Ihren 38. Kriminalroman, der im englischen Original unter dem Titel "Taken at the Flood" veröffentlicht wurde, lässt Agatha Christie – wie gewohnt – im ländlichen England und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg spielen. Letzteres wiederum ist ungewohnt, ebenso wie die Tatsache, dass die Autorin, deren Charaktere, wie auch in vorliegender Geschichte, gewöhnlich der britischen Oberschicht angehören, die zwar allerhand Probleme haben, sich finanziell aber nie beklagen können, diesmal so deutlich hinweist auf die Unbillen der Nachkriegszeit, wie Nahrungsmittelknappheit, neue, das Leben erschwerende Gesetze, fehlende Arbeitsplätze, die auch die Begüterten und Privilegierten des Landes zu spüren bekamen. Der realistische und nicht geschönte Hintergrund, den sie entwirft, ist schließlich auch verantwortlich für das, was den Charakteren in der zu besprechenden Geschichte widerfährt und was sich mutmaßlich niemals zugetragen hätte, hätte der Krieg sie nicht aus ihrem behaglichen, sorgenfreien Leben herausgerissen...
Aber da sind sie nun, die Mitglieder der Familie Cloade aus Warmsley Vale, ihres Oberhauptes Gordon beraubt, der bei einem Bombenangriff, genauer gesagt dem „Blitz“, in London ums Leben gekommen war und von dem alle finanziell abhängig waren, auf den sich alle in jedweder Notlage verlassen konnten – ermutigt von ihm, dem Patriarchen Gordon höchstpersönlich!
Zum Leidwesen der Familie allerdings überlebte seine junge Frau Rosaleen, eine Witwe, die er kurz zuvor – man kann sich die Empörung von Gordons nichtsnutzigen Verwandten vorstellen! - ganz unerwarteterweise geheiratet hatte. Das schöne Geld – futsch! Denn Gordons Witwe ist nun mal die Alleinerbin – was so schlimm nicht wäre, denn die lässt sich, naiv und liebenswürdig, wie sie ist, leicht anpumpen, was die übrigen Cloades auch ohne Skrupel versuchen. Leider jedoch gibt es da einen gewissen David Hunter, ein zwielichtiger Abenteurer, voller Wut, voller Hass auf die Cloades – und der ist Rosaleens Bruder und wild entschlossen, seine Schwester von den Schmarotzern, als die er sie empfindet und die sie auch sind, wenn wir ehrlich sein wollen, zu schützen. Die Verzweiflung der feinen Familie, von denen jeder einzelne aus den unterschiedlichsten Gründen dringend Geld braucht, kann man sich vorstellen! Und dass da jemand von ihnen – oder allesamt? - Pläne schmieden, sich Rosaleens zu entledigen, auch!
Die Atmosphäre ist zunehmend angespannt, man kann es fühlen – wie immer, wenn die Meisterin der subtilen Spannung, die man unter einer glatten Oberfläche erahnt, am Werk ist.... Und da sie ebenso bekannt ist für überraschende Wendungen, kleine, gemeine Fallen und eine ganze Reihe falscher Spuren, lässt sie einen geheimnisvollen Fremden in Warmsley Vale auftauchen, einen gewissen Enoch Arden, dessen Namen sie Alfred Tennysons Versepos mit dem gleichen Titel, an dessen Handlung sie sich zudem orientiert, entliehen hat. Und jener Fremde deutet an – man hört förmlich die kalten Herzen der Cloades höher schlagen! - ,dass Rosaleens erster Mann, Robert Underhay, noch am Leben sei! Damit wären ja alle Schwierigkeiten beseitigt, nicht wahr? Das riesige Vermögen ihres lebenslangen Wohltäters würde wieder in ihren Taschen landen, dort, wo es, wie sie überzeugt sind, von Rechts wegen auch hingehört... Doch das wäre ja zu einfach – und wie man erwarten darf, legt Agatha Christie nun, nachdem der Leser in einer unspektakulären, actionarmen ersten Hälfte erst einmal die Charaktere in Ruhe kennengelernt hat und hinter ihre glatten Fassaden geschaut hat ( so etwas beherrscht die „Lady of Crime“ bis zur Perfektion! ), endlich richtig los!
Und endlich auch taucht der Meisterdetektiv Hercule Poirot wieder auf, dem man bereits im Prolog begegnen durfte, im Londoner Coronation Club während eines Bombenangriffs den Erzählungen eines gewissen Major Porter lauschend, der ein Freund des, wie jeder glaubte, verstorbenen Robert Underhay gewesen war. Von ihm hörte der belgische Detektiv im Übrigen auch den Namen Enoch Arden, den der Verstorbene in einigermaßen kryptischer Weise dem Major gegenüber erwähnt hatte.
Aber wie dem auch sei, Poirot ist endlich im Spiel – und wird seinerseits von gleich zwei Mitgliedern der Cloade-Familie um Hilfe gebeten, was er allerdings erst dann annimmt, als der Fremde namens Enoch Arden einen unzeitigen Tod von fremder Hand findet! Weitere Tode kann er zwar nicht verhindern, doch dass er die verzwickte Geschichte auflöst, steht für jeden Leser der Agatha Christie-Krimis und sowieso für alle Poirot-Anhänger außer Frage!
Dame Agatha ist eine unübertroffene Kriminalschriftstellerin – auch daran gibt es keinen Zweifel! Die meisten ihrer Geschichten sind hervorragend, intelligent, spannend, verzwickt – und immer clever ersonnen und in einer geschmeidigen, stets gehobenen Sprache geschrieben. Andere sind intelligent, spannend, verzwickt – ohne großartig zu sein. Einige wenige sind zu all den bereits erwähnten Attributen ärgerlich und unbefriedigend. Leider gehört „Taken at the Flood“ beziehungsweise in der amerikanischen Ausgabe „There ist a Tide...“, einem Vers entnommen aus Shakespeares Drama „Julius Caesar“, zur letzten Kategorie!
Woran liegt das, habe ich mich während der Lektüre immer wieder gefragt. Wieso bin ich einfach nicht recht vorangekommen und wurde auch nicht, wie sonst bei Dame Agathas Büchern üblich, von Spannung oder doch wenigstens Neugierde gepackt? Die Geschichte hat alles, was Mrs.Christies Bücher ausmacht – und dennoch! Es sind die Charaktere, die mich stören, habe ich schließlich entschieden! Es verärgerte mich ihre Selbstherrlichkeit, ihre Geringschätzigkeit des Onkels Witwe gegenüber, die sie dennoch gnadenlos auszunehmen versuchen, ihre offensichtliche Lebensuntüchtigkeit ohne die schützende Hand des Familienoberhauptes. Sie sind schlechte Menschen, die Cloades, punktum! Jeder einzelne von ihnen. Und das trifft auf viele der unzähligen Figuren der berühmten Schriftstellerin zu, ist also per se nichts Ungewöhnliches. Doch die Art und Weise, wie sie mit denjenigen, die uns hier begegnen, verfährt, die Milde, die sie ihnen unverdienterweise zukommen lässt – die ist höchst ungewöhnlich und befremdlich. Diese Milde geht am Ende sogar so weit, dass ein direktes Verbrechen und eines, das durch Egoismus und Manipulation indirekt verschuldet wurde, ganz einfach unter den Teppich gekehrt werden – von dem gerechtigkeitsliebenden, unbestechlichen Hercule Poirot höchstpersönlich! Was mag sich Agatha Christie dabei gedacht haben? Und – was mag sie sich darüber hinaus bei dem Epilog, den letzten drei Seiten ihres Buches, auf die ich hier allerdings nicht näher eingehen kann, ohne die Lösung des Falles zu verraten, gedacht haben, der so manchen Leser ganz entsetzt zurücklässt und ihn an dem Verstand der Dame zweifeln lässt?
Dass dieses eines der schwächsten, vielleicht sogar das schwächste der vielen Bücher der mit Recht hochgelobten Schriftstellerin ist, war mir durchaus klar, als ich es nach vielen vielen Jahren wieder gelesen habe – in der Hoffnung, es heute mit anderen Augen lesen zu können. Diese Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt – ganz im Sinne des blitzgescheiten, hier aber etwas trägen Meisterdetektivs Poirot, der weiß, dass sich einige Dinge nie ändern...