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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 15.06.2018

Gelungener, feministischer Roman mit Schwächen

Der Zopf
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Die Autorin erzählt drei Geschichten von drei ganz unterschiedlichen Frauen und verflicht diese zu einem literarischen Zopf. Die Inderin Smita setzt alle Hebel in Bewegung, ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Die Autorin erzählt drei Geschichten von drei ganz unterschiedlichen Frauen und verflicht diese zu einem literarischen Zopf. Die Inderin Smita setzt alle Hebel in Bewegung, um ihrer Tochter die Schule zu ermöglichen. Die Italienerin Giulia kämpft um das Weiterbestehen der Firma ihres Vaters, und die erfolgreiche Anwältin Sarah erhält auf dem Höhepunkt ihrer Karriere eine niederschmetternde Diagnose. Neben ihrem Mut, ihrer Kraft und Entschlossenheit haben die Frauen noch etwas anderes gemeinsam: Haare bedeuten ihnen auf ganz unterschiedliche Art die Welt.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präsens
Perspektive: aus drei verschiedenen Perspektiven (Smita, Giulia, Sarah)
Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: - Es wird genau beschrieben, wie Ratten getötet werden. Allerdings werden diese dann zumindest auch verwertet, indem sie gegessen werden. So war ihr Tod wenigstens nicht ganz umsonst. Es gibt außerdem einen Vergleich mit einem sterbenden Stier in der Arena.
Gewalt gegen Kinder: - Ein Mädchen wird von seiner Mutter geschlagen.

Warum dieses Buch?

Im Vorfeld habe ich nur positive Lesermeinungen gehört. Dadurch wurde meine Neugier entfacht.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Ich habe sehr schnell und leicht ins Buch gefunden. Die Schilderungen des Lebensalltages in Indien haben mich sehr schockiert und sofort mit Smita mitfühlen lassen. Zu den anderen Figuren habe ich langsamer eine Bindung aufgebaut, aber auch das dauerte nicht allzu lange. Bezeichnend ist bereits die Widmung („Den mutigen Frauen!“), die ankündigt, dass es sich um ein feministisches Buch handeln wird.

„Heute ist ein Tag, an den sie sich ihr Leben lang erinnern wird. Heute kommt ihre Tochter in die Schule.
Smita selbst hat keine Schule je von innen gesehen. In Badlapur haben Leute wie sie da nichts zu suchen. Smita ist eine Dalit. Eine Unberührbare.“ E-Book, Position 48

Inhalt, Themen & Botschaften (+)

„Der Zopf“ erzählt drei ganz unterschiedliche Geschichten, die alle durch das Thema Haare eher lose, aber dennoch geschickt miteinander verknüpft sind. Nicht alle Leben sind dabei immer gleich interessant, dennoch wird es, auch durch die kleinen Cliffhanger am Kapitelende, niemals langatmig. Ich war stets neugierig, wie es weitergehen würde. Am interessantesten fand ich jedoch Smitas Erzählstrang. Die Unberührbare hat so gut wie keine Rechte, ihre tägliche Arbeit besteht im Leeren der Toilettenecken in den Höfen und Häusern. Der Gestank wird so eindringlich beschrieben, dass man beim Lesen lieber nicht gerade frühstücken sollte. Die Lebensumstände und der Alltag in Indien erschrecken: überall Dreck, in Flüssen treiben Opfergaben, Blumen und Leichen, deren Einäscherung nicht bezahlt werden kann, nebeneinander dahin, durch die schlechte hygienische Lage gibt es viele Krankheiten. Am schockierendsten für jeden Menschen mit einem Funken Mitgefühl, besonders aber für FeministInnen wie mich ist die Stellung der Frau. Heiße Wut beginnt im Bauch zu brodeln, wenn man liest, wie Vergehen in Indien hauptsächlich bestraft werden: durch Vergewaltigungen. Als wäre diese Strafe nicht schrecklich genug, werden Frauen nicht nur für eigene Vergehen bestraft, sondern auch für jene ihrer Ehemänner, Väter und Brüder. Die Zustände dort sind unerträglich. Auch heute noch weibliche Babys lebend begraben, werden Frauen meist von ihren Schwiegermüttern grausam behandelt und sind Witwen geächtet. Gerade deshalb fiebert man auch so mit Smita mit: Sie will aus diesem Kreislauf ausbrechen und ihrer Tochter den Schulbesuch, die Chance auf ein besseres Leben, ermöglichen.

„Dabei tötet man nicht weit von hier neugeborene Mädchen. In den Dörfern von Rajasthan verscharrt man sie lebend in einer Kiste unter dem Sand, gleich nach ihrer Geburt. Es dauert eine ganze Nacht, bis die kleinen Mädchen sterben.“ E-Book, Position 110

Giuilas und Sarahs Erzählstrang können mit Smitas nicht mithalten, sie wirkten auf mich weniger intensiv. Jedoch haben auch sie durchaus ihre Stärken. Man erfährt beispielsweise einige interessante Informationen über das Geschäft mit den Haaren und über das Dasein als erfolgreiche Anwältin. Das Buch behandelt viele wichtige Themen (manche tiefgreifender als andere) wie die Lebensumstände in Indien, die Ersetzbarkeit eines Menschen in unserer Leistungsgesellschaft, die Veränderungen unseres Zeitalters. Meiner Meinung nach ist das Buch aber auch feministisch: Starke Frauen stehen im Zentrum, sie zeigen Mut und Entschlossenheit, sind kompetent, emanzipieren sich von ihrer Familie und kämpfen für das, was ihnen wichtig ist. Smita, Giulia und Sarah haben also durchaus Vorbildwirkung für LeserInnen jeden Alters.

Abwechselnd begleitet man die Frauen ein eher kurzes Stück auf ihrem Weg. Einige wenige Logiklöcher und Klischees sind mir hierbei aufgefallen. Woher kommt zum Beispiel auf einmal das praktische Rad, das Smita gehört, obwohl sie doch so arm ist, dass sie sich nicht einmal Essen leisten kann? Das Ende kam mir dann viel zu schnell, unzählige Fragen waren noch offen, ließen mir keine Ruhe und mich unzufrieden zurück.

Schreibstil (+)

Der Schreibstil gefiel mir eigentlich richtig gut. Ich fand ihn sehr anschaulich, flüssig und angenehm lesbar. Es gibt keine Wiederholungen und ich hatte das Gefühl, dass die Autorin sehr routiniert und gekonnt erzählt. Die Sätze sind teilweise lange Hauptsatzreihen, teilweise sehr kurz, es gibt treffende, schöne Vergleiche und teilweise wird es sogar philosophisch. Manchmal hätte es bei den Emotionen und Gedanken der Figuren aber durchaus noch etwas mehr ins Detail gehen können, mehr Dialoge statt indirekter Rede hätten dem Buch außerdem gutgetan. Eines hat mich gestört: Bei einigen Worten wurde beschlossen, sie nicht zu übersetzen oder zu erklären, vermutlich um ein gewisses z. B. italienisches Flair zu erhalten. Manche Worte konnte ich mir noch irgendwie herleiten oder durch den Kontext erschließen. Andere allerdings definitiv nicht. Ein solches Buch sollte auch für Menschen, die die jeweiligen Sprachen nicht sprechen, verständlich sein, ohne ständig Google bemühen zu müssen. Mehr Erklärungen (oder Übersetzungen) wären hier sinnvoll und angebracht gewesen.

„Es empfahl sich eher zu lügen, eine Ausrede parat zu haben, irgendeine Geschichte zu erfinden, alles war vorteilhafter als zuzugeben, dass man Kinder hatte, mit anderen Worten: Fesseln, Bande, Verpflichtungen. Etwas, das die Verfügbarkeit einschränkte, die Entwicklung der Karriere ausbremste.“ E-Book, Position 326

Protagonistin & Figuren (+/-)

Die Hauptfiguren sind sympathisch, ich bin ihrer Geschichte gerne gefolgt. Jedoch hätten dem Buch einige Seiten mehr gutgetan, da die Charaktere dann liebevoller und einzigartiger gezeichnet werden hätten können. Auch bei den Gedanken und Gefühlen der Protagonistinnen hätte ich mir etwas mehr Tiefe gewünscht. Nach dem Lesen wurde nämlich schnell deutlich, dass die etwas flachen Figuren wohl schnell wieder vergessen sind. Smita, Giulia und Sarah erscheinen stellenweise eher einen gewissen Menschentyp darzustellen (der stellvertretend für eine ganze Gruppe steht) als eigenständige, lebendige, komplexe Menschen. Auch wenn ich durchaus mit ihnen mitgefiebert habe.

„Auf diese Weise hatte Sarah eine undurchlässige Mauer zwischen ihrem beruflichen und ihrem Privatleben errichtet, beide verliefen parallel zueinander, es gab keine Berührungspunkte. Die Mauer war fragil, zeigte hier und dort Risse, vielleicht würde sie eines Tages einstürzen.“ E-Book, Position 341

Die Nebenfiguren blieben großteils blass. Nur wenige nehmen eine wichtigere Rolle ein, nur wenig erfährt man über sie. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen. Besonders unsympathisch fand ich den cholerischen Vater von Giulia (egal, wie oft sie von seiner Liebe schwärmt), denn mit Menschen, die glauben, alle Welt müsse es verstehen, wenn sie ständig die Beherrschung verlieren, kann ich leider gar nichts anfangen.

Spannung & Atmosphäre (+)

Dieses Buch ist zwar nicht atemlos spannend, jedoch schafft es die Autorin, die Neugier konstant zu schüren. Ich wollte immer unbedingt wissen, wie es weitergeht. Die kleinen Cliffhanger am Ende der Kapitel sind natürlich ein sehr wichtiges Werkzeug, um diese Wirkung zu erreichen. Manches war ein wenig vorhersehbar, was mich aber nicht weiter gestört hat. Atmosphärisch hätte das Buch stellenweise noch etwas dichter sein können.

Geschlechterrollen (+)

Durch das Aufzeigen der Stellung der Frau in Indien wird Aufmerksamkeit auf ein wichtiges Thema gelenkt, das vielen LeserInnen möglicherweise vor der Lektüre dieses Buches nicht in diesem Umfang bewusst war. Dies kann helfen, die Lage in Indien zu verbessern. Doch auch der Alltagssexismus im Job der ambitionierten Anwältin und die gläserne Decke, die leider immer noch Tatsache ist, werden gnadenlos enttarnt. Wie die Autorin Chimamanda Ngozi Adichie in ihrem TED-Talk sagt: 52% der Weltbevölkerung sind Frauen. Warum wird die Erde dennoch hauptsächlich von Männern regiert? Die Botschaft von Laetitia Colombani scheint klar: Es muss sich etwas ändern und es ist heuchlerisch, nur mit dem Finger auf Schwellen- und Entwicklungsländer zu zeigen, denn auch bei uns ist es noch ein weiter Weg! Auch wenn die Autorin hier kein feministisches Manifest geschrieben und Lösungswege aufgezeigt hat, ist das Thema schon zentral im Buch. Die starken, mutigen, sich emanzipierenden Frauenfiguren der Geschichte unterstreichen diesen Eindruck nur.

„Die Rolle der Frau besteht darin, den Mann glänzen zu lassen, so hat ihre Mutter es ihr beigebracht.“ E-Book, Position 834

Mein Fazit

„Der Zopf“ ist ein gelungenes, interessantes Buch, das geschickt die Lebensgeschichten dreier ganz unterschiedlicher Frauen verknüpft. Der Schreibstil ist flüssig und routiniert, die Figuren sympathisch, wichtige Themen werden angesprochen. Dieses Buch ist außerdem ohne Frage ein feministischer Roman: Alltagssexismus, die extreme Benachteiligung und schlechte Behandlung der Frauen in Indien und die gläsernen Decken, die auch bei uns noch gibt und die es verhindern, dass talentierte, kompetente Frauen in hohe politische und unternehmerische Positionen aufsteigen, werden gnadenlos enttarnt. Smita, Giulia und Sarah sind selbstbestimmte, mutige, starke, ambitionierte Frauen, die ohne Zweifel Vorbildwirkung haben. Für kleinere Schwächen wie die etwas flachen, austauschbaren Figuren, die Logiklöcher und die teilweise fehlende Tiefe ziehe ich nur einen Stern ab, weil „Der Zopf“ insgesamt ein wirklich angenehmes Leseerlebnis war.

Empfehlung: Uneingeschränkte Leseempfehlung, besonders für Frauen (aber auch für Männer)!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Ausführung: 4 Sterne
Schreibstil: 4,5 Sterne
Protagonistinnen: 3,5 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4 Sterne
Geschlechterrollen: +

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 4 zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 28.09.2024

3,5 Sterne: Hat mich zum Weinen gebracht – und trotzdem habe ich mehr erwartet…

Die Straße
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Die Welt ist verbrannt, besteht nur noch aus verkohlten Bäumen, dreckigen Flüssen und Asche. Tiere gibt es keine mehr, dafür gefährliche Stekten und Kannibalen. In ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Die Welt ist verbrannt, besteht nur noch aus verkohlten Bäumen, dreckigen Flüssen und Asche. Tiere gibt es keine mehr, dafür gefährliche Stekten und Kannibalen. In dieser geschwärzten Welt folgen ein Vater und sein Sohn einer Straße Richtung Süden, der drohende Tod ist ihr ständiger Begleite – doch noch sind sie am Leben, noch gibt es Hoffnung…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figurale Erzählweise, Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: keine Einteilung in Kapitel, sondern in kurze Absätze

Inhaltswarnung: Tierquälerei (kurz), Gewalt, Tod, Mord, K+nnibalismus, Sklaverei, s+xualisierte Gewalt und Vergew+ltigung (erwähnt), Suizidgedanken, Depression, Blut, Krankheit
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): NICHT bestanden
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: H+re, Schl+mpe

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen:

- düstere, hoffnungslose Grundstimmung
- Dystopien
- grausame Welt (K+nnibalismus, M+rd, Krankheiten, Sklaverei)
- distanzierter, einfacher Schreibstil
- Routinen und Wiederholungen
- Vater-Sohn-Beziehung
- Überleben im Fokus
- Tod als zentrales Thema

Lieblingszitate

„Dann marschierten sie im stahlgrauen Licht die Asphaltstraße entlang, schlurften durch die Asche, jeder die ganze Welt des anderen.“ Seite 9

„Vergiss nicht, dass das, was du in deinen Kopf lässt, für immer dort bleibt. […]
Aber manches vergisst man doch, oder?
Ja. Was man behalten will, vergisst man, und was man vergessen will, behält man.“ Seite 14

„Sind wir immer noch die Guten?, fragte er.
Ja, Wir sind immer noch die Guten.
Und das werden wir auch immer sein.
Ja. Das werden wir immer sein.
Okay.“ Seite 71

Meine Rezension

So viele Jahre lag die „Straße“ (übersetzt von Nikolaus Stingl) von Cormac McCarthy, die ja als Meisterwerk und zeitloser Klassiker gilt, auf meinem SUB – und nach und nach wurde der Wunsch, sie zu lesen, um endlich mitreden zu können, größer. Das lag unter anderem daran, dass eines meiner absoluten Lieblingslieder – das berührende „No Sound but the Wind“ von den Editors ♥ – von dieser Geschichte inspiriert wurde. Und auch der Spieleregisseur Neil Druckmann gibt das Buch als maßgeblichen Einfluss für seine großartigen „The Last of Us“-Spiele an. ♥ Dazu kamen dann noch Unmengen begeisterter Rezensionen, die ich über die Jahre gelesen hatte. Im August dieses Jahres (2024) war dann endlich der richtige Zeitpunkt gekommen: Ich organisierte eine Leserunde, damit wir uns gegenseitig auffangen und trösten und miteinander schwärmen oder über „Die Straße“ schimpfen konnten, denn ich hatte gehört, dass der Roman viele Menschen sehr aufgewühlt, traurig gemacht und runtergezogen hatte…

„Und?“, wollt ihr nun sicher wissen. „Ist ‚Die Straße‘ wirklich so gut, wie alle sagen? Ein Meisterwerk? Ein Buch, das dein Leben verändert, dich tief in deinem Kern berührt und nie wieder loslässt?“ Meine (ernüchterte) Antwort lautet: eher nicht. Aber hat es mich trotzdem am Ende gekriegt und zum Heulen gebracht: Jap!

Lasst mich das genauer erklären: Es gibt einiges, was mich an diesem Roman auf ganzer Linie überzeugt hat. Cormac McCarthy zeichnet eine unheimlich düstere, hoffnungslose postapokalyptische Welt – es ist wahrscheinlich die finsterste, deprimierendste Dystopie, die ich lese gelesen habe. Ich vermute auch, dass mir zukünftige dystopische Werke vorkommen werden wie der sprichwörtliche „Ponyhof“, weil es schwer sein wird, DAS zu überbieten – und alleine das ist schon eine Leistung! In „Die Straße“ gibt es außer verkohlten Bäumen, schmutzigen Flüssen und haufenweise Asche nichts mehr. Keine lebendigen Pflanzen, keine Tiere, dafür gefährliche Sekten, K+nnibalismus und kalte, nasse und lichtlose Nächte. Die wahren Schrecken werden oft nur angedeutet, trotzdem zeichnet der Autor eindringliche Bilder, die einen aufwühlen und sich einem ins Gedächtnis brennen: ein vom Blitz getroffener Mann, dem nicht geholfen werden kann, die kopflose Leiche eines Kleinkindes, die sich über einem Lagerfeuer auf einem Spieß dreht, immer wieder die unschuldige Frage des Sohnes an den Vater, ob sie auch WIRKLICH noch „die Guten“ seien, obwohl sie schreckliche Dinge tun müssen, um zu überleben…

Der Autor führt uns ganz nah an menschliche Abgründe, dorthin, wo es wehtut, zeigt uns, was es heißt, in einer solchen Welt zu überleben, was man dafür opfern muss. Er stellt auch immer wieder die philosophische Frage, ob es das überhaupt wert ist. Wofür jeden Tag aufstehen, wenn alles so mühsam ist und es keine Hoffnung auf Besserung gibt? Soll man trotzdem weiterkämpfen, obwohl das geliebte Kind jederzeit von den K+nnibalen gefangen, gequält und gegessen werden kann? Obwohl man ihm beibringen muss, wie es sich im Notfall mit der eigenen Waffe erschießen kann, um sich selbst Schlimmeres zu ersparern? Oder wäre es doch für alle besser, „es“ (das eigene Leben und das des Kindes) zu beenden? Das sind tiefgehende Gedankengänge, die man meist nicht wagt, sich zu stellen, Fragen, die einem noch Tage später schwer im Magen liegen. „Die Straße“ ist deshalb AUCH irgendwie eine Lektion in Dankbarkeit: SO schlecht geht es uns ja doch nicht…

Nach dem „Meisterwerk“ und der vielfach gelobten „Sprachgewalt“ habe ich aber dann leider doch vergeblich gesucht. Ich hatte damit gerechnet, dass mich dieses Buch emotional zerstören, ganz tief runterziehen, mein Leben verändern würde – doch all das blieb aus. Stattdessen erwarteten mich eine (bis auf einzelne Fachbegriffe) sehr einfache, eintönige Sprache, viele sprachliche und inhaltliche Wiederholungen (die Welt ist von Asche überzogen, we get it!), uninspirierte Satzanfänge (ständig „Er“) und minutiöse Schilderungen der immergleichen Abläufe: Essen suchen, Essen finden, Feuerholz suchen, Feuerholz finden, Feuer machen, Essen zubereiten, nach Gefahren Ausschau halten, Decken holen, zudecken, schlafen – und von vorne. Mir ist klar, dass die Sprache bewusst gewählt wurde, um zu zeigen, wie gleichförmig und mechanisch und anstrengend und langweilig und ganz und gar hoffnungslos das Leben des Vaters und Sohns ist – aber müssen die Leser:innen zwangsläufig auch leiden und sich langweilen? McCarthy würde vermutlich antworten: Unbedingt! Ich sage aber: Das geht besser!

Dazu kommt noch, dass die Sprache sehr distanziert und kühl ist, Dialoge weder Anführungszeichen noch Begleitsätze bekommen (die Zuordnung fällt teilweise schwer) und unsere Hauptfiguren nicht einmal einen Namen haben – auch diese schriftstellerischen Entscheidungen sind nachvollziehbar, muss man doch seine Gefühle in einer solchen Welt beseiteschieben, um das alles überleben zu können. Trotzdem hat auch das es für mich und meine Mitleser:innen schwer gemacht, mit den Charakteren mitzufühlen und mitzuleiden (obwohl sie sich glaubwürdig weiterentwickeln!). Am Ende hat mich der Autor aber doch noch gekriegt – gänzlich unerwartet übrigens, ich habe schon die letzten Seiten herbeigesehnt und gar nicht mehr damit gerechnet. In der einzigen Szene, in der dann endlich mal Gefühle gezeigt und besprochen werden, sind dann bei mir doch noch die Tränen gekullert – was mich gefreut hat. Und einem Buch, das mich zum Weinen gebracht hat, kann und will ich nicht weniger als 3,5 Sterne geben. Das Ende selbst war mir dann gleichzeitig zu positiv (und inkonsequent) und auch zu offen – auch wenn es natürlich mehrere Möglichkeiten gibt, es zu interpretieren…

Eine feministische Analyse fällt leider ernüchternd aus. Das Geschlechterverhältnis ist vollkommen unausgeglichen, das Buch ist meilenweit davon entfernt, den Bechdel-Test zu bestehen und die einzige Frau, die vorkommt, wird (abgesehen von ihrer Intelligenz) sehr negativ dargestellt. Außerdem wird sie ständig objektifiziert und sexualisiert (wer denkt nicht bei seiner verstorbenen Frau zuerst mal an ihre Brüste?), bezeichnet sich sogar selbst als „Schl+mpe“ und „H+re“. Ich meine, wer kennt sie nicht, diese Frauen, die sich selbst so nennen? Come on! Das ist einfach nur misogyn und unglaubwürdig, typischer Fall von „Männer schreiben Frauenfiguren, können sich aber nicht wirklich in die Lebensrealität von diesen hineinversetzen“. Dass McCarthy beim Verfassen dieses Romans bereits über 70 (= ein alter weißer Mann) war, ist hier leider nicht zu übersehen (auch das I-Wort und „schwachsinnig“ [Ableismus] kommen übrigens einmal im Buch vor). Pluspunkte gibt es immerhin dafür, dass hier ein alleinerziehender Vater mit seinem Sohn im Mittelpunkt steht und auch immer wieder Gefühle zeigt und vor dem Kind weint.

Mein Fazit

Ja, die „Straße“ hat mich am Ende doch noch gekriegt und zum Weinen gebracht, manche Bilder werde ich vermutlich nie mehr aus dem Kopf bekommen und keine Welt wird jemals wieder so düster und hoffnungslos und finster sein wie Cormac McCarthys – trotzdem habe ich mehr erwartet, denn ein absolutes Meisterwerk und neues Lieblingsbuch ist sie für mich leider nicht geworden. Dafür fand ich den postapokalyptischen Roman sprachlich und emotional nicht überzeugend genug. Wer endlich auch mitreden möchte, kann dieses Buch durchaus lesen – aber ein Must-read ist es meiner Meinung nach nicht…

Bewertung (in Schulnoten)

Cover / Aufmachung (altes Cover): 3
Idee: 1+ ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 2-3
Umsetzung: 2-3
Worldbuilding: 2
Einstieg: 2
Ende: 3
Schreibstil: 3
Figuren: 2-3
Spannung: 3-4
Pacing/Tempo: 3-4
Wendungen: 3
Atmosphäre: 2
Emotionale Involviertheit: 2-3
Feministischer Blickwinkel: 4
Einzigartigkeit: 2

Insgesamt:

Note 2-3

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.07.2024

3,5 Sterne: Gute Grundidee und wichtige Themen, aber sehr anstrengender Schreibstil…

Death. Life. Repeat.
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Der Abend beginnt mit einer Party und endet mit einer Toten. Geschockt muss die Schüler Spence am nächsten Morgen feststellen, dass sich der gestrige Tag wiederholt. ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Der Abend beginnt mit einer Party und endet mit einer Toten. Geschockt muss die Schüler Spence am nächsten Morgen feststellen, dass sich der gestrige Tag wiederholt. Er versucht, die Tragödie zu verhindern und muss dich dabei nicht nur mit seinem eigenen Sxismus und seiner Trauer auseinandersetzen, sondern auch mit dem seiner toxischen Freunde. Nur toxisch – oder auch gefährlich? Kann es sein, dass Clara Hart den Sx mit seinem besten Kumpel Anthony gar nicht wollte? Dass sie vergewltigt wurde? Dass sie deshalb absichtlich vor das Auto gelaufen und gestorben ist?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präsens
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: mittel

Inhaltswarnung: (s
xualisierte) Gewalt gegen Frauen (bis Vergewltigung), Blut, Trauer, Verlust, Sxismus, Diskriminierung, Homofeindlichkeit, Alkoholmissbrauch, Medikamentenmissbrauch, Tod, Übergeben, Rape Culture
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Schla+++, H+rensohn, B+tch

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen:

- Zeitschleifen-Geschichten (= viele Wiederholungen)
- sxualisierte Gewalt gegen Frauen, Rape Culture und toxische Männlichkeit als zentrale Themen
- Jugendsprache
- Trauer und Verlust
- Weiterentwicklung des Protagonisten im Fokus (Entwicklungsroman)
- Feminismus

Lieblingszitate

„Tief in meinem Herzen glaubte ich, der Tod wäre etwas, was nur anderen Leuten passiert.“ Seite 57

„[…] jeder, den ich kenne, läuft mit einem geheimen Ablaufdatum herum. Vielleicht fünfzig Jahre, vielleicht eine Stunde.“ Seite 57

„Ich erwarte Tod und Katastrophen vom Moment des Aufwachens an, damit es mich nie wieder so kalt erwischen kann.“ Seite 58

Meine Rezension

Als ich mir den Katalog zur Netgalley-Challenge durchsah und den Klappentext von „Death. Life. Repeat.“ entdeckte, war mir sofort klar, dass ich dieses Buch lesen musste! Immerhin bin ich (auch jobbedingt) immer auf der Suche nach guten Jugendbüchern, die sich mit s
xualisierter Gewalt gegen Frauen und Rape Culture beschäftigen. Leider blieb „Death. Life. Repeat.” am Ende jedoch hinter meinen Erwartungen zurück, weswegen es nur für 3,5 Sterne reicht.

Dennoch es hat auch einige Aspekte gegeben, die mir gut gefallen haben. Zu allererst sind hier natürlich die gute Grundidee und die wichtigen Themen (sxualisierte Gewalt gegen Frauen, Rape Culture, toxische Männlichkeit, Trauer, Vorurteile) zu nennen, die besonders in der zweiten Hälfte mit (für die Altersgruppe) angemessener Tiefe behandelt werden. Als besonders positiv hervorzuheben ist auch die Entwicklung, die der Protagonist Spence im Laufe der Geschichte durchmacht. Aus einem unreflektierten, vage misogynen, Täter schützenden, recht unsympathischen Typen (der aufgrund seiner noch viel schlimmeren besten Freunde auf dem A-Loch-Barometer trotzdem nur Platz 3 erreicht) wird ein Feminist, der das Patriarchat mitsamt seiner Rape Culture durchschaut, und lernt, das Richtige zu tun – auch wenn der Preis hoch ist und er sich dafür beispielsweise gegen enge Vertraute wenden muss. Es war übrigens erfrischend, zu sehen, dass auch ER nicht als strahlender Held aus dieser Geschichte hevorgeht, sondern in gewisser Weise gebrochen und mit (berechtigten) Schuldgefühlen. Er muss lernen, mit den Konsequenzen seines vergangenen Verhaltens zu leben – aber das ist etwas Gutes, denn nur mit Einsicht und Bereuen ist eine Weiterentwicklung zu einem besseren Menschen (= hier: einem Ally) möglich.

Dieses Jugendbuch zeigt sehr gut, dass s
xualisierte Gewalt gegen Frauen eben NICHT mit schweren Straftaten wie Vergewltigung und Femizid anfängt, sondern mit scheinbaren Kleinigkeiten: sxistischen Witzen, „Locker Room Talk“ (= der Objektifizierung und Sxualisierung von Frauen in Gesprächen unter Männern), schädlichen Geschlechterstereotypen, der Abwertung alles Weiblichen, Victim Blaming (= Täter:innen-Opfer-Umkehr), Slutshaming, anzüglichen Kommentaren, verbaler sxueller Belästigung und damit, Opfern nicht zu glauben (auch als Frau). All diese Dinge (aber auch die schlimmen Verbrechen, meine Inhaltswarnung bitte ernst nehmen!) kommen in diesem Buch so geballt vor und werden so realitätsnah und ungeschönt beschrieben, dass ich beim Lesen stellenweise gleichzeitig unglaublich wütend und traurig wurde. Besonders Anthony war für mich die ganze Geschichte über ein rotes Tuch – bei jedem zweiten seiner Sätze hätte ich explodieren können!

„Death. Life. Repeat.“ verdeutlicht außerdem anschaulich, dass es eben NICHT REICHT, als Mann selbst „nichts Schlimmes“ zu tun – denn wegzusehen, nichts zu sagen und seine toxischen Freunde zu verteidigen und schützen ist fast genauso schlimm. Nur wenn Männer Allys werden und anfangen, übergriffiges, sxistisches, misogynes Verhalten bzw. Denkweisen überall dort zu kritisieren, wo Frauen keinen Zugang haben (Sportvereine, Gespräche unter Männern usw.), nur DANN wird sich endlich nachhaltig etwas ändern. Frauenfeindlichkeit und Gewalt gegen Frauen beginnen nämlich immer im Kopf! Wer sein Verhalten ändern will, muss demnach zuerst seine Denkweisen verändern und ein Bewusstsein für seine eigene verinnertlichte Misogynie bekommen. Wir brauchen deshalb in den Medien (auch in Büchern) unbedingt auch eine MÄNNLICHE Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit toxischer Männlichkeit und sxualisierter Gewalt – nicht immer nur Frauen, die auf dieses Thema aufmerksam machen! Nicht zuletzt, weil Männer/Jungs hauptsächlich zu Büchern von männlichen Autoren greifen und so leichter erreicht werden können.

Leider gab es auch ein paar Dinge, die mir an „Death. Life. Repeat.“ nicht gefallen haben. Das größte Problem war für mich der flapsige, möchtegern-coole, mit Jugendsprache gespickte Schreibstil, der auf mich nicht nur unglaubwürdig und aufgesetzt wirkte, sondern mir auch unglaublich auf die Nerven gegangen ist und die Lektüre so anstrengend machte, dass es mir nicht möglich war, mehr als 60 Seiten am Stück zu lesen. Stellenweise kam ich mir selbst vor wie in einer Zeitschleife und hatte das Gefühl, das Buch würde niemals enden… Gestört haben mich auch die großteils relativ blass bleibenden Nebenfiguren, die vielen Wiederholungen (auch bei einer Zeitschleifen-Story hätte man Unwichtiges weglassen bzw. das Ganze spannender und interessanter gestalten können) und die vor allem in der ersten Hälfte oft sehr uninteressanten und belanglosen Dialoge, die ich am liebsten übersprungen hätte.

Auch beim Pacing (= Tempo) gab es noch viel Luft nach oben: zu wenig Spannung in der ersten Hälfte, gegen Ende passiert dann zu viel in zu kurzer Zeit. Insgesamt bleibt das Gefühl zurück, dass man aus dieser Geschichte noch viel mehr hätte machen können… Ebenfalls negativ aufgefallen sind mir die vielen Fehler (Beistriche, fehlende Leerzeichen, Rechtschreibfehler), die mich stellenweise doch etwas aus dem Lesefluss gerissen haben – hier hoffe ich, dass diese schon ausgebessert wurden (immerhin habe ich das Buch vor dem Erscheinungstermin gelesen) bzw. zumindest beim E-Book schnell korrigiert werden.

Noch ein Wort zum Abschluss: Wir alle haben keine 10 Versuche, um die beste Version eines Tages zu leben, unsere Fehler auszubügeln und die beste Version von uns selbst zu werden. ABER wir alle können heute ehrlich unser (möglicherweise toxisches, möglicherweise schädliches) Verhalten und unsere (möglicherweise misogynen) Einstellungen reflektieren und es MORGEN besser machen. Wir alle können hinschauen (statt weg-), Stopp sagen, wenn in unserer Gegenwart Grenzen überschritten werden, wenn nötig unsere Freund:innen kritisieren und Opfern glauben. Und genau das wünsche ich mir von euch. Over and out, meine Lieben!

Mein Fazit

„Death. Life. Repeat.” ist ein Jugendbuch, das zwar wichtige Themen anspricht (wofür ich dankbar bin!), aber insgesamt hinter meinen Erwartungen zurückblieb (Schreibstil, Tempo, Figurenzeichnung). Für mich ist es eine Geschichte, die man durchaus lesen kann (Jugendliche/Leute mit wenig Bewusstsein für s_xualisierte Gewalt können hier eigentlich nur profitieren!), aber nicht gelesen haben muss. Mein Tipp: Schaut euch vorher unbedingt die Leseprobe an und entscheidet dann!

Bewertung

Cover / Aufmachung: 2,5 Sterne
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 2 Sterne
Ende: 4 Sterne
Schreibstil: 1 Stern
Protagonist: 3,5 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Pacing/Tempo: 2 Sterne
Wendungen: 2 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 4,5 Sterne
Einzigartigkeit: 3 Sterne

Insgesamt:

☆★☆,5 Sterne

Dieses Buch bekommt von mir dreineinhalb Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.02.2024

Cooles Setting, schwaches Ende…

The Dark
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Nach einem schweren Schicksalsschlag erhält Notärztin Kate das Angebot, auf einer Forschungsstation in der Antarktis zu arbeiten. Dort wird die 13-köpfige Crew monatelang ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Nach einem schweren Schicksalsschlag erhält Notärztin Kate das Angebot, auf einer Forschungsstation in der Antarktis zu arbeiten. Dort wird die 13-köpfige Crew monatelang auf sich gestellt sein. Während Kate mit ihren eigenen Problemen beschäftigt ist, hinterlässt das fehlende Sonnenlicht bei den anderen langsam seine Spuren (Kopfschmerzen, Depressionen, Streit). Bis eines Tages ein Team-Mitglied tot aufgefunden wird… War es wirklich ein Unfall?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel

Inhaltswarnung: Tod, Tod eines Tieres, Gewalt, Blut, Verletzungen, Alltag als Ärztin, Schwangerschaft, Geburt, Operationen, Medikamentenmissbrauch, Alkoholmissbrauch, psychische Krankheiten, Depression, Suizid
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Miststück, Schl+mpe

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen:

- starke, intelligente Frauenfiguren
- gleichberechtigte „Gesellschaft“
- Antarktis-Setting
- Isolation
- Jede:r verdächtigt jede:n
- Wissenschaftsthemen
- Protagonistin mit Problemen

Meine Rezension

„Wie ein Arzt der UNA erklärte, ist es leichter, jemanden von der internationalen Raumstation ISS zurückzuholen als im tiefen Winter von diesem Fleckchen Erde.“ Seite 32

Da ich sowohl Settings mit Schnee und Eis als auch Thriller liebe, in denen die Figuren isoliert und auf sich gestellt sind, hat mich der Klappentext von „The Dark“ natürlich sofort angesprochen. Der perfekte Thriller für die Wintermonate – dachte ich. Doch muss man dieses Buch wirklich gelesen haben? Ich finde nicht, auch wenn es mir insgesamt ganz gut gefallen hat.

„Meile um Meile plattes Eis, der Horizont ist ein glatter Schnitt unter dem strahlend blauen Himmel, die Schneeoberfläche vom Wind zu horizontalen Wellen gemeißelt – mitsamt Schatten, sodass es auf unheimliche Art an ein Meer erinnert.“ Seite 23

Zu den größten Stärken von „The Dark“ gehören für mich ganz klar der einfache (aber nicht oberflächliche), flüssig lesbare Schreibstil und das extrem coole Antarktis-Setting, das sehr realistisch und atmosphärisch beschrieben wird. Man kann die eisige Kälte und die angespannte Stimmung unter den Crew-Mitgliedern fast selbst körperlich spüren! Ein weiterer Pluspunkt (Buch bitte nicht mit leerem Magen lesen!) ist auch das extrem leckere, ausgefallene Essen, das dort immer aufgetischt wird. Ob das realistisch und glaubwürdig ist, ist eine natürlich andere Frage…

„Der Schrecken des Unsichtbaren. Ein primitiver Teil meines Gehirns sagt mir, dass da draußen alles Mögliche sein könnte, auch wenn der rationale Teil weiß, dass da nichts weiter ist als Luft und Eis.“ Seite 104

Aus feministischer Sicht haben mir besonders die vielen starken, intelligenten und hochkompetenten Frauenfiguren (Ärztin, Leiterin der Station, Mechanikerin usw.) und die gleichberechtigte „Gesellschaft“ auf der Station gefallen. Es gibt hier keinen Sexismus und keine veralteten Geschlechterrollen oder -klischees, weil jede Person dort z. B. für ihre eigene Wäsche und ihre eigenen Aufgaben verantwortlich ist (alle sind Expert*innen in ihrem Feld). Das fand ich sehr erfrischend!

Auch die Grundidee, die Themen (Trauer, Sucht, Freundschaft, Liebe, Isolation, Leben in einer Extremsituation, psychische Krankheiten, Wissenschaft), die überraschenden Wendungen und so manche spannende Szene haben mich überzeugt. Die Protagonistin Kate fand ich außerdem sympathisch, ihre Entwicklung war glaubwürdig. Kates Innenwelt wird so greifbar und glaubwürdig geschildert, dass ich sofort eine Verbindung zu ihr aufbauen konnte! Das Hörbuch, das ich parallel gehört habe, hat mir insgesamt ebenfalls gut gefallen, auch wenn mir Tanja Geke manche Figuren zu klischeehaft gesprochen hat (z. B. den Russen mit übertriebenem Akzent).

Trotzdem blieb die Geschichte insgesamt hinter meinen Erwartungen zurück. Das lag (neben dem einen oder anderen unnötigen Klischee) hauptsächlich am überhasteten (stellenweise auch etwas unrealistischen) Schluss und daran, dass die eigentlich kompetente und vernünftige Protagonistin gegen Ende jeglichen gesunden Menschenverstand über Bord wirft und sich absolut dumm und nicht nachvollziehbar verhält. Dadurch bringt sie leider sich selbst und andere Menschen in Gefahr. Sehr schade! Auch für die Spannungseinbrüche und das geringe Tempo im Mittelteil gibt es Punkteabzug. Denn obwohl ich das Buch eigentlich mochte, konnte es mich irgendwie nie für längere Zeit fesseln und so habe ich schlussendlich über 2 Monate daran „herumgelesen“.

Mein Fazit

„The Dark“ ist für mich ein ganz guter feministischer Thriller für Zwischendurch (cooles Setting, flüssiger Schreibstil, starke Frauenfiguren), der mich allerdings nicht auf ganzer Linie überzeugen konnte (unlogisches Verhalten, überhastetes Ende, Spannungseinbrüche). Für mich ist es ein Buch, das man durchaus lesen kann, das man aber sicher nicht gelesen haben muss…

Bewertung

Cover / Aufmachung: 4 Sterne
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Sterne ♥
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 4 Sterne
Ende: 3 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistin: 4 Sterne
Figuren: 3,5 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Pacing/Tempo: 2,5 Sterne
Wendungen: 4 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 4 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 5 Sterne ♥
Einzigartigkeit: 4 Sterne

Insgesamt:

☆★☆,5 Sterne

Dieses Buch bekommt von mir dreieinhalb Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.01.2024

3,75 Sterne: Mutiges und wichtiges Buch – ich habe mir trotzdem mehr erhofft…

Männer töten
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In einem Club lernt die Stadtpflanze und Wahlberlinerin Anna Maria einen oberösterreichischen Bauern namens Hannes kennen. Wenig später zieht sie zu ihm aufs idyllische ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In einem Club lernt die Stadtpflanze und Wahlberlinerin Anna Maria einen oberösterreichischen Bauern namens Hannes kennen. Wenig später zieht sie zu ihm aufs idyllische Land. Doch schon bald fallen ihr seltsame Dinge auf: Die katholische Pfarrerin ist weiblich, die Frauen in Engelhartskirchen verscheinen unglaublich glücklich und frei und es gibt überraschend viele Witwen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figurale Erzählweise, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: keine Kapitel, das Buch ist in vier Teile untergliedert

Inhaltswarnung: Tod, Gewalt gegen Frauen, s+xualisierte Gewalt (bis Vergew+ltigung), S+xismus, Blut, Alkoholmissbrauch, Erbrechen, Schwangerschaft, Suizid, psychische Krankheiten
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Bitch (nicht als Beleidigung verwendet), H+re, Schl+mpe

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen:

- starke Frauenfiguren
- Gesellschaftskritik
- Feminismus
- historische Fiktion
- Gewalt gegen Frauen / s+xualisierte Gewalt / Misogynie als zentrales Thema
- Matriarchat als Dystopie und Utopie zugleich
- Dorfsetting
- Partys & Alkohol
- Situationskomik

Meine Rezension

„Wir alle stellen es uns manchmal vor.
Wir stellen uns Fragen. Fragen wie: Was wäre, wenn?
Wie es sich anfühlen würde […]
Am Ende würdest du dich nicht fragen, ob Rache glücklich macht
Du kennst die Antwort“ E-Book, Position 39

2023 war für mich ein eher fantasy- und romantasylastiges Jahr – Literatur kam da ehrlicherweise etwas (zu) kurz. Deshalb wollte ich es auch mit „ernsthafter Literatur“ abschließen, am besten mit feministischer, am besten mit weiblicher, am besten mit österreichischer. Welches Buch hätte sich da besser angeboten als „Männer töten“ von Eva Reisinger? Das Lob im Feuilleton, die zahlreichen Lesungen und die Nominierung für den Österreichischen Buchpreis hatten mich nämlich sehr neugierig gemacht! Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, meine Erwartungen wären nicht hoch gewesen. Doch konnten sie auch erfüllt werden?

Leider nicht ganz! Autorin Eva Reisinger hat aus einer grandiosen Idee ein gutes Buch gemacht (ohne Zweifel!), aber es hätte auch ein großartiges werden können. Was die vielversprechenden, mutigen und provokanten ersten Seiten versprechen (Autorin träumt vom Matriarchat, Triggerwarnung erklärt, dass in diesem Buch Männer sterben werden), kann der Rest leider nicht ganz halten.

Dabei gibt es viele Dinge, die mir an diesem Buch (und rund ums Buch) sehr gut gefallen haben: Da wären zum Beispiel die herrliche Situationskomik und der eigenwillige Humor, der mich immer wieder zum Auflachen gebracht hat. Beste Szene: Die Frauen des Dorfes betrinken sich im Zuge eines Junggesellinnenabschieds auf dem Parkplatz, als eine Gruppe Kinder vorbeigeht und eines davon freundlich mit „Hallo, Mama!“ grüßt. Unvereinbar mit dem konservativen österreichischen Ideal der aufopferungsvollen, vorbildlichen, perfekten, nie an sich oder Spaß denkenden Mutter und für manche vermutlich ziemlich skandalös – ich fand es erfrischend und charmant! Positiv überrascht hat mich übrigens auch die Beziehung der Hauptfigur zu Hannes, dem Bauer – dieser wird zur Abwechslung mal nicht als rückständig, sondern als unglaublich liebevoll, geduldig und als Mann mit einem Herz aus Gold dargestellt.

„Währenddessen morden die Männer im Land weiter und in der Zeitung wundert man sich, dass es nicht von allein besser wird. Die Polizei rät Frauen, selbstbewusster zu sein, dann würden sie nicht vergewaltigt. Was nach Satire klingt, ist in Österreich viel zu oft Realität.“ E-Book, bei 46%

Aus feministischer Sicht begrüße ich natürlich nicht nur das durchgehende Gendern (alles andere wäre auch inkonsequent gewesen), die vielen starken weiblichen Figuren
und das Matriarchat, das Eva Reisinger in ihrem Roman erschafft, sondern auch die Themenwahl (Misogynie, Sexismus, sexualisierte Gewalt) und die klare Kritik am Umgang Österreichs mit Femiziden und Gewalt gegen Frauen. Nicht nur ihr Buch, sondern auch ihre Interviews nutzt die Autorin übrigens, um aufzuklären, dass Frauenmorde eben nicht aus dem Nichts kommen und unbeeinflussbar wie Naturkatastrophen, sondern dass sie (leider!) eine logische Konsequenz von veralteten Rollenbildern, toxischer Männlichkeit, Misogynie und Rape Culture sind. Gewalt gegen Frauen kann hierbei als Pyramide oder Kontinuum gesehen werden: Was mit verlgeichsweise harmlosen sexistischen Sprüchen und Vergew+ltigungswitzen beginnt, setzt sich als Catcalling und Belästigung fort und endet mit s+xueller Gewalt und Femiziden. Für ihren Einsatz und ihren Mut kann ich der Autorin nur applaudieren und dankbar sein!

„Wie oft hat sie sich in Sicherheit gewogen: Zum Glück ist ihr das nicht passiert. […] Die Statistik schwebt über ihr und erinnert sie daran, dass es ihr irgendwann passieren könnte.“ E-Book, bei 47%

Auch in diesem Roman gibt es Überlebende sexualisierter Gewalt, auch in dieser Welt (zumindest außerhalb von Engelhartskirchen) wird den Frauen nicht geglaubt, wird der Täter verteidigt, will der Täter nicht einmal sich gegenüber zugeben, was er getan hat. Doch dieses Mal schlagen die Frauen zurück, wehren sich, greifen selbst zu drastischer Gewalt. Ich glaube, in der Literatur ist es erlaubt, dabei als Leserin auch so etwas wie Katharsis, Gerechtigkeit, Erleichterung zu fühlen – auch wenn man im echten Leben eine absolute Gegnerin von Auge-um-Auge und Selbstjustiz ist. (Großer Filmtipp zum Thema, den jede:r gesehen haben sollte: „Promising Young Woman“. Unbedingt anschauen! ♥) Übrigens: Wer sich hier über die Männermorde empört, aber am Sonntag entspannt den Tatort mit seinen zerstückelten Frauenleichen schaut (tote Frauen sind für uns leider längst „normal“ geworden) und sich nicht über die Berichte REALER Frauenmorde aufregt, den:die kann ich sowieso nicht ernst nehmen! Wo bleibt hier eure Wut? Wo der Antrieb, wirklich etwas zu verändern?

Trotz seiner Stärken und guten Intentionen lässt mich der vorliegende Roman aber auch mit einer gewissen Ernüchterung zurück: Das lag zum Beispiel am einfach gehaltenen, etwas oberflächlichen Schreibstil, von dem ich mir bei einem Buch, das immerhin für den Österreichischen Literaturpreis nominiert wurde, einfach mehr erwartet habe. Dazu kommt, dass die Hauptfigur und einige der Nebenfiguren etwas blass und wenig greifbar bleiben, wodurch die Geschichte leider nicht die emotionale Durchschlagskraft entwickeln kann, die sie haben hätte können. Richtig packen konnte mich zudem erst die zweite Hälfte, in der die Handlung dann nach einer langen (und teils auch etwas langweiligen) Durststrecke voller Dorfidylle, Alkoholexzesse und Partys (mir war das einfach too much, sorry) endlich in Schwung kommt. Das offene Ende lässt viel Raum für Interpretation und Spekulation und hat mich zwiegespalten zurückgelassen. Die paar Tage Abstand zur Lektüre haben mir deutlich gemacht, dass es für 4 Sterne leider nicht ganz reicht, deshalb 3,75 Sterne.

Mein Fazit

„Männer töten“ ist ohne Zweifel ein wichtiges und mutiges Buch (besonders für das konservative Land, in dem es erschienen ist), das hoffentlich viele Leute zum Nachdenken bringen und längst notwendig gewesene Diskussionen anstoßen wird. Dafür bin ich Eva Reisinger sehr dankbar! Meiner Meinung nach hätte man aus der großartigen Grundidee aber noch deutlich mehr machen können (in sprachlicher und emotionaler Hinsicht, auch was die Tiefe betrifft).

Bewertung

Cover / Aufmachung (alt): 4 Sterne
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3,75 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 2 Sterne
Ende: 3 Sterne
Schreibstil: 2,5 Sterne
Protagonistin: 3,5 Sterne
Figuren: 3,5 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Pacing/Tempo: 2 Sterne
Wendungen: 4 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 5 Sterne ♥
Einzigartigkeit: 4 Sterne

Insgesamt:

☆★☆,75 Sterne

Dieses Buch bekommt von mir 3,75 Sterne!

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