Nach einem etwas schwachen Anfang ein zauberhaftes Leseerlebnis
Der Wal und das Ende der Welt„Wenn die gesamte Weltordnung um Sie herum zusammenbrechen würde, was würden Sie dann tun?“
St. Piran, ein 307 (sic!)-Seelen-Dorf in Cornwall: Ein nackter junger Mann wird an den Strand gespült, wenig ...
„Wenn die gesamte Weltordnung um Sie herum zusammenbrechen würde, was würden Sie dann tun?“
St. Piran, ein 307 (sic!)-Seelen-Dorf in Cornwall: Ein nackter junger Mann wird an den Strand gespült, wenig später strandet ein Wal. Diese beiden sonderbaren Geschehnisse bilden den Auftakt zu einer Reihe von Ereignissen, die nicht nur das Leben der Dorfbewohner für immer verändert. Denn es steht, wie der Titel andeutet, nichts weniger als das Ende der Welt, wie wir sie kannten, bevor. Und das ist näher und realistischer, als sich manch einer – auch der Leser – denken kann, denn „manchmal ist die Übertreibung näher an der Wirklichkeit als die Wahrheit“.
Zugegeben, ich habe mich mit dem Anfang des Romans ein wenig schwergetan. Das lag zum einen am Erzählstil und der Figurenzeichnung: Der Erzähler wendet sich anfänglich einige Male direkt an den Leser:
„Sollten Sie es also einmal nach St. Piran schaffen (was gar nicht so einfach ist), werden Sie die Geschichte auf der Straße und im Pub zu hören bekommen; und sollten Sie einen der Dorfbewohner danach fragen, könnte es sein, dass diese Sie auf eine Bank setzt, von der aus man auf den wogenden Ozean blickt, und Ihnen dort genau diese Geschichte erzählen.“
Das muss man mögen; ich persönlich mag diese verschwimmende Grenze in der Regel nur bedingt. Doch letztlich habe ich mich daran gewöhnt und irgendwann störte ich mich gar nicht mehr daran, sondern wusste den nicht zu leugnenden Charme dieser Erzählform zu schätzen.
Auch mit den handelnden Figuren fremdelte ich anfänglich. Sie werden so schrullig geschildert, als seien sie einer Folge „Inspector Barnaby“ entsprungen.
Da ist zum Beispiel Charity Choke: „Sie war gerade siebzehn, mit einem so frischen Teint, dass ihre Wangen glänzten wie Kleehonig. In St. Piran sagte man, sie sei ‚spät erblüht‘ […]. ‚Bäume, die spät erblühen‘, sagte Martha Fishburne gern, ‚blühen oft am schönsten.‘ Und Martha war Lehrerin. Sie musste es also wissen.“
Oder Kenny Kennet, „der Strandgutsammler. Er durchkämmte den Kies der östlichen Bucht auf der Suche nach Muscheln und Krebsen, nach Strandgut und Treibholz. Wenn ein schönes Stück dabei war, würde er aus dem Treibholz Kunstwerke machen, die er im nächsten Sommer an Touristen verkaufen könnte.“
In dieser Form werden auch die anderen Figuren geschildert, mehr Stereotyp als wirklicher Charakter, und insgesamt etwas zu flach. Sie waren mir alle ein wenig zu überzeichnet; auch daran musste ich mich erst gewöhnen, doch dann fand ich sie in aller Schrulligkeit überaus liebenswert.
Zum anderen schien mir der Roman am Anfang nicht so richtig zu wissen, wohin er will bzw. was er denn nun eigentlich sein will. Erzählstil und Figurenentwurf schienen auf eine Schnurre hinzudeuten; dann wechselt das Setting in einer Rückblende zum Finanzdistrikt in der City of London. Der an den Strand gespülte junge Mann, Joe, entpuppt sich als Banker, der offensichtlich einen folgeschweren Fehler begangen hat. Okay, also keine Schnurre, sondern ein Wirtschaftskrimi, dachte ich – doch auch das erwies sich als Trugschluss. Ein Gespräch zwischen Joe und seinem Chef lässt schließlich die eigentliche (und ganz wunderbare!) Dimension des Romans erahnen:
„Sie sind Mathematiker. Sie wissen, was mit komplexen Systemen geschieht. Plötzlicher, dramatischer, katastrophaler Kollaps. […] Haben Sie mal von der These gehört, dass unsere Gesellschaft nur drei volle Mahlzeiten von der Anarchie entfernt ist?“
Und von da an konnte ich das Buch kaum noch aus der Hand legen. Denn hier geht es um nichts weniger als die Frage, wie dünn die Grenze zwischen Zivilisation und Anarchie ist, was das Menschsein ausmacht, kurz: was Menschlichkeit bedeutet. Deshalb: klare Leseempfehlung!