch nie den Nebelschleier ganz. Etwas Mystisches, Dunkles schwebt beim Lesen ständig über einem, greift nach einem und irgendwann lässt man sich einfach treiben.
Alte Familiengeschichten, wabernde Gerüchte, Tod, Verlust und Leid – um all das dreht sich die Geschichte und lässt sich doch nicht greifen. Ebenso wenig lässt es sich in irgendein Genre einordnen – muss es auch gar nicht. Ob nun Schauergeschichte, modernes Märchen oder Krimi, man muss sich nur drauf einlassen.

Wer die Atmosphäre von Tannöd mochte, oder Geschichten, die die Grenzen zur Wirklichkeit aufheben, mit der Wahrnehmung spielen, findet im Krähenjungen eine sehr lesenswerte Geschichte. Mich hat sie absolut gefesselt.

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