Eine Kindheit im Schatten der Wende
Verlassene NesterPatricia Hempels Roman Verlassene Nester entführt uns in den Sommer 1992, kurz nach der Wiedervereinigung Deutschlands, in eine fiktive Ortschaft an der Elbe. Im Zentrum steht die 13-jährige Pilly, die ...
Patricia Hempels Roman Verlassene Nester entführt uns in den Sommer 1992, kurz nach der Wiedervereinigung Deutschlands, in eine fiktive Ortschaft an der Elbe. Im Zentrum steht die 13-jährige Pilly, die versucht, in einer zerrissenen Familie und einer ebenso fragmentierten Gesellschaft ihren Platz zu finden. Patricia Hempel, geboren 1983 in Berlin, studierte zunächst Archäologie, bevor sie sich dem Literarischen Schreiben widmete. Sie ist bekannt für ihre Arbeit in der queeren Literaturszene und engagiert sich in der Förderung von Diversität im Literaturbetrieb. Verlassene Nester ist ihr zweiter Roman und wurde für den Alfred-Döblin-Preis 2023 nominiert.
Worum geht's?
Pilly lebt mit ihrem trinkenden Vater in einem trostlosen Ort an der Elbe. Ihre Mutter, eine ehemalige Olympiateilnehmerin, hat die Familie verlassen, und auch sonst scheint die Familie von den Nachwirkungen der DDR-Zeit und der Wende geprägt zu sein. Während Pillys Vater sich in Alkohol flüchtet und die Tanten von einem besseren Leben im Westen träumen, sucht Pilly verzweifelt nach Halt. Diesen glaubt sie in der älteren Mitschülerin Katja zu finden, doch diese Beziehung verläuft nicht so, wie Pilly es erhofft. Als die Gärten der vietnamesischen Vertragsarbeiter abbrennen, erreicht der Sommer einen Wendepunkt, und Pilly steht plötzlich ihrer vermeintlichen Mutter gegenüber.
Meine Meinung
Das Cover hat meine Neugier geweckt, und nach dem Lesen kann ich sagen, dass es sehr gut zur düsteren und beklemmenden Atmosphäre des Buches passt. Leider muss ich gestehen, dass der Roman insgesamt überhaupt nicht meinen Erwartungen entsprach. Vielleicht liegt es daran, dass ich – als Österreicherin – mit der deutschen Geschichte nicht so vertraut bin und in der Schule kaum etwas über die DDR und die Wende gelernt habe. Viele der Wörter und Ausdrücke im Buch waren mir fremd, und ich hatte Schwierigkeiten, den verschiedenen historischen und gesellschaftlichen Bezügen zu folgen. Es wird vorausgesetzt, dass die Lesenden über umfassendes Wissen zur DDR-Zeit verfügen, was das Verständnis deutlich erschwert.
Ein weiteres großes Problem für mich war die Vielzahl der Figuren, die in der Geschichte auftauchen. Ich konnte kaum nachvollziehen, in welcher Beziehung die Charaktere zueinander stehen, was es zusätzlich kompliziert machte, den roten Faden zu behalten. Oft wechselte die Perspektive mitten im Kapitel oder sogar im Absatz, was das Verstehen der Handlung noch schwieriger machte. Es wäre hilfreich gewesen, wenn die Kapitel klarer strukturiert gewesen wären, zum Beispiel mit Hinweisen darauf, wessen Perspektive gerade erzählt wird.
Inhaltlich finde ich das Thema des Buches durchaus spannend. Die Darstellung von Vater-Tochter-Beziehungen, der Auswirkungen der Wende und Pillys innerer Kampf, erwachsen zu werden, sind interessante Aspekte. Doch die Art, wie dies umgesetzt wurde, hat mich nicht überzeugt. Die ständigen Rückblenden und Zeitsprünge waren oft verwirrend, und ich verlor schnell den Überblick. Besonders schwierig fand ich es, dass mitten im Absatz von der Gegenwart in die Vergangenheit gesprungen wurde, ohne klare Trennung. Das führte dazu, dass ich mich ständig orientieren musste, was mir das Lesevergnügen nahm.
Im Laufe des Romans hatte ich den Eindruck, dass viele Handlungsstränge entweder offenblieben oder einfach fallengelassen wurden. Es schien, als hätte sich die Autorin bei der Vielzahl der behandelten Themen ein wenig verzettelt. Dabei sind diese Themen doch so wichtig, wie beispielsweise die Darstellung des zunehmenden Rassismus in der Gesellschaft oder die ersten queeren Beziehungen während der Jugend. Zudem setzte das Buch einiges an Vorwissen voraus, um die feinen Zwischentöne zu verstehen, was das Lesen zusätzlich erschwerte. Auch die im Klappentext angekündigte Geschichte über das Verschwinden von Pillys Mutter vermittelte den Eindruck eines zentralen Handlungsschwerpunkts, der jedoch nicht im erwarteten Maße ausgearbeitet wurde.
Es gab jedoch einige Passagen, die mir sehr gut gefallen haben, insbesondere die bildhaften Beschreibungen der Trostlosigkeit und Pillys Beziehung zu ihrem Vater. Diese Abschnitte waren eindrucksvoll und emotional, doch insgesamt war die Lektüre für mich eher eine Herausforderung als ein Genuss. Ich musste mich regelrecht zwingen, das Buch zu beenden, was leider kein gutes Zeichen ist. Auch der Mangel an Erklärung für bestimmte historische und gesellschaftliche Hintergründe hat dazu beigetragen, dass ich viele Situationen und Begriffe nicht deuten konnte.
Fazit
"Verlassene Nester" ist ein Roman mit einem starken Thema und durchaus poetischen Momenten, doch die unklare Erzählweise und die Vielzahl an unzureichend beschriebenen Figuren machten es für mich zu einer anstrengenden Lektüre. Obwohl es einige schöne Passagen gab, konnte mich die Geschichte als Ganzes nicht überzeugen. Daher vergebe ich 2 von 5 Sternen.