Profilbild von clematis

clematis

Lesejury Star
offline

clematis ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit clematis über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.09.2024

Versöhnlicher Diskurs

Nachbeben
0

Die Pandemie ist vorbei, das Coronavirus ist geblieben. Welche Maßnahmen werden wir bei einer weiteren Krise neuerlich ergreifen, welche eher meiden? Haben wir überhaupt etwas gelernt aus den letzten Jahren? ...

Die Pandemie ist vorbei, das Coronavirus ist geblieben. Welche Maßnahmen werden wir bei einer weiteren Krise neuerlich ergreifen, welche eher meiden? Haben wir überhaupt etwas gelernt aus den letzten Jahren?

Sachlich und glaubwürdig nähert sich Hendrik Streeck vielen Fragen an und versucht, Antworten zu finden, auch wenn es nicht immer eine klare und eindeutige gibt, wie zum Beispiel gleich zu Beginn: woher stammt SARS-CoV-2 wirklich? Vermutlich wird dies unklar bleiben, es existieren lediglich Mutmaßungen. In den einzelnen, sehr übersichtlich gestalteten Kapiteln des - auch für Laien - sehr gut lesbaren Sachbuchs folgt Streeck dem Verlauf der Corona-Pandemie und erläutert auf überaus seriöse Weise, welche sinnvollen Maßnahmen, aber auch, welche weniger nützlichen Vorschriften in rascher Abfolge auf die Menschen hereingeprasselt sind. Niemals geht es um Anklage oder Schuldzuweisung, vielmehr empfinde ich das Buch als Lob einerseits und als gelungene konstruktive Kritik andererseits. Wir sollten nun jedoch das Kapitel Pandemie nicht einfach abschließen, sondern danach trachten, Lehren zu ziehen und die Phase der Ruhe dazu nützen, uns geeignete Strategien für künftige Krisenfälle zurechtzulegen. Dies kann eben nur dann gelingen, wenn wir uns einer Aufarbeitung stellen, wieder die Wissenschaft mit ihrem Diskurs in den Mittelpunkt bringen und auch Informationen und Meinungen zulassen, welche gerade nicht zu unseren Vorstellungen entsprechen. Ein ehrliches und respektvolles Miteinander sollte zeigen, dass es nicht „die Wissenschaft“ und „jene unantastbare Meinung“ gibt, sondern, dass Erkenntnisse stets überprüft und weiterentwickelt werden müssen, dass nicht nur Virologen, sondern auch Personen aus anderen Fachrichtungen wesentliche Sichtweisen zu einer insgesamt gelungenen Strategie beitragen müssen.

Von der Möglichkeit, eine Pandemie zu verhindern über erste Reaktionen und Maßnahmen, Evaluierung von Verordnungen und deren Sinnhaftigkeit bis hin zur Frage, ob es während der Pandemie mehr und bessere Vergleichsstudien hätte geben müssen, geht es weiter zur Impfung und einer Betrachtung des Themas Impfpflicht. Auch wenn es sehr schwierig ist, wird doch ab und zu auf andere Länder in Europa geschaut, um zu erfahren, wie es dort mit Lockdowns, Testen und Kontaktbeschränkungen ausgesehen hat, ob man eher eine gestrenge No-Covid-Strategie verfolgt oder auf Eigenverantwortung gesetzt hat.

Kurzweilig und sehr informativ führt Virologe Streeck durch die Jahre der Corona-Pandemie und appelliert eindringlich, nicht nur alles in normative Vorschriften zu drücken, sondern auch die Würde des Menschen als wesentliches Gut unseres Lebens zu berücksichtigen. Seiner Sicht, Aufarbeitung sei ein wesentlicher Teil einer guten Fehlerkultur, kann ich mich nur uneingeschränkt anschließen und hoffe, dass viele dabei mithelfen, Gräben und Kluften zu schließen und die immer noch vorhandene Spaltung in der Bevölkerung zu überwinden. Hendrik Streeck bietet in seinem Buch viele Lösungsmöglichkeiten und Anregungen, welche auf völlig unaufgeregte, ja sehr sympathische Art und Weise zu einem Miteinander aufrufen. Ich kann dem Experten über weite Strecken nur zustimmen und dieses Sachbuch für eine große Zahl an Lesern weiterempfehlen, denn eines ist gewiss: die nächste Krise wird nicht ewig auf sich warten lassen.

Veröffentlicht am 25.09.2024

Die Tochter

Loreley - Fluss der Zeit
0

1842 am Rhein: Lisette, Julies Tochter, steht nun, 17 Jahre später, im Mittelpunkt der Erzählung rund um die Sage der Loreley und anderen Geheimnissen. Aktuelle Geschehnisse und Vergangenes beantworten ...

1842 am Rhein: Lisette, Julies Tochter, steht nun, 17 Jahre später, im Mittelpunkt der Erzählung rund um die Sage der Loreley und anderen Geheimnissen. Aktuelle Geschehnisse und Vergangenes beantworten (fast) alle Fragen, welche nach Band Eins noch offen waren.

Nach dem frühen Verlust der Mutter wächst Lisette, Lissi, gemeinsam mit ihrer Halbschwester Hildchen in Bacharach auf und verliebt sich in den Gastwirtssohn Manuel. Einer gemeinsamen Zukunft stehen allerdings einige Hindernisse im Wege. Während Manuel im Rahmen seiner Ausbildung nach London geht, verbringt Lissi den Sommer am Dampfschiff, welches ihr Vater Johann geschickt den Rhein stromauf, stromab manövriert. Und hier, nahe am Loerelyfelsen, wo schon Mutter Julie verschollen ist, ereignet sich ein folgenschweres Unglück.

Susanne Popps angenehme Sprachmelodie begleitet den Leser in vergangene Zeiten, die Verquickung von Lissis Geschichte und Rückblenden zu Mutter und Großmutter gelingen wunderbar. Berührende Szenen, interessante historische Details, die Autorin bringt von allem etwas, und das in sehr ausgewogener Form, sodass der Roman stets kurzweilig bleibt und man da und dort auch mitfiebern darf mit den sehr glaubwürdig gezeichneten Figuren.

Die lebendige Handlung mit teils historisch belegten Persönlichkeiten bietet beste Unterhaltung. Ich empfehle die beiden Loreley-Romane sehr gerne weiter.

Veröffentlicht am 25.09.2024

Lyrik

Leih mir dein Ohr
0

Nach den sehr berührenden Prosa-Werken rund um „Johanna“ und etlichen anderen Stücken liegt nun ein schöner Gedichtband von Renate Welsh vor, in welchem sie recht persönliche Erlebnisse in melodischer ...

Nach den sehr berührenden Prosa-Werken rund um „Johanna“ und etlichen anderen Stücken liegt nun ein schöner Gedichtband von Renate Welsh vor, in welchem sie recht persönliche Erlebnisse in melodischer und ansprechender Weise transportiert.

Mit einem Blick in einen tragischen Abgrund beginnt Welsh ihre Reise zurück ins Leben nach einem Schlaganfall. Sofort nimmt sie den Leser mit zu vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, die ganz und gar nicht selbstverständlich sind.

Bei den einzelnen Gedichten handelt es sich nicht um klassische Lyrik mit steten Verszeilen, gleichbleibenden Strophen oder Reimen, dennoch spürt man sogleich die mitschwingende Melodie, die hoffnungsfrohe Botschaft, die zwischen den Gesagten hervorleuchtet. Wunderbare Metaphern mit Naturelementen finden sich eingeflochten in Gedanken an frühere Fehler und Missverständnisse. Verzeihen und Vergeben sind zentrale Themen bei einschneidenden Lebensmomenten, aber ebenso nehmen ganz banale Alltagstätigkeiten Raum ein, an die man sich erinnert. Zwischendurch darf der geneigte Leser mit auf Urlaubsreisen gehen, fremde Schicksale kennenlernen. Besonders gut gefallen mir die Zeilen zum Thema Sehnsucht im Gedicht „Zwischen Tür und Angel“, welches Renate Welsh aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet und zu einem sehr gut nachvollziehbaren Schluss kommt. Und dann gibt es am Ende noch „Brennnesseln“ mit einem ganz speziellen Humor, der mich das Buch zufrieden zur Seite legen lässt.

Eine wunderbare Reise durch ihr Leben verpackt Renate Welsh in diesem schmalen Gedichtbändchen und spricht damit allerlei unterschiedliche Bereiche an, erzählt dem Leser von ihren Erlebnissen. Ein phantastischer Schreibstil begleitet all das von der ersten bis zur letzten Seite und darf allen Freunden inhaltsreicher Lyrik empfohlen werden.

Veröffentlicht am 25.09.2024

Lass uns gehen

Sing, wilder Vogel, sing
0

Im Jahre 1849 herrscht in Irland eine große Hungersnot. Die irischen Pachtbauern sind abhängig von englischen Gutsherren, erfahren aber von diesen keinerlei Unterstützung. Etliche Menschen verhungern, ...

Im Jahre 1849 herrscht in Irland eine große Hungersnot. Die irischen Pachtbauern sind abhängig von englischen Gutsherren, erfahren aber von diesen keinerlei Unterstützung. Etliche Menschen verhungern, einige wollen auswandern, überleben jedoch die Schiffspassage nach Amerika nicht, wenige bauen sich im fremden Land ein neues Leben auf. Stellvertretend für sie steht die junge Honora, die ganz allein und völlig auf sich gestellt die Reise in die Ferne antritt, aber auch dort die erhoffte Freiheit nicht so schnell findet. „Lass uns gehen“, wird zu ihrem Leitspruch.

In Amerika beginnt diese sehr berührende Geschichte über eine starke Frau, deren Mut und Ausdauer überaus bewundernswert ist. Anschließend an diesen kurzen Einstieg mittendrinnen kehren wir zu den Anfängen in Irland zurück. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter und dem Aufwachsen bei einem gestrengen Vater ist Honora alsbald von ihrem Ehemann abhängig und steht nach der Hungerkatastrophe von Doolough mittellos da. Auf diesen sehr spannenden, aber auch bedrückenden Teil in Irland folgt ein zweiter Teil über Honoras Zeit in Amerika. Mittels elegantem Sprachstil und detaillierten historischen Fakten (siehe Nachbemerkungen und Interview mit Jacqueline O’Mahony) entführt uns die Autorin in eine düstere Zeit, wo man schon einen enormen Überlebenswillen gebraucht hat, um in einer Situation wie der Honoras noch Hoffnung und Zuversicht zu verspüren, zu grausam spielt ihr das Schicksal mit.

Auch wenn Honora eine fiktive Figur ist, verspürt der Leser sofort eine gewisse Nähe zu ihr, die Authentizität, mit welcher sie stets beschrieben wird, ist großartig, ihr Lebenskampf einzigartig. Die Autorin schafft an allen Orten eine sehr gut vorstellbare und realistische Atmosphäre, man kann nicht anders, als mit der jungen Frau mitzufühlen und Seite für Seite gespannt ihrem Weg zu folgen. Sie will frei sein, scheint aber stets vom bösen Omen des piseog (Rotkehlchen), das in der Nacht ihrer Geburt ins Haus geflogen ist, verfolgt zu werden. Lass uns gehen, überlegt sie immer wieder und wandert von einem Ort zum nächsten. Kann sie irgendwo ihr Glück finden?

Ein großartiger Roman über die schreckliche Hungersnot in Irland, verknüpft mit den Parallelen zu den indigenen Amerikanern. Honoras Reise nach Amerika und weiter bis in den Wilden Westen ist bewegend, berührend, zuweilen erschütternd. Wer an historisch belegten Fakten interessiert ist und eine willensstarke, zupackende Frau kennenlernen möchte, der liegt hier auf jeden Fall richtig. Ich empfehle „Sing, wilder Vogel, sing“ sehr gerne weiter!

Veröffentlicht am 18.09.2024

Aus den Dolomiten

Bella Famiglia
0

Aus Val di Zoldo, mitten in den Dolomiten, stammt der Eissalonbesitzer Lorenzo, der hier in München für jeweils sechs Monate köstliche Kreationen von Gefrorenem serviert, bevor er über den Winter wieder ...

Aus Val di Zoldo, mitten in den Dolomiten, stammt der Eissalonbesitzer Lorenzo, der hier in München für jeweils sechs Monate köstliche Kreationen von Gefrorenem serviert, bevor er über den Winter wieder zurückkehrt in die Heimat seiner Eltern und Großeltern. Sofia, eine junge Kindergärtnerin, sitzt jeden Freitag unter der knorrigen Kastanie und bestellt Erdbeereis. Beide sind sehr ruhig und zurückhaltend, dennoch spüren sie eine ganz besondere Verbindung zueinander. Da Sofia einmal Venedig sehen möchte und das Meer, nimmt Lorenzo sie im Herbst mit nach Italien und erzählt ihr die Geschichte seiner Familie.

Die Rahmenhandlung im Jahre 1966 umfängt frühere Geschehnisse von 1900 weg über zwei Weltkriege bis 1963. Abwechslungsreich schildert Nico Mahler die Ereignisse in unterschiedlichen Zeitebenen und zeigt, wie malerisch es in den Dolomiten aussieht, aber auch, wie karg und hart das Leben dort früher war. Durch moderne Maschinen und stete neue Erfindungen besteht immer weniger Nachfrage nach Holzkohle oder handgeschmiedeten Erzeugnissen, das (Über)Leben wird immer schwieriger. So kommt es, dass Speiseeis die Welt erobert und seinen Weg nach Österreich, Deutschland, Frankreich, ja bis in die Niederlande oder nach England findet. Herausfordernde Schicksalsschläge bestimmen das Leben der Familie Battaglia, dennoch lassen sie sich, Stehaufmännchen gleich, nicht unterkriegen. Überaus lebendige und sehr gut vorstellbare Schauplätze vom Zoldotal über Transsilvanien (Rumänien) und Wien bis nach München beherrschen die Handlung, die Figuren sind realistisch und glaubwürdig angelegt. Viel Historisches fließt wie nebenbei mit ein in die Geschichte, sodass man etliche interessante Dinge liest, ohne das Gefühl zu haben, belehrt zu werden. Der Spagat zwischen wissenswerten Tatsachen und fiktiver Handlung ist jedenfalls sehr gut gelungen. Dass am Ende der Zufall vielleicht ein bisschen zu präsent ist, tut dem Ganzen keinen Abbruch.

Unterhaltsame Stunden, Spannendes über das Zoldotal und die Eisherstellung, dazu noch sehr persönliche Schicksale, die einem beim Lesen nahegehen – so verdient ein Roman seine fünf Sterne!