Eine Dystopie - nicht nur - der Schlagerwelt
Die UngelebtenDer Ausdruck „Patriarchat“ ist das Abstraktum zu Patriarch, abgeleitet von altgriechisch patriarches „Erster unter den Vätern, Stammesführer, Führer des Vaterlandes“; gebildet aus patér „Vater“ und archēs ...
Der Ausdruck „Patriarchat“ ist das Abstraktum zu Patriarch, abgeleitet von altgriechisch patriarches „Erster unter den Vätern, Stammesführer, Führer des Vaterlandes“; gebildet aus patér „Vater“ und archēs „Oberhaupt“, zu archein „der erste sein, Führer sein, herrschen“. (Quelle: Patriarchat (Soziologie) – Wikipedia)
„Die Ungelebten“ von Caroline Rosales ist ein Roman über eine junge Frau, Jennifer Boyard, die unter wirklich widrigen Bedingungen aufwächst. Ihr Vater, Bernd Boyard, ist ein sehr erfolgreicher Schlagerproduzent und dazu ein Psychopath. Erstaunlicherweise sind solche Menschen häufig sehr erfolgreich, denn sie setzen sich skrupellos durch und werden dafür in unserer Gesellschaft hofiert und beklatscht. Jennifer begleitet ihn seit Kindesbeinen durch die Glitzerwelt des Schlagers, und lernt dabei auch den dunklen Backstagebereich kennen. Dort geht es erbarmungslos zu. Nach der
metoo-Debatte dürfte es niemanden mehr überraschen, dass dabei auch sexualisierte Gewalt eine Rolle spielt.
Als junge Frau übernimmt Jennifer, obwohl Mutter von drei Kindern, eine führende Rolle im Familienunternehmen. Mich begeistert, wie hier patriarchale Strukturen erbarmungslos dekonstruiert werden:
Wenn sie sich anstrengte, wenn sie ihren Körper fühlte, konnte Jennifer oft nicht begreifen, was in den vergangenen Jahren passiert war. Dass ihr Körper eine wahnsinnige Metamorphose durchgemacht hatte, die jeder vernünftige Mensch, und sie zählte zu den vernünftigen Menschen, nicht allen Ernstes ohne Beschädigungen, ohne lange Erholung verkraften würde. Sie hatte drei Kinder aus sich herausgepresst und mit Muttermilch aufgezogen, und nun war es an ihr, zumindest den optischen Schaden zu beseitigen. S.19
Sie putzt den Dreck der Familie weg, Kotze, Sperma und eben auch den Dreck ihres Vaters. Die Leserin leidet mit. Und erkennt sich stellenweise vielleicht sogar ein bisschen wieder.
„Die Ungelebten“ ist ein Buch, mit dem ich emotional Achterbahn gefahren bin. Caroline Rosales schreibt schonungslos und manchmal auch provozierend über Frauenleben und Männermacht, über einen Patriarchen, wie er im Buche steht ebenso, wie über toxische Familienbeziehungen und machtlose Frauen über ganze Generationen hinweg. Das muss man aushalten können!
Es bleibt kein Platz für Empowerment, kein enthusiastisches und fröhliches Finale mit dem Schlachtruf "Women's Lib!". Vielmehr ein dystopisches Ende, in dem Misogynie und Männermacht weiterhin fortbestehen.
metoo nichts weiter als ein kleiner Kratzer im Lack des Patriarchats! Aber ist das der Autorin vorzuwerfen? Nein, denn es ist leider realistisch. Denn das liegt eben auch daran, dass wir nicht mehr zusammen auf die Straße gehen, wie die Frauen der Women's Lib, dass wir den Barbiepuppentraum davon Astronautin zu werden noch immer glauben und auch #metoo daran nichts geändert hat. Alles andere wäre zu schön, um wahr zu sein.„Die Ungelebten“ ist ein Roman und doch hätte sich alles genau so ereignen können. Und wahrscheinlich hat sich vieles von dem, war Caroline Rosales auf 304 Seiten erzählt, genau so ereignet. In einem Interview zum Buch berichtet sie, wie sich eine Schlagersängerin bei ihr gemeldet hat. Ihre furchtbare Geschichte war der Ausschlag zu diesem besonderen Buch.
Obwohl all das so entsetzlich ist, konnte ich das Buch sehr gut lesen, was sicherlich am flotten Schreibstil von Caroline liegt, und oft musste ich aufgrund der Formulierungen lachen, trotz der Thematik. Das finde ich sehr gelungen.