Komplexe Zeitreise
In Mithu Sanyals neuem vielschichtigen und Buchpreis nominierten Roman „Antichristie“ wird mit zahlreichen Dialogen und Diskursen die Kolonialisierung Indiens durch die Engländer sowie die Auswirkungen ...
In Mithu Sanyals neuem vielschichtigen und Buchpreis nominierten Roman „Antichristie“ wird mit zahlreichen Dialogen und Diskursen die Kolonialisierung Indiens durch die Engländer sowie die Auswirkungen in der Gegenwart auf allen Seiten beleuchtet – dabei geht es humorvoll, diskussionsfreudig sowie zeitübergreifend zu.
Die 50jährige, deutsch-indische Drehbuchautorin Durga will im Jahr 2022 die Asche ihrer Mutter Lila, die zeitlebens ihr Leben dem indischen Befreiungskampf verschrieben hat, verstreuen, als der Wind sie wieder zurückweht und knirschend zwischen ihren Zähnen landet. Noch in diesem Augenblick spricht sie sich mit dem Drehbuchkollektiv in London ab – ein Agatha-Christie-Film soll politisch korrekt umgeschrieben werden. Durga reist nach London und erlebt den Tod der Queen Elizabeth, während die Crew eine geeignete PoC-Person des Detektivs Poirot sucht und heiß über das postkoloniale Drehbuchschreiben diskutiert.
Auf einer zweiten Zeitebene wird Durga magisch als junger Mann in das Jahr 1906 katapultiert und erlebt im India House hautnah den gewaltvollen indischen Widerstands gegen die britische Kolonialmacht: Zwischen den Revolutionären Mahatma Gandhi sowie seinen weniger bekannten Kontrahenten tobt ein bitterer Kampf, der am Ende einen Toten fordert und Sherlock-Holmes-mäßig aufgeklärt werden muss.
Mithu Sanyal packt eine lehrreich-unterhaltsame Mixtur an Diskursen und Spielorten in ihren 500-Seiten starken Roman – ein ausführliches Personenregister schafft den nötigen Überblick und das Nachwort zeugt von einer immensen Recherchearbeit der realhistorischen Personen. Und doch wirkt der Plot mit seinen facettenreichen Erzählsträngen voller Bezüge und Verweisen stellenweise überfrachtet und der Erzählstil leicht belehrend-didaktisch. Sanyals Stärke liegt darin, immer wieder schwarzen Humor und erhellenden Witz aufblitzen zu lassen, damit die unterhaltsam-sprudelnde Lehrstunde über Kolonialismus, Erinnerung und Geschichtsschreibung trotzdem lesenswert bleibt und der zeitgenössische Roman in seiner Gänze sehr außergewöhnlich und einfallsreich geworden ist.