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Veröffentlicht am 01.10.2024

Vielerlei Einsamkeit

In den Wald
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Zwei eng miteinander verknüpfte Ereignisse bilden den Auslöser für eine Vielzahl von Miniaturen, die ein prägnantes Bild von den Lebensverhältnissen im italienischen Piemont der siebziger Jahre liefern. ...

Zwei eng miteinander verknüpfte Ereignisse bilden den Auslöser für eine Vielzahl von Miniaturen, die ein prägnantes Bild von den Lebensverhältnissen im italienischen Piemont der siebziger Jahre liefern.

Eine Elfjährige, lernschwach und verstört durch die Wirren ihrer früh einsetzenden Pubertät, begeht Selbstmord. Ihre Lehrerin, ältlich, einsam, kinderlos, engagiert in ihrem Beruf, sieht sich verpflichtet, die Eltern über ihr fortgesetztes Schwänzen zu informieren und gerät angesichts der Folgen in einen emotionalen Ausnahmezustand und verbirgt sich über Tage in einem unzugänglichen Waldgebiet.

Im Folgenden lässt sich beobachten, wie die Umgebung auf dieses nie dagewesene Geschehen reagiert: Jung und Alt, Familienangehörige, Freunde und auch nur entfernt Bekannte sind involviert, Menschen aus Dorf, Kleinstadt und der nächsten Großstadt werden touchiert. Jede dieser menschlichen Miniaturen, dargestellt in kurzen Kapiteln, wird ergänzt durch eindringliche Schilderungen der in Verwirrung und Verwahrlosung versinkenden Lehrerin, bis ein Schüler, erst kürzlich aus gesundheitlichen Gründen aus der norditalienischen Metropole zugezogen, sich für sie verantwortlich fühlt und seine eigene Einsamkeit in der der erwachsenen Frau gespiegelt sieht.

Der Wald wird so zur Metapher für die umfassende Isolation des Individuums, der aber auch Schutz zu bieten vermag vor der Aggression und der Anspruchshaltung einer unbarmherzigen Gesellschaft.

Beeindruckend der Sprachgestus dieses Debüts: knapp, nüchtern, karg, dann wieder poetisch mit treffenden Sprachbildern, die lange im Leser nachklingen.

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Veröffentlicht am 10.07.2024

Zeiten und Menschen

Astrids Vermächtnis
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Dies ist also der letzte Teil einer Trilogie, die den Leser mit den unterschiedlichsten Phasen der norwegischen Geschichte vertraut macht.

Im Zentrum dieses dritten Bandes steht nun die Zeit der deutschen ...

Dies ist also der letzte Teil einer Trilogie, die den Leser mit den unterschiedlichsten Phasen der norwegischen Geschichte vertraut macht.

Im Zentrum dieses dritten Bandes steht nun die Zeit der deutschen Okkupation Norwegens während des zweiten Weltkriegs. Der Leser erhält einen tiefen Einblick in die verschiedenen Strömungen der Politik. Was für das norwegische Publikum nach Auskunft des Nachworts ureigenstes Wissen darstellt, da bereits die Kinder im Schulunterricht mit den Details dieses Angriffs auf ihre nationale Identität vertraut gemacht werden, erlangen deutsche Leser neue und gänzlich unerwartete Kenntnisse. Das macht die Lektüre zu einem bedeutsamen Gewinn, wird doch bewiesen, dass Nationalsozialismus, Drittes Reich und 2. Weltkrieg bei weitem noch nicht auserzählt sind! Der heldenhafte Widerstand solcher Figuren wie der Pfarrer und die junge Astrid verkörpern überzeugend einen Patriotismus, der auch den Verlust des eigenen Lebens nicht scheut.

Daneben öffnet sich ein farbiges Panorama des norwegischen Volksglaubens, der Mythen und der Kunst. Es wird deutlich, dass es gerade dieser identitätsstiftende Schatz ist, der das einsame Land hoch im Norden für die Nazis so interessant macht, glauben sie doch, hierin eine tiefe Verbindung mit ihrer eigenen völkischen Ideologie zu finden. Diesen Hintergrund arbeitet der Roman überzeugend heraus, wenn allerdings auch gelegentlich diese Informationsvermittlung ein wenig in den Ton eines VHS-Vortrags verfällt.

Insofern ist der Prolog dieses Romans auch unverzichtbar, da durch den Rückgriff auf das frühe 17. Jahrhundert diese Verquickung von Christentum und heidnischem Glauben in den Ereignissen um die siamesischen Zwillingsschwestern augenfällig dargestellt wird. Die gelegentlichen Verweise auf das Geschehen im 19. Jahrhundert hingegen stellt für die Leser, die mit den beiden ersten Werken dieser Trilogie nicht vertraut sind, eine gewisse Herausforderung dar, die jedoch durch genaues Lesen und Kombinationsgabe durchaus zu bewältigen ist.

Ein wenig befremdlich allerdings wirkt das Bemühen des deutschen Übersetzers, in den Dialogen eine Art künstlich erzeugte altertümliche Sprache zu verwenden. Die eher süddeutschen Anklänge des beständig erscheinenden ‚mir‘ wirken vollkommen unangemessen, ohne dass eine andere Lösung dieses sprachlichen Problems auf der Hand läge.

Abschließend ist jedoch festzuhalten, dass es Lars Mytting gelingt, mit seiner farbigen und prägnanten Schilderung dieses historischen Panoramas beim Leser ein genuines Interesse an seiner Heimat zu wecken.

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Veröffentlicht am 16.06.2024

Genre-Mix

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
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Sarah Brooks führt ihre Leser recht gekonnt an der Nase herum! Angesichts des Covers und nach der Lektüre der ersten Seiten liegt der Schluss nahe, einen historischen Abenteuerroman a la Jules Verne vor ...

Sarah Brooks führt ihre Leser recht gekonnt an der Nase herum! Angesichts des Covers und nach der Lektüre der ersten Seiten liegt der Schluss nahe, einen historischen Abenteuerroman a la Jules Verne vor sich zu haben: die altmodische Diktion des Titels, der antiquierte Schauplatz eines Eisenbahnzuges, die geheimnisvollen Personen, die sich am Romananfang als Protagonisten präsentieren.

Doch bald schon glaubt der Leser, es mit dem Genre Fantasy zu tun zu haben, allzu phantastisch sind Szenerie und Ereignisse, die sich im Verlauf der Handlung entfalten.

Prägnant tritt plötzlich der wirtschaftspolitische Standpunkt der Autorin in den Vordergrund: Macht und Machenschaften der Kompanie animieren dazu, kapitalismus-kritisch Stellung zu beziehen. Auf der gleichen Schiene kommt ganz massiv ein ökologischer Aspekt zum Tragen, außergewöhnlich hier nur, dass das Ödland in der Lage ist, sich vehement gegen Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt zur Wehr zu setzen.

Letztlich aber erweist sich der Roman als positiv gefärbte Utopie, da es zur Versöhnung der einander feindlich gegenüberstehenden Sphären kommt. In der Freundschaft zwischen den beiden Repräsentantinnen der konträren Lebenswelten scheint die Hoffnung auf eine Veränderung der Verhältnisse auf, die nach dem dramatischen show-down des Schlusses allzu unvermittelt und umfassend zum Tragen kommt.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass wir es mit dem ‚Handbuch‘ mit einem Werk zu tun haben, das wir allen Lesern ans Herz legen können, die in ihrem Lesegeschmack nicht auf eine bestimmte Kategorie fixiert sind, die bereit sind, den Wendungen und Finten der Handlungsführung willig zu folgen und einer unterhaltsamen Form einer engagierten Literatur Geschmack abgewinnen können.

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Veröffentlicht am 20.04.2024

Afrikanische Frauen

Issa
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In zunehmendem Maße steht die Aufarbeitung des Kolonialismus auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda, da war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Literatur sich dieser Frage annimmt.

In ...

In zunehmendem Maße steht die Aufarbeitung des Kolonialismus auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda, da war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Literatur sich dieser Frage annimmt.

In Mirrianne Mahns Debütroman ‚Issa‘ geschieht dies auf der Ebene der Bewältigung persönlicher Traumata. Die Frauen mehrerer Generationen werden in unterschiedlicher Weise von diesem historischen Erbe touchiert.

Am eindeutigsten, direktesten zeigt sich der Lebensweg von Enanga zu Anfang des 20. Jahrhunderts vom Kolonialismus determiniert. Indem die deutschen Herrenmenschen die einheimischen Frauen rücksichtslos sexuell ausbeuten, wird dem Erbgut der Nachkommen ein unauslöschlicher Stempel aufgedrückt.

Der zerrissene Charakter der Mutter der Titelheldin zeigt die Widersprüchlichkeit, die von diesem doppelten Erbe hervorgerufen wird. Einerseits verkörpert sie europäische Härte und materielles Erfolgsdenken, die sie bei ihren Besuchen in der Heimat nachdrücklich demonstriert, um ihre Souveränität gegenüber erlittenen Kränkungen unter Beweis zu stellen. Andererseits bricht sich das kulturelle Erbe Afrikas machtvoll Bahn, wenn sie ihre in Deutschland lebende schwangere Tochter zwingt, den Schutz heimischer Rituale anzustreben. Alle diese weiblichen Figuren erregen die Anteilnahme und das Interesse der deutschen Leserschaft.

Eine gewisse Distanz gegenüber der Titelfigur mag sich bei einigen Lesern regen, schlägt sie doch zunächst einen übermäßig flapsigen Tonfall an, wenn es um das ihr abverlangte Eintauchen in die archaische Kultur ihrer Vorfahren geht. Auch die penetrante Betitelung ihres deutschen Partners als Kindsvater stellt eine Herabsetzung dar, die von manchen Rezipienten womöglich übel vermerkt wird. Der modernistische Jargon des Textes auf der Rückseite mit der Kennzeichnung des Werks als ‚empowerndes‘ Debüt rückt das Buch in eine ‚woke‘ Ecke, was diesem eindringlichen, berührenden Roman nicht gerecht wird.

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Veröffentlicht am 14.02.2024

Vexierbild der Geschichte

Das Philosophenschiff
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Wer mit dem Werk von Michael Köhlmeier vertraut ist, kennt seine Tendenz, Ereignisse und Figuren der Geschichte zu dekonstruieren, neu zu montieren - zur grenzenlosen Freude seines geneigten Lesepublikums. ...

Wer mit dem Werk von Michael Köhlmeier vertraut ist, kennt seine Tendenz, Ereignisse und Figuren der Geschichte zu dekonstruieren, neu zu montieren - zur grenzenlosen Freude seines geneigten Lesepublikums.

In seinem neuesten Roman richtet er seinen Blick auf ein Detail der Geschichte der Sowjetunion, der Deportation missliebiger Intellektueller, die womöglich den Erfolg der Revolution in Frage stellen könnten.

Die Ereignisse im Sankt Petersburg des frühen 20. Jahrhunderts und auf dem Philosophenschiff vermittelt Köhlmeier aus dem Erlebenshorizont eines jungen Mädchens - doch verbalisiert aus der Erinnerung einer Hundertjährigen - eine Brechung, die die Bewertung durch den Leser in Frage stellt. In die gleiche Kerbe haut Köhlmeiers Kniff, einen durch seine Unglaubwürdigkeit, seine Unzuverlässigkeit charakterisierten Schriftsteller zum Sprachrohr zu machen.

Schnell wird deutlich, dass die Situation auf dem Schiff als Laborbericht, als Versuchsanordnung, als Experiment zu lesen ist. Wie agieren Individuen, wenn es keine Aussicht auf eine Rückkehr in die vertrauten Verhältnisse gibt, die Zukunft jedoch eine umfassende Leerstelle darstellt?

Köhlmeier dreht diese Schraube noch eine Windung weiter, wenn er es zu einer völlig unglaubwürdigen, fiktiven Begegnung zwischen der vierzehnjährigen Anouk und dem gänzlich verfallenen Vorreiter der Revolution, Lenin, auf diesem Schiff kommen lässt. Gleichfalls Passagier auf dem Weg in die Deportation, erscheint Lenin als obsolet, entbehrlich, als Relikt der Geschichte. Die vollkommene Relativierung aller Verhältnisse tritt ein, wenn das Opfer und der Verursacher der historischen Entwicklung sich als Freunde empfinden.

Überdeutlich wird Köhlmeiers Perspektive auf die Geschichte in der skurrilen, überdrehten Szene am Schluss des Romans, wenn die endgültige Entsorgung des überlebten Revolutionärs dem Spiel des Zufalls überlassen wird. In perfider Weise werden die Bedingungen geschaffen, die sein Verschwinden ‚wie von selbst‘ ermöglichen.

Selten war ein Roman von Michael Köhlmeier von so viel Pessimismus, Distanz, Relativierung geprägt.

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