Cover-Bild Suche liebevollen Menschen
(6)
  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
30,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Molden Verlag in Verlagsgruppe Styria GmbH & Co. KG
  • Themenbereich: Biografien, Literatur, Literaturwissenschaft - Biografien und Sachliteratur
  • Genre: Sachbücher / Geschichte
  • Seitenzahl: 308
  • Ersterscheinung: 10.10.2024
  • ISBN: 9783222151316
Julian Borger

Suche liebevollen Menschen

Mein Vater, sieben Kinder, und ihre Flucht vor dem Holocaust
Hainer Kober (Übersetzer)

Wien, 1938. Verzweifelt versuchen jüdische Eltern, ihre Kinder vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. In ihrer Not schalten sie Kleinanzeigen im »Manchester Guardian«, in denen sie ihre eigenen Kinder ausschreiben, um ihnen ein Überleben in der Fremde zu sichern – obwohl sie wissen, dass sie sich nie wiedersehen werden. Jahrzehnte später stößt der Journalist Julian Borger auf eine dieser Anzeigen und erkennt den Namen eines der Kinder: Robert Borger. Sein Vater. Es ist der Beginn einer Recherche, die Julian Borger mitten hinein führt in ein dunkles Familiengeheimnis. Und Anlass für ihn ist, die Spuren von sieben weiteren Kindern zu verfolgen, deren Schicksalsreise von Wien aus ins Exil nach Shanghai, in die Arme von niederländischen Schmugglern, an die Seite französischer Widerstandskämpfer – oder ins KZ Auschwitz führte.

Dieses Produkt bei deinem lokalen Buchhändler bestellen

Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.09.2024

Berührendes Buch über die geretteten jüdischen Wiener Kinder

0

1938 war in der englischen Zeitung “The Manchester Guardian” eine schmale Anzeige zu lesen: “I seek a kind person who will educate my intelligent Boy, aged 11”. Ähnlich lautende Anzeigen standen daneben. ...

1938 war in der englischen Zeitung “The Manchester Guardian” eine schmale Anzeige zu lesen: “I seek a kind person who will educate my intelligent Boy, aged 11”. Ähnlich lautende Anzeigen standen daneben. Wer steckte hinter diesem Gesuch? Es war die Wiener Familie Borger, die auf dem Wege ihren Sohn Robert (gerufen Bobby) vor dem Zugriff der Nazis retten wollte.

Und tatsächlich, es hat gottseidank funktioniert. Mit Vermittlung des Jüdischen Netzwerkes gelangte Robert in die liebevolle Obhut von Mr and Mrs Bingley, einem Lehrerehepaar aus Nord Wales.
Es war ein längerer Weg, bis der spätere Sohn dieses elfjährigen „Bobby“, der Autor des vorgestellten Buches Julian Borger, diese und weitere Anzeigen fand. Julian Borger war früher Auslandskorrespondent, Kriegsberichterstatter und ist heute Leiter des Außenpolitik-Ressorts des »The Guardian«. 2014 wurden er und sein Team mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Er bringt also genug Erfahrungen mit, sich auf die Spuren der Vergangenheit zu begeben.

Als er 2021 diese Anzeige fand, war sein Vater längst verstorben, ohne viel über seine Kindheit gesprochen zu haben. Julian Borger begann das Leben seines Vaters zu recherchieren und stieß dabei auf viele Unterlagen und Informationen, über die er und seine Familie vorher nichts wussten. Auch das Schicksal der Kinder aus den anderen Anzeigen begann er in Zuge der Recherche zu erkunden. Gemeinsam war ihre Herkunft: Wien. Der Blick in das Wien des Jahres 1938 lässt uns erschüttern.

Es gab zwei kritische Daten, die als Warnung dienten, zum einen der „Anschluss“ am 13. März 1938: Hitlers Annexion Österreichs, und zum anderen die sogenannte „Kristallnacht“, das Pogrom am 9. und 10. November 1938, als die Nazi-Horden die Fenster jüdischer Häuser in Deutschland und Österreich einwarfen, jüdische Geschäfte, Synagogen, Privathäuser plünderten und brandschanzten, Menschen verprügelten, verhafteten, verschleppten und ermordeten. Fast alle von Wiens 22 Synagogen wurden dabei niedergebrannt. Als Mensch jüdischen Glaubens auf die Straße zu gehen, war ein Spießrutenlauf und lebensgefährlich.
Bobbys Vater Leo Borger versäumte keine Zeit und gab die Anzeige für seinen Sohn am 3. August 1938 auf. Daneben stand jene von Gertrude Langer, 14 Jahre alt. Ein anderer Junge, der 16jährige Siegfried Neumann musste dies selber tun, sein Vater wurde in Dachau ermordet.

Viele verzweifelte, vorausschauende jüdische Eltern versuchten, ihre Kinder vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Diese Anzeigen waren eine Möglichkeit, um den Kindern ein Überleben in der Fremde zu sichern. Ob man sich je wiedersehen würde, war ungewiss und unwahrscheinlich. Die letzte Hoffnung waren die bekannten Kindertransporte, die 1938 bis zum Kriegsausbruch 1939 Kinder in rettende Ausland bringen konnten.
Im Laufe des Buches stehen wir mit dem Autor in der Haupthalle des Wiener Westbahnhofs, von wo die Kindertransporte 1938/39 und auch die Reise von Bobby Borger begannen. Heute erinnert hier die Bronzestatue eines kleinen, ängstlichen jüdischen Jungen daran, der auf einem Koffer sitzt. Genau denselben schleppte auch der Vater des Autors durch den Bahnhof und sein späteres Leben.

Julian Borger brauchte noch den Trigger eines beruflichen Zusammentreffens mit einer Frau, die wie er Nachkomme eines dieser geflüchteten Kinder ist, um endlich die Suche aufzunehmen. Er kann neben der Geschichte seines Vaters auch die Spuren von sieben weiteren Kindern aufgreifen. Deren schicksalhaften Reisen von Wien aus führten nicht nur ins Vereinigte Königreich, sondern auch in die USA, nach Schanghai, auf dem Umweg über die Niederlande ins KZ.

Der Autor lässt uns erahnen, was es für die Eltern in jener Zeit bedeutete, sich von ihren Kindern zu trennen. Wie sie auf die britische Leserschaft hofften, den Kindern ein Überleben und eine Zukunft zu schenken. Was für ein Mut, ein Verzicht, Vertrauen und Verzweiflung.
Die Kinder selber wollten natürlich nicht von ihren Eltern getrennt werden. Aber sie waren alt genug, die Demütigungen und Verfolgungen auf den Straßen zu sehen und zu begreifen, dass sie gehen mussten. Ihre Kindheit fand ein jähes Ende.

Borger nimmt uns mit auf seine investigative Recherche, um die Lebensreisen der Kinder in ihr späteres Erwachsensein nachzuverfolgen. Glück hat er, wenn er auf Nachkommen stößt, die Auskünfte erteilen können, so dass er von der Gegenwart aus, in die Vergangenheit zurückgehen kann. Eine unerwartete Überraschung erlebt er, dass eines der gesuchten Kinder mit ihm hochbetagt über Skype noch sprechen konnte.
Was für ein Segen, dass es hilfsbereite britische Familien gab, die Kinder aufnahmen, als Familienmitglieder oder auch als günstige Arbeitskräfte. Sie wurden gerettet, mussten aber alle Formen von Traurigkeit, Kummer und Verzweiflung durchstehen. Sie verloren nicht selten die Orientierung, als sie durch ihre neuen Leben ohne Familien und Heimat hindurch navigieren mussten. Die meisten sahen ihre Familien nie wieder und litten an Schuldgefühlen, die einzigen Geretteten zu sein.

Borgers Familie war eher eine Ausnahme, da sich die Eltern auch noch England retten konnten, nachdem man in Wien ihnen ihre gesamte Existenz entrissen hatte. Aber jeder musste sich einzeln für sich durchschlagen, ein Zusammenleben war nicht erlaubt. Für Borgers Vater, aber auch für den Autor und seine Geschwister war die Ziehmutter Nan immer eine Bezugsperson. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie der junge Bobby vor dem Geräusch des Wasserkessels Panik bekam, weil es für ihn wie das Pfeifen der Nazis anhörte, die ihn durch die Straßen jagten. In ihrem Ziehsohn sah sie nach seinem Selbstmord „das letzte Opfer der Nazis“.

Alle Kinder, deren Spuren Julian Borger verfolgt, haben Krieg und Holocaust überlebt. Doch der spätere Suizid von Bobby Borger, der nie mit der Familie über das Erlebte sprechen konnte, offenbart noch einmal die Wunden, die diese Erfahrungen geschlagen hatten. Die generationenübergreifenden Traumata der Überlebenden und Familien zeigt der Autor ebenfalls auf.

Fazit
Bereits das Cover ermöglicht den persönlichen Bezug zu den Menschen des Buches, denn es zeigt „Bobby“ Borger mit seinen Eltern und die rettende Anzeige.
Julian Borger schildert spannend und sehr informativ die Motive und die Vorgehensweise seiner Recherche. Nicht immer geht er dabei chronologisch vor, sondern zieht Verbindungen und Vergleiche.

Jedes Kapitel ist einer bestimmten Familie oder Kindern gewidmet. Bilder führen in den Text ein. Julian Borger versteht es, den Menschen über die er schreibt, eine Geschichte und ein Gesicht zu geben. Somit schenkt uns der Autor das Gefühl, dass wir die Menschen kennen.
Immer wieder verwebt er Zahlen und Fakten des Holocaust, schockierende und bewegende Elemente miteinander. Seine Art zu erzählen und zu erklären lassen die Zeit, die beteiligten Menschen und das Geschehen lebendig werden. Man spürt die Angst in der Verzweiflung und Düsternis aber auch den unendlichen Mut und die Liebe.

In unseren Zeiten, in denen in Zügen aus der Ukraine flüchtende Familien mit Kindern sitzen, Zeiten, in denen die Geschehnisse der Nazizeit verdrängt, abgeleugnet und verharmlost werden, Zeiten, in denen wieder die gleichen Sprüche gegrölt und Gesten offen gezeigt werden , Zeiten, in denen Menschen bedenkenlos rechtsextreme und stalinistische Parteien wählen, sind solche Bücher dringend nötig.

Ich kann dieses spannende, bewegende, rührende, aufrüttelnde Buch nur jedem empfehlen. Es hat eine leider nur zu große Aktualität.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.09.2024

Ein ganz besonderes Buch

0

Die Geschichte seines Vaters und der anderen Inserate-Kinder wird von Julian Borger ausführlich recherchiert. Mir hat sehr gut gefallen, wie er die Schritte beschreibt, mit denen es ihm gelungen ist, die ...

Die Geschichte seines Vaters und der anderen Inserate-Kinder wird von Julian Borger ausführlich recherchiert. Mir hat sehr gut gefallen, wie er die Schritte beschreibt, mit denen es ihm gelungen ist, die Kinder bzw. ihre Nachfahren zu finden. Ihre Fluchten sind teilweise ganz unterschiedlich und zeigen die große Verzweiflung und Macht des Zufalls. Dabei gab es Dinge, die mir bisher unbekannt waren und Julian Borger bettet die verschlungenen Wege gekonnt in historische Informationen, so dass man sich umfassend informiert fühlt. Die Erzählstruktur war im Großen und Ganzen so wie ich es erwartet hatte, also ein Kapitel zu jedem Kind. Allerdings werden auch die anderen Schicksale Kapitel übergreifend weiter vertieft, wodurch Gemeinsamkeiten in den Lebenswegen oder Unterschiede gut aufgezeigt werden konnten. Durch die Vielzahl der Personen war es manchmal schwierig zu folgen, aber da der Autor sehr umfassend recherchiert hat, ist das wohl unvermeidbar. Das Ganze liest sich wie eine Mischung aus Familienbiografie und Reportage, was sehr gut zu der Mischung aus Emotionen und Fakten passt und mir gut gefallen hat. Auch der Epilog und Julian Borgers Versuche, seinen Vater zu verstehen, fand ich sehr nachvollziehbar und authentisch. Ein sehr bewegendes Buch, bei dem ich öfters Tränen in den Augen hatte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.09.2024

Vom Gewicht des Verlustes und der Schuld des Überlebens

0

"Du sollst kein Täter sein, du sollst kein Opfer sein und niemals, unter keinen Umständen, ein Zuschauer.“ Yehuda Bauer

Das es sich bei diesem Buch keinesfalls um leichte Kost handelt, verrät ein Blick ...

"Du sollst kein Täter sein, du sollst kein Opfer sein und niemals, unter keinen Umständen, ein Zuschauer.“ Yehuda Bauer

Das es sich bei diesem Buch keinesfalls um leichte Kost handelt, verrät ein Blick auf den Klappentext und das vorangestellte Zitat. Ich brauchte daher einige Tage für die gut 300 Seiten umfassende Lektüre. Der Schreibstil mit häufig verwendeten Satzfragmenten ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, könnte jedoch der Übersetzung geschuldet sein.

Bereits die Einleitung macht neugierig auf die einzelnen Schicksale. Man spürt sofort an wie viel Mühe sich Julian Borger bei seiner Recherche, der Spurensuche der Schicksalsgeschwister, gemacht hat. Das folgende Zitat ist der Webseite JewishGen.org, entlehnt und repräsentiert teilweise die Beweggründe des Autors: „Wir können nicht in der Vergangenheit leben, und wir können sie nicht zurückfordern. ... Aber wir dürfen zulassen, dass die Erinnerung an die Vergangenheit uns prägt, unser Identitätsgefühl prägt und das prägt, was wir an künftige Generationen weitergeben."

Ich mag den eindrucksvollen Stil, der sowohl sachlich als persönlich ist und aus kurzen Annoncen sowie Erinnerungen Menschen samt ihrer Geschichten zu neuem Leben erweckt. Den roter Faden bildet über 12 Kapitel die Familienhistorie der Borgers - geschickt verwoben mit den Biografien weiterer Inseraten-Kinder und unter Bezugnahme auf das damalige Weltgeschehen. In jungen Jahren aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen, wurden sie auf sich allein gestellt von den Schrecken des Krieges erfasst.

Der persönliche Anteil verdrängt zunehmend die geschichtlichen Hintergründe. Trotz aller Entbehrungen und Verluste vermittelt die Geschichte Hoffnung in Form von unterschiedlichsten Lebenswegen und kleinen Wundern - obwohl die detaillierten Erinnerungen erschüttern. Den gemeinsamen Nenner bildet die Frage "Was wäre, wenn...?" Besonders die Schicksale von Manfred Schwarz und Lisbeth Weiss bewegen und stehen exemplarisch für die endlosen Gräueltaten: "Plötzlich ist man im Dunkeln eingeschlossen", schreibt Fred. „Die Lok pfeift, der Zug setzt sich in Bewegung. Wir sind unterwegs. Wohin?"

Ich würde das Werk als biografisches Sachbuch bezeichnen, welches zum Nachdenken anregt und Interessierten zu empfehlen ist. Borgers kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Verantwortung ist sowohl zeitgemäß als auch objektiv. Er stellt Fragen, die uns alle betreffen, und fordert uns auf, unser eigenes Handeln zu hinterfragen. Ich bin 38 Jahre alt und hoffe das dieses wichtige Buch dazu beiträgt, Verständnis und Mitgefühl zu wecken - denn: "Am Ende ist die Geschichte eines Lebens die Geschichte von Zufällen."

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.09.2024

Gegen das Vergessen

0

Julian Borger hat das Buch hervorragend und akribisch recherchiert, was mit Sicherheit nicht einfach war. Sein Vater war eines der Kinder, die von ihren Eltern in Inseraten in Großbritannien und in anderen ...

Julian Borger hat das Buch hervorragend und akribisch recherchiert, was mit Sicherheit nicht einfach war. Sein Vater war eines der Kinder, die von ihren Eltern in Inseraten in Großbritannien und in anderen Ländern angepriesen wurden, um ihr junges Leben zu retten. Dieses Schicksal hat den Autor dazu bewogen, dieses Thema anzupacken und weitere Betroffene zu suchen.

Das Buch greift die furchtbaren Ereignisse zur Zeit der Machtergreifung der Nazis in Österreich auf. Sensibel schildert der Autor die Ängste der jüdischen Bevölkerung, die gerade auch um die Sicherheit ihrer Kinder gebangt hat. Mir war bislang nicht bekannt, dass so viele Kinder allein nach Großbritannien und in andere Länder vermittelt wurden. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie schmerzvoll die Entscheidung für die Eltern ist, ihre Kinder allein fortzuschicken und nicht zu wissen, ob es das Richtige ist. Was das mit den Kindern gemacht hat, wird in dem Buch sehr deutlich. Welche Ängste diese ausgestanden haben, grauenvoll, ganz abgesehen davon, dass diese schreckliche Zeit sie in ihrem gesamten Leben begleitet hat.

Ich kann das Buch nur empfehlen. Viel zu schnell wird vergessen, was damals passiert ist und welchen Repressalien die jüdischen Bürger ausgesetzt waren. Das darf niemals vergessen werden und deswegen ist es wichtig, dass immer wieder darauf hingewiesen wird und die Zeit präsent bleibt. Niemals möchte ich so etwas erleben und man kann nur an jeden einzelnen appellieren, dieses mit aller Macht zu verhindern.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.09.2024

Hilferufe von verzweifelten Wiener Eltern, die versuchten, ihre Kinder vor dem Zugriff des NS-Regimes zu retten

0


Julian Borger schlägt in seinem aktuellen Sachbuch "Suche liebevollen Menschen - Mein Vater, sieben Kinder, und ihre Flucht vor dem Holocaust" ein für mich komplett neues Kapitel auf. Er schildert dabei ...


Julian Borger schlägt in seinem aktuellen Sachbuch "Suche liebevollen Menschen - Mein Vater, sieben Kinder, und ihre Flucht vor dem Holocaust" ein für mich komplett neues Kapitel auf. Er schildert dabei exemplarisch sehr hochemotional einzelne Kinderschicksale aus Wien zu Zeiten des NS-Regimes.

Gleich vorneweg möchte ich mich für diese sehr intensiven Einblicke bedanken, die Borger hier öffentlich macht, und den Manchester Guardian-Kindern damit posthum eine starke Stimme verleiht, die hoffentlich nie leise wird.

Die Originalstimmen der Holocaust-Betroffenen verstummen leider nach um nach. Genau deshalb ist es immens wichtig, das Wissen um die Gräueltaten des damaligen NS-Regimes für alle uns nachfolgenden Generationen präsent zu halten, dass genau solche Verbrechen hoffentlich nie mehr wieder passieren mögen.

In detektivischer Kleinarbeit machte sich Borger ans Werk als er eine Anzeige über seinen Vater im Manchester Guardian aus dem Jahr 1938 entdeckte.

In der Zeitung von Manchester wurden damals zwischen anderen Anzeigen genau solche Annoncen über Wiener Kinder platziert. Die Eltern wollten in weiser Voraussicht ihre Kinder vor dem Zugriff der NS-Schergen, den ganzen damit verbundenen Repressalien sowie den Gräueltaten in Sicherheit bringen und suchten weitab der Heimat Pflegefamilien für ihre Sprösslinge mit zum Beispiel den beiden nachfolgenden erschienenen Anzeigentexten.

"Gibt es einen Menschenfreund, der bereit ist, ein hochbegabtes Mädchen, 14 Jahre alt, Tochter eines jüdisch-österreichischen Rechtsanwalts, als Pflegekind aufzunehmen?"

"Gesunder und bescheidener Wiener Junge, Sohn eines jüdischen Anwalts aus Wien, Gymnasiast, mehrmonatige Erfahrung im Maschinenstricken, sucht Aufnahme in englischer Familie zur Fortsetzung seiner Ausbildung."

Die Kinder selbst wussten zu diesem Zeitpunkt mitunter noch nichts von ihrem baldigen Schicksal in für sie fremden Gefilden. Borger selbst schreibt dabei von elementaren Wendepunkten im Leben dieser Kinder. Sehr abrupt endete für diese jüdischen Wiener Kinder die Kindheit. Sie mussten urplötzlich ihre angestammte Heimat, ihre Familie und ihre Freunde verlassen. Der plötzliche Aufbruch von Wien bedeutete dann eben auch den Wegfall von Sicherheit und Gewissheit.

Genau diese Zäsur drückt sich beispielhaft im folgenden Buchzitat von Fred aus.

"Ich fühle mich zu alt zum Weinen, aber ich weiß sicher, dass meine Jugend jetzt vorbei ist."

Diese verworrenen Wege von Borgers Vater und von sieben weiteren Wiener Kindern erzählt der Autor in seinem vorliegendem Werk. Dabei muss man mitunter echt hart im Nehmen sein, da bei mir wirklich beim Lesen alle verschiedenen Emotionen und Gefühle angesprochen wurden.

Das globale Schicksal der Holocaust-Opfer dürfte denke ich vielen von uns bereits ein Begriff sein. Nur verblasst dieses globale Schicksal nach meiner Meinung leider viel zu schnell. Solche Einzelschicksale sind es, die meiner Meinung nach im Kopf viel präsenter bleiben und die genau veranschaulichen, was die NS-Schergen alles auf dem Kerbholz hatten.

Die Wege der Kinder von Wien waren sehr vielfältig und so haben nicht alle den Weg nach England eingeschlagen, sich der menschenverachtenden NS-Diktatur zu entziehen. Immer mit dem Wissen, dass ein falscher Schritt auch das eigene Ende bedeuten konnte. So ist es dann beispielsweise leider auch nicht verwunderlich, dass man selbst nach der Flucht nach Shanghai nicht vor dem Rückgriff der NS-Diktatur sicher war.

Für mich ist es ein ganz besonderes Kapitel in Deutschlands bzw. Europas dunkelster Stunde, die Borger hier versucht aufzuarbeiten und dadurch präsent hält.

In den aktuellen herausfordernden Zeiten, in denen gesichert rechtsextremistische Parteien in Deutschland im extremen Aufwind sind, sind es vielleicht genau solche Geschichten aus dem letzten Jahrhundert, die erzählt werden müssen, um uns unserer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu werden.

Wehret den Anfängen!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere