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Maimouna19

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 19.11.2024

Empathisch und klug

Kalte Füße
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In „Kalte Füße“ schreibt Francesca Melandri einen emotionalen Brief an ihren verstorbenen Vater, um den wahren Kern seiner Kriegserzählungen aufzudecken. Ihr Vater, Franco Melandri, kämpfte im Zweiten ...

In „Kalte Füße“ schreibt Francesca Melandri einen emotionalen Brief an ihren verstorbenen Vater, um den wahren Kern seiner Kriegserzählungen aufzudecken. Ihr Vater, Franco Melandri, kämpfte im Zweiten Weltkrieg gegen Russland, gehörte also als Teil der faschistischen Armee Mussolinis zu den Besatzern.
Auslöser für diese Auseinandersetzung war der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Erst durch die Nennung von Orten bzw. Kriegsschauplätzen in der Berichterstattung wird ihr klar, dass ihr Vater als italienischer Gebirgsjäger im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine, nicht in Russland, war.
Unter dem Eindruck der aktuellen Situation, erinnert sie sich an die Erzählungen über die Kriegserlebnisse des Vaters in ihrer Kindheit, liest nochmals seine Bücher, in denen er über seine Kriegserfahrungen berichtet und versucht, zu ergründen, was er dort wirklich getan bzw. möglicherweise sogar verbrochen hat.
Francesca Melandri hat ein zu Herzen gehendes Vater-Tochter Buch geschrieben, was mich sehr berührt hat. Eine ganz andere Herangehensweise an das Thema Krieg als man es sonst kennt. Empathisch und klug analysiert sie glasklar und mutig, welche Verantwortung gegenüber einem bedrängten Land wir tragen. Sie empört sich zwar vor allem darüber, dass die italienische Politik und auch die Zivilgesellschaft so wenig Solidarität mit der Ukraine zeigen, aber vieles trifft natürlich auch auf Deutschland und auch andere Länder zu. Ein absolut lesenswertes Buch, das viel Stoff zum Nachdenken liefert.

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Veröffentlicht am 08.11.2024

Absolut lesenswert!

Die Wut, die bleibt
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Helene, Mutter von drei Kindern, steht beim gemeinsamen Abendessen mit Mann und Kindern vom Tisch auf und stürzt sich scheinbar völlig grundlos vor den Augen der Familie vom Balkon in den Tod.
Fassungslos ...

Helene, Mutter von drei Kindern, steht beim gemeinsamen Abendessen mit Mann und Kindern vom Tisch auf und stürzt sich scheinbar völlig grundlos vor den Augen der Familie vom Balkon in den Tod.
Fassungslos bleiben Lola, ihre zwei kleinen Brüder, ihr Stiefvater Johannes und Sarah, Helenes beste Freundin seit Schulzeiten, zurück.
Aus einem Schuldgefühl, Helene nicht richtig zugehört zu haben und um der Familie zu helfen, übernimmt Sarah Helenes Rolle, kümmert sich mit Lolas Unterstützung um Kinder und Haushalt. Johannes, Helenes Ehemann, überlässt Sarah und Lola die gesamte Care-Arbeit, kümmert sich nur um seinen Job und scheint ganz selbstverständlich davon auszugehen, dass dies nicht vorübergehend, sondern eine dauerhafte Lösung ist.
Abwechselnd aus Sicht von Lola und Sarah wird erzählt wie die beiden versuchen, mit ihrer Wut und ihrer Trauer klarzukommen. Beide hinterfragen auch, jede auf ihre Weise, die Rolle der Frau in der heutigen Gesellschaft.
Von Themen wie Überlastung, fehlender Unterstützung, Verständnis- und Hoffnungslosigkeit ist hier die Rede. Wieso bleibt auch im 21. Jahrhundert die Familien- und Carearbeit mehr oder weniger ausschließlich an Frauen hängen? Wieso werden Frauen nach wie vor in ein Leben gedrängt bzw. lassen sich in ein Leben drängen, das sie so nie gewollt haben?
Dieses Buch ist hochemotional und sehr intensiv, manchmal vielleicht auch etwas überspitzt bzw. sehr plakativ, liefert aber wichtige Denkanstöße. Wie kann es sich eine moderne Gesellschaft überhaupt noch leisten, eine Hälfte ihrer Bevölkerung so im Stich zu lassen? Höchste Zeit, aufzubegehren, laut zu sein, sich nicht kleinmachen zu lassen! Definitiv lesenswertes Buch!

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Veröffentlicht am 08.11.2024

Hervorragende haitianische Literatur

Eine Violine für Adrien
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Der 14jährige Adrien lebt in den 1970er Jahren in Port-au-Prince, Haiti. Es ist die Zeit der Militärdiktatur von François Duvalier („Papa Doc“) und des Machtübergangs an seinen Sohn, Jean-Claude, genannt ...

Der 14jährige Adrien lebt in den 1970er Jahren in Port-au-Prince, Haiti. Es ist die Zeit der Militärdiktatur von François Duvalier („Papa Doc“) und des Machtübergangs an seinen Sohn, Jean-Claude, genannt „Baby Doc“.
Adrien wächst in ärmlichen, aber behüteten Verhältnissen bei seiner Mutter auf. Sie ist eine von mehreren Liebschaften seines Vaters, der daher nur hin und wieder bei ihnen vorbeikommt. Adrien ist ein guter Schüler und um ihm auch die schönen Künste näherzubringen, nimmt ihn seine kulturbegeisterte Mutter hin und wieder mit zu Theater-und Konzertbesuchen, auch wenn das Geld knapp ist. Von einem Violinkonzert ist er derart begeistert, dass er unbedingt Violine spielen lernen möchte. Es gelingt, ihn im Violinunterricht von Monsieur Benjamin, einem bekannten Violinspieler unterzubringen. Im ersten Unterrichtsjahr werden die Violinen von Monsieur Benjamin bereitgestellt, doch für das zweite Jahr müssen die Schüler eine eigene Violine mitbringen. Adriens Traum, ein großer Violinvirtuose zu werden, scheint zu platzen. Seine Eltern haben nicht die finanziellen Mittel, Violinen sind auf Haiti nicht zu bekommen, sondern müssen importiert werden. Adrien beschließt, das nötige Geld für den Kauf einer Violine selbst zu verdienen. Er findet neben der Schule einen Job, der allerdings so schlecht bezahlt ist, dass es kaum zu schaffen ist, eine Violine zusammenzusparen. Doch dann macht ein Offizier der Geheimpolizei ihm ein verlockendes Angebot. Adrien ahnt nicht, worauf er sich damit einlässt….
Gary Victor ist einer der meistgelesenen Autoren Haitis und vor allem bekannt durch seine Kriminalromane, schreibt aber auch Romane, Erzählungen und Dramen sowie Beiträge für Radio und Fernsehen.
Der Autor hat einen unverwechselbaren Erzählstil, kann virtuos mit Sprache umgehen. Gekonnt werden irrationale, von Voodoo geprägte Sequenzen in die Geschichte eingeflochten.
Auch wenn die Militärdiktatur nicht das Thema des Buches ist, so hat sie natürlich einen großen Einfluss auf die Geschichte. Sie ist allgegenwärtig im Leben aller Haitianer, man kann niemandem trauen, muss sich jedes Wort gut überlegen, Geheimpolizei und Denunzianten finden sich überall.

„Eine Violine für Adrien“ ist eine berührende, spannende Geschichte, gleichzeitig dramatisch und ironisch, kritisch aber auch phantastisch - und ganz nebenbei erfährt man noch so einiges über die haitianische Gesellschaft zur Duvalier-Zeit. Absolut lesenswert!

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Veröffentlicht am 06.11.2024

Rasante und skurrile Unterhaltung

Meine Schwester, die Serienmörderin
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In „Meine Schwester, die Serienmörderin“ erzählt Oyinkan Braithwaite die Geschichte zweier sehr unterschiedlicher Schwestern aus Nigeria. Korede, die Erzählerin, ist ernsthaft und besonnen, von Beruf Krankenschwester. ...

In „Meine Schwester, die Serienmörderin“ erzählt Oyinkan Braithwaite die Geschichte zweier sehr unterschiedlicher Schwestern aus Nigeria. Korede, die Erzählerin, ist ernsthaft und besonnen, von Beruf Krankenschwester. Sie ist die ältere Schwester von Ayoola, einer lebenslustigen, attraktiven, jungen Frau, die mit Leichtigkeit durchs Leben geht. Allerdings hat sie eine schlechte Angewohnheit: sie bringt ihre Liebhaber um, sobald sie ihr lästig werden. Und dann muss Korede ihr helfen – sie darf aufräumen, Tatorte reinigen, Spuren beseitigen, Leichen entsorgen.
Da afrikanische Autor*innen in Deutschland eher unterrepräsentiert sind und Cover und Titel des Buches mir geradezu ins Auge gesprungen sind, musste ich das Buch einfach lesen. Ich wurde nicht enttäuscht, es war ein echtes Vergnügen!
Oyinkan Braithwaite schreibt so rasant und kurzweilig, dass ich das Buch in einem Rutsch gelesen habe (nicht schwierig, es sind nur 226 Seiten).
Eine skurrile, spannende Geschichte und ganz nebenbei erfährt man noch so einiges über die moderne nigerianische Gesellschaft, aber auch über Traditionen, Geschlechterrollen, Familienzwänge, Loyalität, etc.

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Veröffentlicht am 04.10.2024

Psychoterror in der Ehe

Lügen über meine Mutter
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In „Lügen über meine Mutter“ erzählt Daniela Dröscher die Geschichte einer Familie im Hunsrück der 1980er Jahre aus der Perspektive der sechsjährigen Ela. Es ist vor allem die Geschichte der Mutter, die ...

In „Lügen über meine Mutter“ erzählt Daniela Dröscher die Geschichte einer Familie im Hunsrück der 1980er Jahre aus der Perspektive der sechsjährigen Ela. Es ist vor allem die Geschichte der Mutter, die durch die Augen des Kindes erzählt wird. Für Elas Mutter ist ihre Ehe die Hölle, sie wird permanent von ihrem Mann wegen ihres Gewichts kritisiert. Es ist ihm zur fixen Idee geworden, dass ihr Gewicht Schuld an allem ist, was ihm im Leben nicht gelingt: Beförderung, sozialer Aufstieg, Anerkennung. Das führt soweit, dass seine Frau sich regelmäßig vor seinen Augen auf die Waage stellen musste, um ihr Gewicht kontrollieren zu lassen - der reinste Psychoterror! Auch ihr Bemühen um ihr eigenes berufliches Vorankommen wird von ihm ins Lächerliche gezogen und keineswegs unterstützt; Haushalt, Kinder und was sonst noch an Care-Arbeit zu erledigen ist, ist auch in den 1980er Jahren und vor allem in der ländlichen Provinz alleinige Aufgabe der Frau.
Andererseits hat er kein Problem damit, seine Frau arbeiten zu lassen, um die Familie finanziell über Wasser zu halten, da er selbst Unsummen für Autos, Tennis, Hausbau, etc. ausgibt, um das eigene Selbstbewusstsein aufzupolieren.
Dem Leser ist recht schnell klar, wer eigentlich das armselige Würstchen in dieser Familie ist. Beim Lesen kam bei mir ganz schnell die kalte Wut auf den Vater auf - was für ein erbärmlicher Mensch!

Besonders gut gefallen haben mir die zwei Erzählperspektiven – einerseits die sechsjährige Ela, die die Ansichten ihres Vaters übernimmt und sich ebenfalls für das Übergewicht der Mutter schämt, andererseits die Einschübe, in denen die erwachsene Tochter diese Ansichten reflektiert und korrigiert und auch die Mutter zu Wort kommt. Diese beiden Perspektiven ergänzen sich perfekt und ergeben eine warmherzige, flüssig lesbare Erzählung.

Eine solche Rückständigkeit hätte ich in den Sechziger- und Siebzigerjahren für möglich gehalten, erschreckend, dass das auch in den Achtzigern noch so verbreitet war, habe ich selbst so nicht erlebt.
Aber wahrscheinlich gibt es das auch heute noch, wenn auch nicht mehr in dem Ausmaß.

Feminismus, Patriarchat, Verteilung von Care-Arbeit, etc. sind nach wie vor aktuelle Themen. „Lügen über meine Mutter“ liefert reichlich Anstoß, sich Gedanken zu machen. Daher klare Leseempfehlung meinerseits.

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