Auf der Suche nach Zugehörigkeit
1954 in einem Dorf in Süddeutschland, der Krieg hängt den Menschen noch nach, es ist kein Platz für Sentimentalitäten und man möchte vergessen. Die (katholische?) Kirche hat leichtes Spiel mit ihrem Gefasel ...
1954 in einem Dorf in Süddeutschland, der Krieg hängt den Menschen noch nach, es ist kein Platz für Sentimentalitäten und man möchte vergessen. Die (katholische?) Kirche hat leichtes Spiel mit ihrem Gefasel von Demut und Gnade, von Sünde und Erbarmen. Gottesfürchtigkeit beherrscht die Menschen. Man möchte Absolution, möchte sie verdrängen, diese Mittäterschaft, diese Mitwisserschaft in der Nazizeit. Und dann ist es ausgerechnet ein Kind, das einen täglich wieder damit konfrontiert.
Dieses Kind ist der neunjährige Richard, er wächst bei einem herrschsüchtigen Onkel, einer lieblosen Tante mit den »falschen Geschwistern« auf, die ihn alle täglich spüren lassen, dass er nicht dazugehört.
Ein strenger Lehrer, ein prügelnder Pfarrer, harte Arbeit auf dem Hof, das ist der Alltag von Richard. Er spürt, dass er lästig ist, und versucht möglichst allen aus dem Weg zu gehen. Auch wir Leser spüren, dass seine Anwesenheit die anderen wohl an etwas erinnert, dass sie lieber verdrängen würden. Nur wenige im Ort meinen es gut mit Richard, allen voran sein Großvater, dessen Besuche aber rar sind, der einzige, der in seiner Not da ist, der ihn lobt, aber auch ein Gefangener seiner Zeit ist.
»Wir sprechen miteinander wie einer, der schweigend dasitzt, mit sich selber.« S.75
Ihn könnte er fragen, was mit seinen Eltern geschehen ist. Doch die Zeit hat keinen Platz für Fragen und Richard flüchtet sich immer mehr in die eigene Welt in seinem Kopf.
1954 ist auch das Jahr, in dem die Menschen wieder Zuversicht und Stolz verspüren. Der Fußball-WM-Sieg muss ein einschneidendes Ereignis gewesen sein, vor allem für die Kinder. Da sind plötzlich wieder Ideale, denen man nacheifern kann. Ein Hoffnungsschimmer, der vielleicht auch Richard aus seinem Abseits herausführen kann?
Es ist nicht mein erstes Buch über die kollektive Sprachlosigkeit dieser Generation, die durch ihr Schweigen so tiefe Narben hinterlassen hat. Aber diese 190 Seiten habe ich nicht mal eben so in einem Rutsch durchgelesen. Jeder Satz scheint hier geschliffen und poliert, ließ mich hineingleiten in die Gefühlswelt des kleinen Jungen und dort verankern. Sätze, an denen ich hängenbleibe, die ich erneut lese, die ich nachspüre.
Es sind viele Bruchstücke, die uns der gelegentlich auftauchende Erzähler zusammensetzt, der wohl Richards Geschichte aus dessen Erinnerung aufgeschrieben hat. Auch das ist dramaturgisch mit viel Fingerspitzengefühl eingeflochten.
Aber wie findet man heraus aus so einer brutalen Welt, wo sind die kleinen Lichtblicke, damit man als sensibles Kind nicht daran zerbricht? Ab und zu platziert der Autor kleine Hoffnungsschimmer, die mich die Ungerechtigkeiten in Richards Welt dann doch ertragen lassen.
»Nichts ist vorhersagbar. Nicht das Schlechte. Aber auch das Gute nicht. Das Gute geschieht vielleicht sogar öfter, aber man muss es erkennen, und dann muss man zugreifen.« S.186
Ein Buch, das mich inhaltlich und sprachlich zutiefst berührt hat, dass ich kaum Worte dafür finde. Jedes Wort, jede Szene, ja selbst das Cover – alles verbindet sich auf meisterhafte Weise zu einem fühlbaren Ganzen, denn auch die »Stuppacher Madonna« auf dem Einband hat eine tiefe Bedeutung für Richards Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Doch das solltet ihr selbst lesen.
Ein wunderbares Debüt, das ich aus ganzem Herzen weiterempfehle. Ich hoffe, in Zukunft noch viel von dem Autor zu lesen.