Nach dem Erfolgsdebüt „Identitti“ endlich der neue Roman von Mithu Sanyal!
London 2022, die Königin ist tot! An den Trauernden vorbei rennt Durga: internationale Drehbuchautorin, Tochter eines Inders und einer Deutschen, und voller Appetit auf Rebellion und Halluzinationen. Erzählte Mithu Sanyals gefeiertes Debüt „Identitti“ von Identitätspolitik, fragt „Antichristie“ nach dem Kolonialismus und der Gewalt in uns allen. Durga soll an einer Verfilmung der überbritischen Agatha-Christie-Krimis mitarbeiten. Doch auf einmal ist es 1906, und sie trifft indische Revolutionäre, die keineswegs gewaltfrei wie Gandhi kämpfen. Und dann explodiert die erste Bombe. Was wäre richtiger Widerstand in einer falschen Welt? Niemand schreibt so aberwitzig, klug und liebend wie Mithu Sanyal. „Antichristie“ bringt die ganze Welt in die deutschsprachige Literatur.
Mit "Identitty" hat Mithu Sanyal gezeigt, dass sie in Identitäts- und Diversitätsdebatten Humor hat und nach allen Seiten austeilen kann. Um Zugehörigkeit, Cancel Culture, Dekolonisierung der Literatur ...
Mit "Identitty" hat Mithu Sanyal gezeigt, dass sie in Identitäts- und Diversitätsdebatten Humor hat und nach allen Seiten austeilen kann. Um Zugehörigkeit, Cancel Culture, Dekolonisierung der Literatur und die Frage, was für wen sag- und zumutbar ist, geht es auch in "Anti-Christie", ihrem neuesten Buch, darüber aber auch um eine Zeitreise, Doktor Who, die tote Queen, Agatha Christie und die Frage, welches "Wir" gerade angesagt ist und wie inklusiv es ist.
Klingt nach ziemlich viel? Ist es auch, teilweise erschien mir das mit viele popkulturellen und literarischen Zitaten versehene Buch deshalb ein wenig überfrachtet, denn so klug und unterhaltsam es auch ist, entgleiten der Autorin doch mitunter die Erzählfäden und ich möchte rufen, bitte ein bißchen das Tempo drosseln, um nicht den Anschluss zu verpassen und damit sich die einzelnen Elemente setzen können!
Ich-Erzählerin Durga, Tochter einer deutschen Mutter und eines indischen Vaters, Drehbuchautorin um die 50, ist zu einem Autoren-Workshop in London. Es gilt, Agatha Christie zu dekolonisieren in einer neuen Fernsehserie. Hercule Poirot soll schwarz sein, und auch geht es um die Auseinandersetzung mit Christie, die nicht mehr dem Zeitgeist entspricht - war da nicht mal ein Buchtitel mit N-wort? Die Autor*innenrunde ist entsprechend divers aufgestellt, böse könnte man sagen: Hauptsache divers, wobei Durga immerhin eine Doppelfolge von Doktor Who verfasst hat. Kontrovers wird es auch, denn divers bedeutet schließlich ganz unterschiedliche "Wirs" wie Durga bald feststellen muss.
Vor dem Workshop formiert sich der Protest verunsicherter weißer Christie Fans. Wird jetzt auch noch die große alte Dame des britischen Kriminalromans für politisch unkorrekt erklärt, zensiert oder gar verbannt? Und das, wo gerade die Queen gestorben ist und die Briten Trauer tragen?
Das wäre eigentlich schon mal ordentlich Stoff für ein Buch, doch damit ist nicht genug: Durga fällt gewissermaßen durch die Zeit und landet im India House des frühen 20. Jahrhunderts, unter Studenten/Revolutionären, die nicht so ganz dem Gewaltlosigkeitsideal des von Durga verehrten Gandhi entsprechen, dafür aber um so mehr dem revolutionären Eifer, den Durgas vor kurzem verstorbene Mutter teilte. Das Verhältnis der beiden war schwierig. Durga hat es der Mutter nie wirklich verziehen, dass diese sich aus ihrem Leben und in den politischen Widerstand verabschiedete, als Durga gerade einmal 14 war.
Plötzlich findet sich Durga im Körper von Sanjeev, einem Studenten, der ihre Erinnerungen und ihr Ethos hat. Sich plötzlich als Mann wiederzufinden, ist allerdings ziemlich verwirrend, Durga steht vor der Herausforderung wieder in die Gegewart zu Mann und Sohn zurückzufinden und in der Zwischenzeit möglichst nicht die Geschichte zu verändern. Man kennt das ja aus Science Fiction - die Vergangenheit zu verändern, könnte Zeitreisenden die Rückkehr unmöglich machen...
Zugleich ist die Reise in die Vergangenheit eine Reise zu Durgas kulturellen Wurzeln, die, was die indische Seite angeht, ziemlich brachliegen. Sie ist wütend, dass ihr Vater ihr nie Bengali beigebracht hat, plötzlich ist sie in einem hochpolitisierten indischen Mikrokosmos in London, erlebt koloniale Unterdrückung, findet sich in politischen Debatten wieder, über die sie bisher nur gelesen hat.
Auch auf knapp 550 Buchseiten ist das ganz schön viel Stoff. Wäre weniger mehr gewesen? Vielleicht. Aber andererseits ist diese Mischung ausgesprochen reizvoll. Ein paar Logiklöcher hat die Geschichte und lässt ein paar Fragen offen, bietet aber auch viel zum Nachdenken. Lesenswert.
Mithu Sanyal erschafft in ihrem zweiten Roman „Antichristie“ einen wilden Ritt der historischen, literarischen und popkulturellen Bezüge, bei dem man letztlich sehr viel hinzulernt, man darf aber auch ...
Mithu Sanyal erschafft in ihrem zweiten Roman „Antichristie“ einen wilden Ritt der historischen, literarischen und popkulturellen Bezüge, bei dem man letztlich sehr viel hinzulernt, man darf aber auch nicht zwischen den Jahrhunderten verloren gehen.
Der Plot von „Antichristie“ ist schwer kurz zusammenzufassen, hier also nur ein Versuch: Durga ist eine Drehbuchautorin für Science Fiction und Costume Drama um die Fünfzig, deren deutschstämmige Mutter, zu welcher sie nach der Trennung der Eltern ein angespanntes Verhältnis hatte, vor kurzem verstorben ist. Den indischstämmigen Vater, bei dem Durga nach der Trennung aufwuchs, lernen wir erst einmal nur kurz bei der „Bestattung“(dem Verstreuen) der Asche kennen. Eine ruhige Trauerverarbeitung scheint für Durga kaum in Sicht, muss sie doch direkt nach London weiterreisen, da sie den Auftrag hat, an einer anti-rassistischen Neuverfilmungsserie zu Agatha Christies Detektiv-Figur Hercule Poirot mitzuarbeiten. Sie ist Spezialistin für sogenannte Locked-Room-Mysteries und im Laufe des Romans wird sie einem solchen auch selbst gegenüberstehen. In London angekommen dauert es nicht lange und die designierte Doctor Who-Autorin reist unfreiwillig aus dem Todesjahr der britischen Königin Elisabeth II. 2022 zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Selber Ort, andere Zeit. Und: Anderer Körper, denn nun befindet sie sich im Körper eines jungen Anfang Zwanzig jährigen Inders, der gerade aus der indischen Kolonie nach London gekommen ist. Als diese Person schließt sie/er sich der indischen Unabhängigkeitsbewegung an, die auch von London aus geführt wird, und kommt in Kontakt mit wichtigen intellektuellen Vertretern der Bewegung, unter denen eine hitzige Diskussion herrscht, ob ein Widerstand gewaltfrei oder mit Mitteln der Gewalt geführt werden soll und darf. Mit der Zeit wird klar, dass es sich weniger um eine Zeit- als vielmehr um eine Astralreise handelt und die Person Durga/Sanjeev (wie sie/er sich im historischen London nennt) mehrfach zwischen den Zeiten hin und her wechselt.
Es ist schon unglaublich ambitioniert gemacht, wie Sanyal hier so viele Themen miteinander verbindet. Da ist nicht nur die Fragestellung, wie zu einer Königsfamilie stehen, die noch viele Jahre koloniale Gräueltaten billigte, sondern auch, wie rassistisch und von kolonialen Mustern geprägt literarische Klassiker sein können und ob dies neu interpretiert werden sollte. Auch geht es in einem großen Schwerpunkt um den indischen Unabhängigkeitskampf von der Kolonialmacht Groß Britannien. Und gleichzeitig muss sich Durga ihrer eigenen Lebensgeschichte, ihren Eltern, deren Lebenserfahrungen sowie der Trauer um die verstorbene Mutter stellen. Stilistisch kommt es dann auch noch zu einem im Roman eingebauten Querverweis auf die Krimis von Agatha Christie, indem im Vergangenheitsstrang ein Locked-Room-Mystery geschieht, welches mithilfe eines berühmten Detektivs aufgeklärt werden soll. Und mit dem Trick der Astralreise gibt die Autorin der zeitgenössischen Figur Durga die Chance, die damaligen Diskussionen um den moralisch „richtigen“ Weg eines Widerstands aus unserer heutigen Sicht immer wieder zu reflektieren und zu bewerten.
Gerade der letzte schriftstellerische Trick von Sanyal ist für mich der stärkste Pluspunkt an diesem Roman. Denn wird ein historischer Roman geschrieben, steht es einem nicht zur Verfügung, eine zeitgenössisch-wertende Figur daran teilhaben zu lassen. Schreibt man einen Roman, der in der Gegenwart spielt, können die Figuren gar nicht nachempfinden, wie es sich zur damaligen zeit für die realen Protagonist:innen angefühlt haben muss. Diese Gegenüberstellung löst die Autorin hier äußerst kreativ.
Der Schreibstil von Sanyal ist immer wieder von witzigen Kommentaren und Hinweisen durchsetzt, sodass sich der Text oft mit einer gewissen Leichtigkeit lesen lässt, obwohl er sehr schwere Themen behandelt. Allerdings schweift die Autorin auch deutlich aus und man muss ein großes Interesse an der Geschichte des indischen Unabhängigkeitskampfes mitbringen, um hier bei der Stange bleiben zu können. Nicht viel anfangen konnte ich mit den nun auch noch zusätzlich zu jedem Kapitelbeginn eingeschobenen Regieanweisungen für einen möglichen Filmset. Um was es sich handelt, wird schnell klar, aber trotzdem sind diese Anweisungen plus die darauf folgenden Zitate aus verschiedenen (pop-)kulturellen Quellen meines Erachtens einfach zu viel zu all den anderen stilistischen und inhaltlichen Mitteln. In der Struktur ist der Roman also wirklich sehr komplex.
Letztlich wirkte mir der Roman auf literarischer Ebene aufgrund der unglaublich vielen Ideen, die Mithu Sanyal hineingepackt hat, doch zu überladen. Im Vergleich hat mir „Identitti“ diesbezüglich mehr gefallen, da der Roman stringenter ausgeführt wirkte. So schwanke ich sehr zwischen 3 und 4 Sternen in der abschließenden Bewertung. Der Roman ist unterm Strich - mit den entsprechenden Ambitionen und Durchhaltevermögen der Leser:innen - äußerst lehrreich und dadurch durchaus lesenswert.
Die Queen ist tot. Und die fünfzigjährige Durga hat gerade ihr Mutter verloren. Sie und die Familie sind dabei, die Asche zu verstreuen, bekommt sie Nachrichten aus der neuen WhatsApp Gruppe. Durga hat ...
Die Queen ist tot. Und die fünfzigjährige Durga hat gerade ihr Mutter verloren. Sie und die Familie sind dabei, die Asche zu verstreuen, bekommt sie Nachrichten aus der neuen WhatsApp Gruppe. Durga hat einen neuen Job, es soll Neuverfilmungen von Agatha Christie geben. Dabei soll auch die britische Kolonialzeit aufgearbeitet werden und die Krimis in ein politisch korrektes Gewand gekleidet werden. Dass Durga, die indische Wurzeln hat, sich plötzlich im London des Jahres 1907 wiederfindet, um im India House mit indischen Revolutionären zu debattieren.
Agatha Christie neu interpretieren, geht das eigentlich? Oder braucht man das? Nun, immerhin ist es für Durga ein Job und eine interessante Aufgabe. Christie Verfilmungen gibt es immer wieder neu und vielleicht kann sie mit dem Team noch etwas Neues dazu geben. Aus heutiger Sicht ist Christie natürlich nicht politisch korrekt. Daraus lässt sich sicherlich eine Geschichte spinnen. Auf die Zeitreise nach London zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist Durga nicht gefasst. Allerdings ist ihr Vater aus Indien nach Deutschland eingewandert, so dass sie tatsächlich ein wenig in ihrer eigenen Geschichte landet.
Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 hat dieser Roman einen tollen Platz. Die Beschreibung des Brainstormings zur Erstellung von Drehbüchern zur Neuverfilmung von Romanen von Agathe Christie ist eine Idee, die jeden triggern kann, der die Serien und Filme gerne schaut. Mit der indischen Revolution und den Unabhängigkeitsbestrebungen wird es da schon etwas schwieriger, insbesondere wenn man sich da eher nicht auskennt beziehungsweise, die eigenen Kenntnisse mit Gandhi beginnen und aufhören. Damit wird der Roman noch anspruchsvoller zu lesen, zumal man auch geneigt ist, etwas zu tun, womit Durga auch schnell bei der Hand ist, man fragt mal das www. Also bleibt der Roman zwar recht fordernd, aber auch sehr interessant. Auch die Rahmenhandlung mit dem Tod sowohl von Durgas Mutter als auch der Queen ist ein genialer Schachzug.
Das auffällige Cover bringt den Inhalt dieses herausfordernden und intelligenten Romans bestens auf einen Nenner.
„Schließlich hatte ich mich danach immer gesehnt: einer Vergangenheit, in der Leute wie ich vorkamen, und zwar HIER und nicht DORT.“
Mithu Sanyals Debutroman „Identitti“ gefiel mir so gut, dass ...
„Schließlich hatte ich mich danach immer gesehnt: einer Vergangenheit, in der Leute wie ich vorkamen, und zwar HIER und nicht DORT.“
Mithu Sanyals Debutroman „Identitti“ gefiel mir so gut, dass ich nach der Lektüre (obwohl ich als Leserin mit den meisten Thesen überhaupt nicht konform gehe) auch das Audiobook angehört habe, und das als absoluter Hörbuchmuffel! Die Schwächen bestimmter Konzepte wurden entlarvt und oft dachte ich beim Lesen „dito!“, etwa beim unsäglichen Begriff „Dönermorde“, der in der story zu Recht kritisiert wurde. Die Autorin war mir sympathisch, da sie für einen Dialog plädierte. Gute Literatur fordert heraus.
Daher habe ich „Antichristie“ noch vor dem Erscheinungstermin auf meine Wunschliste gesetzt.
Worum geht’s?
Der Roman behandelt diverse Themen. Im Zentrum steht die 50jährige Ich-Erzählerin Durga Chatterjee (eine Drehbuchautorin). Zu Beginn der Geschichte geht es um Trauerbewältigung, da die deutsche Mutter Durgas (ihr indischer/bengalischer Vater taucht mit seiner neuen Frau auf) verstorben ist. Zu den Eltern hat die Romanheldin ein eher schwieriges Verhältnis, da der Vater trotz Anwesenheit nicht greifbar war, arbeitete sie sich an der (nicht grundlos) zu Verschwörungstheorien neigenden Mutter ab. Die Figur einer Hippiemutter, die den Nachwuchs verlässt, um sich selbst zu verwirklichen, ist ein wandelndes Klischee, welches man auch bei Houllebecq findet. Die Erzählerin bemüht sich, alle Positionen eines Diskurses abzubilden, wobei sie natürlich zu manchen Theorien eher tendiert. (Es wird im Roman aber nicht durchweg eine dogmatische, „woke“ Haltung eingenommen, das Konzept der cultural appropriation etwa wird im Spiegel des zeitlichen Wandels reflektiert, Colourism wird kritisiert, überhaupt gibt es Raum für Ambivalenzen, für ambiguity, wie es so schön heißt. Andererseits muss man sagen, dass eben nicht alles relativ ist).
Durga ist mit einem Schotten verheiratet und Mutter eines Sohnes im Teenageralter. Da sie bereits Folgen für die britische Kultserie „Dr WHO“ verfasst hat, wird sie engagiert, um gemeinsam mit anderen (ethnisch diversen) Autoren eine zeitgemäße, zeitgeistige Version der ITV – Serie „Poirot“ zu erschaffen, ganz im Stil von „Bridgerton“ (ich halte die Adaption eines Unterhaltungsromans für schlimmen Kitsch). Agatha Christies Hercule Poirot als PoC? Belgien hatte schließlich Kolonien.
Das Fernsehspiel mit David Suchet liebe ich, daher habe ich mich über das Auftauchen im Roman sehr gefreut. Als das Drehbuchautorenkollektiv in einem Artikel polemisch „Let’s kill the Queen [Agatha Christie]“ fordert (im übertragenen Sinne, als Dekonstruktion) und Königin Elizabeth II. im Jahr 2002 tatsächlich stirbt, ist die Aufregung groß – die Demonstranten, die sich „ihre“ Geschichte(n) nicht nehmen lassen wollen, werden als treudoof-trottelige Gestalten porträtiert, die als „Christs for Christie“ oder als „Mums for Miss Marple“ („Twilight Moms“, anyone?) Namen wie „Melone“ oder „Sarah Ferguson“(!) tragen, und sogar teils als Dozenten arbeiten, aber eben nur an der „Open University“ und nicht etwa in Oxford. Von der Erzählstimme werden ihnen ein paar valide Argumente jedoch zugestanden.
Man könnte sagen, dass die Kolonialismuskritik das Hauptthema des Romans ist, es geht aber auch um (gesellschaftliche) Diskurse & Narrative, um Erinnerungskultur, Geschichtsbilder, Politik, Poststrukturalismus, um den sog. antimuslimischen Rassismus, um nation building und Nationalismus, (um „Die Erfindung der Nation“, wenn man so will) um Identitätspolitik & Genderkonzepte, um die Frauenbewegung, um Frauenfreundschaft und um Sozialismus (ein Eric-Hobsbawm-Zitat ist insofern ein Muss).
In der Geschichte wird buchstäblich auf mehreren Zeitebenen operiert, da Durga vordergründig durch die Zeit fällt und als junger Mann (es geschieht mehr als nur gender swapping) namens Sanjeev im London des Jahres 1906 auftaucht, wo er im Studentenwohnheim „India House“ mit diversen indischen Revolutionären (nicht nur mit Gandhi) lebt und konspiriert. Die Figuren wirken optisch wie dem Film „Sardar Udham“ (in Deutschland kann man den Film auf dem Streamingportal eines großen Internetversandhändlers sehen) entsprungen, wobei Sanyal an keiner Stelle Heldenverehrung betreibt. Sanjeev ist vom Vater des Hindunationalismus „Veer“ Savarkar fasziniert, gleichzeitig gibt es aber auch Durga und Figuren der Gegenwart, womit die Autorin das langweilige konventionelle Erzählschema von zwei getrennten Zeitebenen durchbricht. Im Verlauf der Erzählung wird die Heldin gemeinsam mit Sherlock Holmes im Stil des klassischen, kammerspielartigen britischen Kriminalromans (es wird darauf hingewiesen, dass es diese Erzähltradition auch in Japan gibt) einen Fall aufklären. Metaebene ahoi! Auch Identitätspolitik spielt eine Rolle: „Was sagte es über mich aus, dass ich durch die Zeit reisen und mein Geschlecht und mein Alter hinter mir lassen konnte, aber nicht meine race?“ Wenn im Roman von „braunen“ Menschen die Rede ist, bin ich raus, obwohl mir natürlich klar ist, dass „brown“ im englischen Sprachraum eine gängige (Selbst)bezeichnung ist.
Formal ist die Geschichte wie ein Patchworkroman konzipiert, wie zum Beispiel die 1992 ins Englische übersetzte Publikation der feministischen Autorin Dubravka Ugrešić „In the Jaws of Life“. Auch der Schriftsteller Saša Stanišić präsentierte mit „Herkunft“ einen Patchworkroman (2019 wurde die Veröffentlichung mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet). „Antichristie“ ist in gewisser Weise anspruchsvoller und nicht so gefällig geschrieben wie „Herkunft“, da man als Leser (m/f) auch einer (kultur)geschichtlichen bzw. Geschichts - Vorlesung beiwohnt und einem popkulturellen Happening. Die einzelnen Kapitel werden durch szenische Anweisungen und Zitate eingeleitet, womit das filmische, gar filmreife Element der (historischen) Realität abgebildet wird. Sanyal kritisiert auch realpolitische Phänomene der Gegenwart, etwa die antimuslimische Haltung der indischen Partei BJP, wobei sich die Frage stellt, inwiefern diese Haltung in Teilen auch durch die Terroranschläge von Mumbai im Jahre 2008 befeuert wurde? In „Antichristie“ werden die Gewaltexzesse und Pogrome nach der indischen Unabhängigkeit und nach den Kriegen, aus denen u.a. Bangladesch hervorging, als Folge des britischen Imperialismus‘ dargestellt. „Perfidious Albion“ heißt es nicht selten. Und tatsächlich haben auch die Briten während ihrer Herrschaft Massaker verübt und sich nicht für diese Gräuel entschuldigt.
Ich habe mich sehr auf die Lektüre des Romans gefreut und etwas Neues und eine Weiterentwicklung erwartet. Ich wollte allerdings kein „Identitti“ – Recycling präsentiert bekommen. Wenn Durga die gleichen Probleme/Gedanken wie Nivedita aus „Identitti“ hat, wirkt das auf mich wie eine Wiederholung: beide Protagonistinnen leiden darunter, nicht als „richtige Inderinnen“ klassifiziert zu werden, beide betrauern die Tatsache, nicht bilingual erzogen worden zu sein. Man möchte entgegnen, dass auch das Erlernen der Muttersprache nicht vor einem Fremdheitsgefühl in Deutschland schützt, dass man auch mit Kenntnis der Muttersprache seinen Namen noch buchstabieren muss, und dass man sich mit einer hybriden Identität (notgedrungen) arrangieren muss. Das Gefühl einer „sowohl – als – auch“ – Existenz wird man manchmal ein Leben lang nicht los, und man könnte sogar argumentieren, dass die Hauptfigur mit einem deutschen Elternteil (ergo einem deutschen Pass) privilegiert ist. Durga fühlt sich regelrecht betrogen, wenn sie sagt: „Da war so viel Weltgeschichte, die mir nie in der Schule oder an der Uni beigebracht worden war.“ Ein Studium der Geschichtswissenschaft hätte da vielleicht geholfen; es stimmt aber, dass der deutsche Schulunterricht das Hauptaugenmerk auf den Nationalsozialismus richtet.
Wenn Durga von der Freundschaft zu ihrer bff Nena berichtet, wird der Handlungsstrang aus „Identitti“, in welchem Nivedita traurig über die häufige Abwesenheit ihrer liebsten WG-Mitbewohnerin ist, 1:1 übernommen. Die Erzählperspektive bringt es mit sich, dass man leider manchmal das Gefühl bekommt, dass das Ganze eine einzige Nabelschau der Protagonistin ist. Wenn Durga „Menschenrechtsverletzungen auf Social Media“ anprangert, drängt sich der Gedanke auf, dass „Antichristie“ in Teilen ein autofiktionales Werk ist. Manche Sätze machen betroffen, sie sind nachvollziehbar: „Die Frage, die mich ein Leben lang umgetrieben hatte – wer wäre ich, wenn ich in Indien aufgewachsen wäre?“ Eine ähnliche Frage hat sich wohl jedes Migrantenkind in Deutschland schon einmal gestellt. Insofern fällt es stellenweise schwer, den Roman zu kritisieren.
Ist „Antichristie“ auch ein Coming of Age – Roman (obwohl Durga schon 50 Jahre alt ist.)? Der Roman ist fast 600 Seiten dick, für mein Empfinden verzettelt sich die Autorin stellenweise, auf manche Details kann wirklich verzichtet werden (auf die Frage, wie attraktiv Männer mit einem „Trainspotting „meets xy – Chic sind, Dass „Nena“ die Kurzform von „Susanne“ ist, treibt die Seitenzahl unnötig in die Höhe, ebenso wie der Verweis auf vorchristliche Phänomene oder das Zitieren von Tweets. In Großbuchstaben verfasste Passagen nerven einfach nur). Kann man das der Verfasserin ankreiden, die Lektorin oder der Lektor hätte den Text kürzen und straffen müssen; das Korrektorat Flüchtigkeitsfehler wie „Weisbrot“ korrigieren. Es ist schade, wenn Leser die Lektüre ob der Länge abbrechen, zumal die Autorin gegen Ende doch noch die Kurve mit einem Krimiplot kriegt - um kurz darauf wieder in’s Dozieren zu verfallen. Man kann viel lernen, als Geisteswissenschaftler wird man mit vielen Debatten und Diskursen aber schon vertraut sein. Es ist wunderbar, dass manche Themen aus dem akademischen Elfenbeinturm geholt und einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden, wobei nicht jeder Mensch in Deutschland so ignorant ist wie von „Antichristie“ angenommen. Historiker wissen, dass der eurozentrische Blick auf die Ereignisse problematisch ist. Für die Lektüre von „Antichristie“ bedarf es keiner Vorkenntnisse, man wird als Leser/in an die Hand genommen und bekommt alles erklärt, muss nichts zum besseren Verständnis nachschlagen: „Muhammad Ali Jinnah? […] Der die Muslim League anführen und später der erste Präsident Pakistans sein wird.“ Man kann nicht behaupten, dass der Roman nicht jeden Leser „mitnimmt“, um es salopp zu formulieren. Nicht jede Figur kann Karlheinz oder Erna heißen, es gibt definitiv nicht zu viele Personen im Roman (Hilfestellung bietet auch das Personenverzeichnis am Ende, passenderweise „Cast & Crew“ ).
Vielleicht funktioniert die story im anglophonen Sprachraum aber besser. „Dr WHO“ ist in Deutschland keine legendäre TV – Serie, beim Thema Kolonialismus denkt man in Deutschland oft nur an die Herero und Nama, wobei im kolonialismuskritischen Roman „Das Museum der Welt“ aufgezeigt wird, dass auch deutsche Forscher wie die Gebrüder Schlagintweit (im Auftrag der East India Company) in Indien unterwegs waren.
Die Autorin brennt für ihr Sujet, sie verfügt über ein großes Wissen und man spürt die schiere Erzählfreude, daher ist es schade, dass der Roman (wie zuvor „Identitti“) von direkter Rede /Dialogen dominiert wird. Die wichtigen Botschaften des Romans werden von seitenlangem Gelaber überdeckt, wieso reden die Figuren mehr, als zu handeln? Die Erzählung ist mehr als bloßes Geschwätz, aber es fällt schwer, am Ball zu bleiben, wenn so viel monologisiert und debattiert wird. Apropos Figuren – sie haben in meinen Augen keine wirkliche Tiefe. Manchmal wirken die Figuren infantil, wenn vom „sexysten Hijab“, oder von „coolen“ Frauen die Rede ist, von Männern, die in ihrer „Jugend“ aufgrund ihrer Physiognomie „sexy“ waren, und manchmal wird’s schwülstig: „Schließlich war ich nicht nur von Savarkar angezogen, sondern auch von mir selbst. Von diesen vollen Lippen, die ich nicht aufhören konnte mit meinen Fingern zu berühren, von diesem so magischen wie magnetischen Penis, den ich […] niemals vergessen konnte.“
Im Roman wird die Frage aufgeworfen, welche Ideologie mehr Menschen getötet hat, wobei eingeräumt wird, dass sich in Deutschland Nationalsozialismus/ Shoa/ Kolonialismusvergleiche verbieten, und dass andernorts dieses Tabu nicht in dieser Form existiert. Mao, Stalin, der Holodomor etc. spielen bei diesen Vergleichen keine Rolle.
Stilistisch ist „Antichristie“ nicht der ganz große Wurf, die Machart von „Identitti“ wird sozusagen beibehalten, da es sehr viele Dialoge gibt. Teilweise wirkt der Roman wie eine verkappte wissenschaftliche Arbeit, die etappenweise verfasst und vor dem Abgabetermin nicht noch einmal überarbeitet wurde. Ein fast selbstverliebter Unterton wird durch humorvolle Passagen abgefedert, die natürlich ein wenig kokett sind. Ich musste lachen, als Durga „von sich selbst beeindruckt“ war oder als sie anmerkte, sie wolle sich „durch Unkenntnis“ nicht „davon abhalten lassen, andere zu belehren.“ Im letzten Drittel des Romans dreht die Erzählerin noch einmal voll auf, ich liebe die literaturwissenschaftlichen Aspekte und Bezüge, sprechende Büsche finde ich richtig charmant. Man kann sehr viel über indische Geschichte lernen, und ich habe Lust bekommen, eine wissenschaftliche Publikation Sanyals zum Thema Indien zu lesen, da ich die Prosa der Autorin anstrengend finde. Wenn es aber in Rezensionen heißt, dass die Autorin in Antichristie „alles zu einem wilden Bollywood-Tanz“ vermengt, wird klar, dass die deutsche Öffentlichkeit einen solchen Roman nötig hat. Ich liebe Bollywood. Man wundert sich allerdings über die Ethnisierung, außerdem dreht nicht jeder indische Regisseur Bollywoodfilme (Nair, Kapur etc.). „Antichristie“ hat weder formal noch inhaltlich etwas mit der Hindifilmindustrie gemein.
Fazit:
Der Antichrist geht um? Sanyals zweiter Roman ist ein postkolonialistisches Manifest. Welche Form von Widerstand ist richtig und legitim? Es geht auch um deutsche Befindlichkeiten. Stellenweise war ich aufgrund der Form schwer genervt von der Geschichte; das Sujet ist aber so interessant, dass ich froh bin, den Roman komplett gelesen zu haben. Manche Ideologien, Theorien und Konzepte muss man hinterfragen; natürlich ist die Publikation am Puls der Zeit. Trotz meiner Kritik denke ich, dass der Roman mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet werden sollte.
Ich mochte „Identitti“ richtig gerne und habe Einiges an Polarisierungspotential auch in Mithu Sanyals neuem Roman gefunden. Das Buch ist wirklich komplex, oft verwirrend und trotzdem witzig, weshalb ich ...
Ich mochte „Identitti“ richtig gerne und habe Einiges an Polarisierungspotential auch in Mithu Sanyals neuem Roman gefunden. Das Buch ist wirklich komplex, oft verwirrend und trotzdem witzig, weshalb ich in meinem Urteil sehr ambivalent bin. 🥴
Wirklich sicher bin ich mir darin, dass dies ein Roman für wiederholtes Lesen ist. Sanyal hat hier offensichtlich ein Recherche-Mammutprojekt bewältigt, so dicht ist das Werk. Beim ersten Lesen konnte ich unmöglich auch nur annähernd alles erfassen, was hier an Auseinandersetzung mit Identität und Kolonialisierung drin steckt. Ich habe zwar Einiges über den indischen Befreiungskampf gelernt und fand die Debatte rund um bewaffneten/unbewaffneten Widerstand sowie das Auftreten so vieler realer Figuren mit ihren diversen Positionen bereichernd. Doch hat mich die Fülle auch wirklich überfordert und ich hatte irgendwann Schwierigkeiten, der Handlung noch folgen zu können.
Die Zeitreise und Verblendung der beiden Figuren Sanjeev und Durga hat die Geschichte zwar innovativ, aber für mich auch deutlich schwerer lesbar gemacht. Ich habe mir deshalb Unterstützung vom Hörbuch geholt (Kompliment an der Stelle an die Hörbuchsprecherin! ❤️), welches die Figuren durch Stimmvarianz für mich deutlicher unterscheidbar gemacht hat. Parallel gelesen habe ich aber trotzdem, denn die vielen indischen Namen haben das Verständnis erschwert - und hier liegt gleichzeitig auch eine so deutliche Gesellschafts-/Literaturkritik: Warum kennen wir in der westlichen Literaturwelt so wenige Figuren mit indischen Namen?
Ich finde es herausragend, wie die Autorin es erneut schafft, gesellschaftspolitische Themen nicht nur innerhalb des Buches abzuhandeln, sondern damit einen Bogen zu schlagen zur lesenden Person selbst. Sicherlich kann „Antichristie“ nicht gelesen werden, ohne sich mindestens 35 Fragen zur eigenen Positionierung zu stellen. Dabei verfällt die Autorin nicht in vereinfachende Dogmen, was ich sehr schätze und auf positive Art herausfordernd finde.
Thematisch ist zwar nicht zwangsläufig Vorwissen vonnöten, ich habe aber schon gemerkt, dass auf Dauer zu viele mir unbekannte popkulturelle oder historische Referenzen drin waren. Selbst wenn diese zum Verständnis nicht wichtig sind, sorgt so etwas bei mir immer für Irritationsmomente und somit für einen gestörten Lesefluss. So spannend ich die Debatten rund um Intersektionalität, Aufarbeitung, Identität und historische Verantwortung in der Gegenwartsebene auch fand, so war mir das in der Gänze doch schlicht zu viel. Und den Krimi-Aspekt mit prominentem Gastauftritt fand ich zwar irgendwie fesselnd, aber mit allem anderen zusammen auch wieder… zu viel.
Für mehr als 3 Sterne war es mir persönlich also einfach zu chaotisch, sodass manche Themen im Zeitreisen-Trubel untergegangen sind. Trotzdem empfehle ich das Buch allen, die Sanyals Humor mögen und sich nicht vor dichten, philosophischen Werken scheuen, welche mit Aufmerksamkeit und ggf. mehrfach gelesen werden sollten.