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Veröffentlicht am 01.10.2024

Eine Dystopie - nicht nur - der Schlagerwelt

Die Ungelebten
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Der Ausdruck „Patriarchat“ ist das Abstraktum zu Patriarch, abgeleitet von altgriechisch patriarches „Erster unter den Vätern, Stammesführer, Führer des Vaterlandes“; gebildet aus patér „Vater“ und archēs ...

Der Ausdruck „Patriarchat“ ist das Abstraktum zu Patriarch, abgeleitet von altgriechisch patriarches „Erster unter den Vätern, Stammesführer, Führer des Vaterlandes“; gebildet aus patér „Vater“ und archēs „Oberhaupt“, zu archein „der erste sein, Führer sein, herrschen“. (Quelle: Patriarchat (Soziologie) – Wikipedia)

„Die Ungelebten“ von Caroline Rosales ist ein Roman über eine junge Frau, Jennifer Boyard, die unter wirklich widrigen Bedingungen aufwächst. Ihr Vater, Bernd Boyard, ist ein sehr erfolgreicher Schlagerproduzent und dazu ein Psychopath. Erstaunlicherweise sind solche Menschen häufig sehr erfolgreich, denn sie setzen sich skrupellos durch und werden dafür in unserer Gesellschaft hofiert und beklatscht. Jennifer begleitet ihn seit Kindesbeinen durch die Glitzerwelt des Schlagers, und lernt dabei auch den dunklen Backstagebereich kennen. Dort geht es erbarmungslos zu. Nach der

metoo-Debatte dürfte es niemanden mehr überraschen, dass dabei auch sexualisierte Gewalt eine Rolle spielt.

Als junge Frau übernimmt Jennifer, obwohl Mutter von drei Kindern, eine führende Rolle im Familienunternehmen. Mich begeistert, wie hier patriarchale Strukturen erbarmungslos dekonstruiert werden:

Wenn sie sich anstrengte, wenn sie ihren Körper fühlte, konnte Jennifer oft nicht begreifen, was in den vergangenen Jahren passiert war. Dass ihr Körper eine wahnsinnige Metamorphose durchgemacht hatte, die jeder vernünftige Mensch, und sie zählte zu den vernünftigen Menschen, nicht allen Ernstes ohne Beschädigungen, ohne lange Erholung verkraften würde. Sie hatte drei Kinder aus sich herausgepresst und mit Muttermilch aufgezogen, und nun war es an ihr, zumindest den optischen Schaden zu beseitigen. S.19

Sie putzt den Dreck der Familie weg, Kotze, Sperma und eben auch den Dreck ihres Vaters. Die Leserin leidet mit. Und erkennt sich stellenweise vielleicht sogar ein bisschen wieder.

„Die Ungelebten“ ist ein Buch, mit dem ich emotional Achterbahn gefahren bin. Caroline Rosales schreibt schonungslos und manchmal auch provozierend über Frauenleben und Männermacht, über einen Patriarchen, wie er im Buche steht ebenso, wie über toxische Familienbeziehungen und machtlose Frauen über ganze Generationen hinweg. Das muss man aushalten können!

Es bleibt kein Platz für Empowerment, kein enthusiastisches und fröhliches Finale mit dem Schlachtruf "Women's Lib!". Vielmehr ein dystopisches Ende, in dem Misogynie und Männermacht weiterhin fortbestehen.

metoo nichts weiter als ein kleiner Kratzer im Lack des Patriarchats! Aber ist das der Autorin vorzuwerfen? Nein, denn es ist leider realistisch. Denn das liegt eben auch daran, dass wir nicht mehr zusammen auf die Straße gehen, wie die Frauen der Women's Lib, dass wir den Barbiepuppentraum davon Astronautin zu werden noch immer glauben und auch #metoo daran nichts geändert hat. Alles andere wäre zu schön, um wahr zu sein.


„Die Ungelebten“ ist ein Roman und doch hätte sich alles genau so ereignen können. Und wahrscheinlich hat sich vieles von dem, war Caroline Rosales auf 304 Seiten erzählt, genau so ereignet. In einem Interview zum Buch berichtet sie, wie sich eine Schlagersängerin bei ihr gemeldet hat. Ihre furchtbare Geschichte war der Ausschlag zu diesem besonderen Buch.

Obwohl all das so entsetzlich ist, konnte ich das Buch sehr gut lesen, was sicherlich am flotten Schreibstil von Caroline liegt, und oft musste ich aufgrund der Formulierungen lachen, trotz der Thematik. Das finde ich sehr gelungen.

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Veröffentlicht am 10.09.2024

Zwischen Tigris und Themse

Am Himmel die Flüsse
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Die türkisch-britische Schriftstellerin Elif Shafak ist eine der großen Erzählerinnen unserer Zeit. Mit "Am Himmel die Flüsse" (Original: There are rivers in the sky) hat sie dies erneut unter Beweis gestellt. ...

Die türkisch-britische Schriftstellerin Elif Shafak ist eine der großen Erzählerinnen unserer Zeit. Mit "Am Himmel die Flüsse" (Original: There are rivers in the sky) hat sie dies erneut unter Beweis gestellt. Wunderschön, fast schon poetisch, erzählt sie die Geschichte eines Wassertropfens, der schon im alten Mesopotamien Zeuge des Laufs der Geschichte war. Das Gilgamesch-Epos wurde in Keilschrift auf Tontafeln geritzt und gilt als älteste überlieferte Dichtung. Nicht nur der besagte Wassertropfen, auch diese Tafeln verbinden das Leben der drei Hauptpersonen in Shafaks Roman: die 2014 neunjährige Narin aus dem Osten der Türkei, die 2018 in London lebende Hydrologin Zaleekhah und Arthur, der bereits im 19. Jahrhundert unter widrigen Bedingungen in London aufwuchs und in Narins Dorf begraben wurde. Über Raum und Zeit hinweg verwoben sind die Geschichten dieser drei Personen, raffiniert taucht nicht nur der Topfen Wasser immer wieder auf, sondern auch das eine oder andere Artefakt. Sehr schön finde ich zudem die Abbildungen, die im Buch enthalten sind.

Doch so schön dieser Roman auch geschrieben ist, behandelt er doch sehr ernste Themen wie den Genozid an den Eziden, Armut im 19. Jahrhundert, Klimaveränderungen und Umweltzerstörungen, wo immer der Mensch auftaucht. Dessen muss man sich bewusst sein, wenn man zu diesem so beeindruckenden Buch greift. Mich hat es sehr berührt und ich kann es voller Überzeugung weiterempfehlen.

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Veröffentlicht am 10.09.2024

Gelungenes Debüt für ein neues Ermittlerteam in der Prignitz

Rübentod
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Es beginnt mit dem Cover, nach dem man ein Buch zwar nicht bewerten soll, aber das doch erheblich dazu beiträgt, ob ich ein Buch in die Hand nehme oder nicht. Der einsamer Rabe vor einem im Nebel liegenden ...

Es beginnt mit dem Cover, nach dem man ein Buch zwar nicht bewerten soll, aber das doch erheblich dazu beiträgt, ob ich ein Buch in die Hand nehme oder nicht. Der einsamer Rabe vor einem im Nebel liegenden Gehöft verspricht Spannung. Und wieder einmal hat der emons-Verlag bewiesen, dass er nicht nur für gelungene Cover steht, sondern für hochkarätige Regionalkrimis, die von der ersten bis zur letzten Seite spannend sind.

"Rübentod" ist Dagmar Rosenbauers Debutroman. In einer Rübenmiete wird eine stark verweste Leiche gefunden. Wer ist diese Frau und warum wurde sie ermordet? Dies herauszufinden ist für die sympathische Marley Leonhard, die neue Polizeichefin in Neuruppin, eine wichtige Bewährungsprobe. Unterstützung erhält sie dabei von Richard Said Wagner, dem vom Dienst freigestellten ehemaligen Sprecher der Berliner Polizei. Rosenbauer versteht es, ihre Protagonisten authentisch zu zeichnen. Detailreich beschreibt sie auch die wunderschöne Landschaft und die Ermittlungsarbeit. Die Leserin wird in allem mitgenommen und dabei wunderbar unterhalten. Den Schreibstil habe ich als sehr angenehm empfunden, und die 368 Seiten waren schnell ausgelesen. Nun hoffe ich, dass ich nicht zu lange auf die Fortsetzung der Reihe warten muss!

Voller Überzeugung vergebe ich fünf Sterne.

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Veröffentlicht am 25.04.2024

Chauvinismus im Amt - Die Kriminalistinnen ermitteln wieder

Die Kriminalistinnen. Acht Schüsse im Schnee
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Du weißt, du bist alt, wenn historische Romane zu deinen Lebzeiten spielen! Lucia Specht und ihre Kolleginnen ermitteln wieder. Mittlerweile haben die 70er Jahre begonnen, und der Flair der Zeit ist auf ...

Du weißt, du bist alt, wenn historische Romane zu deinen Lebzeiten spielen! Lucia Specht und ihre Kolleginnen ermitteln wieder. Mittlerweile haben die 70er Jahre begonnen, und der Flair der Zeit ist auf jeder Seite spürbar - im Positiven wie im Negativen. Wie schon Band 1 ist auch hier alles stimmig und super recherchiert. Man fühlt sich zurückversetzt in eine Zeit, in der Chauvinismus und Homophobie noch salonfähig waren, alte Nazis mit ihren Seilschaften fest im Sattel saßen und zugleich ein neuer Wind Einzug hält. Lucia Specht absolviert einen Ausbildungsabschnitt bei der Sittenpolizei. Das allein böte schon genug Stoff für eine ganze Romanreihe, denn 1970 waren noch Dinge strafbar, die heute völlig alltäglich sind. Wie gut, dass sich die Zeiten geändert haben. Während viele "moralische" Grenzen sehr eng gesteckt waren, entwickelte ich andererseits eine neue Freizügigkeit. In diesem Spannungsfeld ist auch der Kriminalfall angesiedelt, in dem Lucia ermittelt.

Auch das Innenleben der Polizei wird ausführlich beleuchtet. Für jüngere Leserinnen und Leser wird dadurch vielleicht deutlich, dass Frauenrechte - und nicht nur diese - nicht vom Himmel gefallen sind, sondern hart erkämpft werden mussten. Auch die Ausbildung von Lucia, Petra, Renate, Mieze, Lillie und Ruth läuft weiterhin unter der Bezeichnung "Experiment".

Das gesamte Setting wäre schon ohne Lucias private Ermittlungen zum Todesfall ihrer Mutter unglaublich spannend, aber auch dieser Strang wird großartig weiterverfolgt. Ebenso wie ein Teil der Lebensgeschichten der anderen Frauen.

Den besonderen Charme des Buches macht aber die Beschreibung der gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten aus. Mode, Kultur und Musik im hippen Düsseldorf im Gegensatz zum Kohlenpott, der damals seinen Namen noch zu recht trug. Das Aufbegehren der Jugend, gerne mit einem revolutionärem Hauch, gegen das Establishment. Das alles bringt Mathias Berg auf "nur" 317 Seiten unter, die ich gerne mit einer aufrichtigen Leseempfehlung versehe. Ich wurde großartig unterhalten und freue mich auf die Fortsetzung der Serie um die Kriminalistinnen.

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Veröffentlicht am 14.04.2024

Die dunkle Seite der Goldenen Zwanziger

Doch das Messer sieht man nicht
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Berlin 1927, eine Stadt, die sich noch nicht von den Schrecken des Ersten Weltkriegs erholt hat, während schon die Faschisten erstarken und sich mit Kommunisten und andersdenkenden Straßenschlachten liefern. ...

Berlin 1927, eine Stadt, die sich noch nicht von den Schrecken des Ersten Weltkriegs erholt hat, während schon die Faschisten erstarken und sich mit Kommunisten und andersdenkenden Straßenschlachten liefern. Eine Stadt, in der das Nachtleben tobt, eine nie dagewesene Freizügigkeit herrscht, aber zugleich bittere Armut dazu führt, dass sich Frauen und Männer prostituieren, Familien ihre spärlichen Räume noch an Schlafgänger vermieten und Diebstahl als legitimes Mittel des Broterwerbs gilt. Eine Stadt, in der die “Besseren” rauschende Feste feiern und alles exotische attraktiv wirkt. Das Bürgertum geht in den Tiergarten zur Völkerschau oder in die Revue der zu der Zeit in Berlin gastierenden Josephine Baker. Erotik, Drogen und Spiritismus, Armut und Reichtum, bürgerliche Biederkeit und organisierte Kriminalität - in diesem historischen Setting platziert I.L.Callis ihren Kriminalroman “Doch das Messer sieht man nicht”. Nicht nur der Titel ist eine Hommage an Bertolt Brecht. Mehr als ein Krimi ist dieser Roman eine wunderbar geschriebene Sozial- und Milieustudie über die Weimarer Republik, mit jeder Zeile spannend, auch wenn der Kriminalfall dabei nicht die Hauptrolle spielt.

Ein Mörder geht um, er tötet Prostituierte mit dem Messer und erhält schnell den Beinamen “Ripper von Berlin”. Vergeben hat diesen die Hauptperson des Romans, die junge Journalistin Anaïs Maar, aus “gutem” Hause stammend und doch nicht zur Gänze akzeptiert, denn sie ist nicht nur eine Frau, sondern auch noch schwarz. 1927 keine Konstellation, die einer erfolgreichen Karriere förderlich war.

“Anaïs biss die Zähne zusammen. Sie war Berlinerin. Hier war sie geboren. Dies war ihre Stadt. Aber - war es denn noch ihre Heimat? War sie es jemals gewesen?” (S. 322)

“Doch das Messer sieht man nicht” ist ein politisches Buch, das viele Themen aufgreift und Handlungsstränge verfolgt. Diese Komplexität ist eine Herausforderung an die Leserschaft, die sich unbedingt lohnt. Ungeschminkt beschreibt Callis die oft brutale Realität der Armut und die rohe gesellschaftliche Gewalt, die abstoßende Gedankenwelt chauvinistischer Dreckskerle und die Laszivität und Prunksucht der feinen Gesellschaft. Besonders authentisch ist die Verwendung der direkten Rede. Callis lässt jeden Protagonisten gemäß seiner Herkunft sprechen, so dass Schichtzugehörigkeit, Bildungsgrad und Provenienz deutlich werden.

Callis hat diesen Roman Hejo Emons gewidmet; völlig zurecht, denn “Doch das Messer sieht man nicht” entspricht der klaren gesellschaftspolitischen Haltung des kürzlich verstorbenen Verlegers. Nicht nur deshalb eine klare Leseempfehlung!

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