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Veröffentlicht am 18.11.2024

Wichtiges Buch über Cybermobbing

Was wir nicht kommen sahen
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Mit "Was wir nicht kommen sahen" ist Katharina Seck ein wichtiges Buch zu einem sehr relevanten und aktuellen Thema gelungen: Cybermobbing, das solche Ausmaße annehmen kann, dass es Menschen in den Suizid ...

Mit "Was wir nicht kommen sahen" ist Katharina Seck ein wichtiges Buch zu einem sehr relevanten und aktuellen Thema gelungen: Cybermobbing, das solche Ausmaße annehmen kann, dass es Menschen in den Suizid treiben kann. Das Buch ist von wahren Beispielen dafür inspiriert, wie die Autorin im Nachwort auch selbst anführt.

Das Buch ist aus drei Perspektiven geschrieben:

1) Ada, eine 18-jährige Schülerin, die sich auf Twitch einen Namen im Internet gemacht hat. Anfangs, indem sie während ihrer Videospiele live streamt, später - in Reaktion auf das Mobbing - auch als Aktivistin. Leider wird sie zur Zielscheibe einer Gruppe von Hatern, überwiegend aus der Incel-Community, die sich einen Spaß daraus machen, sie immer mehr zu bedrohen und zu bedrängen, nicht nur im Internet, sondern auch tatsächlich mit anonymen Nachrichten in ihrem Postkasten. So lange bis Ada keinen Ausweg mehr sieht und sich das Leben nimmt. Mit ihrem Suizid beginnt das Buch, die weiteren Ada-Kapitel sind dann aber wieder aus der Zeit vor dem Suizid geschrieben und zeigen, wie es so weit kommen konnte.

2) Jenny und Dominik, die Eltern von Ada, die durch den Suizid ihr einziges Kind verloren haben, gar keine Ahnung von Adas Online-Aktivitäten und dem Mobbing hatten und sich im Nachhinein versuchen, ein Bild davon zu machen und zu verstehen, was hier geschehen ist und wie es dazu kommen konnte. Sehr sympathische, bemühte Eltern, die ihre einzige Tochter über alles geliebt haben.

3) Die Anonymität: hier wird aus wechselnden Perspektiven, manche männlich, manche weiblich, von denen erzählt, die auf die eine oder andere Weise zum Cybermobbing beigetragen haben. Entweder, indem sie dieses direkt ausgeübt, andere angefeuert oder eine Nachricht oder ein Video weitergeleitet haben.

Insgesamt ist es damit ein sehr spannendes und aufrüttelndes Buch zum Thema Cybermobbing. Man spürt in jeder Zeile, wie es der Autorin ein echtes Anliegen ist, zu diesem Thema zu sensibilisieren und zum Kampf gegen Cybermobbing zu mobilisieren und dafür eignet es sich auch hervorragend und kann auch als Schullektüre empfohlen werden.

Warum dann keine fünf Sterne, sondern doch nur vier?

Ich habe mich mit dem Thema Suizid sehr tiefgründig beschäftigt, habe selbst Erfahrung als Hinterbliebene nach Suizid und ich habe schon so einige andere Bücher darüber gelesen, denen es gelingt, die damit verbundenen Dynamiken extrem authentisch einzufangen (z.B. "Wohin das Licht entflieht" von Sara Barnard oder "Von dem, der bleibt" von Matteo B. Bianchi). In Bezug auf dieses Thema kommt dieses Buch hier an die anderen Bücher nicht ran. Ich muss aber zugeben, hier sehr hohe Ansprüche an das Buch zu stellen.

Auch wenn die Autorin immer wieder versucht, mit sprachgewaltigen Metaphern das damit verbundene Leid zu schildern... etwas fehlt in dieser Perspektive und fühlt sich für mich als Betroffene nicht authentisch an, und zwar sowohl in der Zuspitzung der Entwicklung hin zu Adas Suizid, die ich in der Figur der Ada nicht wirklich nachfühlen kann, als auch in der Bewältigung des Suizids durch die Eltern, die dann doch überraschend schnell wieder Hoffnung zu schöpfen scheinen und schon nach sechs Wochen wieder deutlich positiver auf die Welt blicken , was sich in keinster Weise mit meiner Erfahrung in der Arbeit mit Menschen, die ein Kind durch Suizid verloren haben, deckt.

Es ist für mich somit kein authentisches Buch, um etwas über Suizidalität oder die Bewältigung des Suizids eines Hinterbliebenen zu lernen, dafür ist es für mich nicht nah und authentisch genug an diesem Thema dran. Die Dynamiken des Cybermobbings finde ich hingegen sehr authentisch dargestellt und zu diesem Thema sensibilisiert und mobilisiert das Buch ausgezeichnet.

Ein bisschen schade habe ich auch gefunden, dass man im Buch sehr klar merkt, dass die Autorin sich selbst ganz eindeutig dem linken politischen Spektrum zuordnet und die Menschen mit konservativen bzw. Mitte-rechts-Einstellungen stark dämonisiert. Auch wenn es zweifellos solche Gestalten, wie sie im Buch vorkommen, genau so in der Realität und im Internet gibt, hätte dies nicht noch damit verstärkt werden müssen, dass auch die Nachbarn - die mit dem Cybermobbing an sich nichts zu tun haben - als Coronamaßnahmengegner und als solche als dumpf und blöd charakterisiert werden.

Ich unterstelle der Autorin ein ziemlich einseitiges Weltbild und keine tiefgehende Beschäftigung mit Menschen ganz anderer politischer Einstellungen, die aber fernab von Radikalisierung sind. Es wirkt so, als ob sie, wie es derzeit leider in einigen Bereichen der Gesellschaft Mode zu sein scheint, alles rechts der Mitte einfach als radikal und dumm abstempeln würde, und die Weltsicht der eigenen sozialen Blase als einzig legitime und gute ansehen würde. Damit nimmt sich das Buch ein bisschen von dem Potential, breitflächig Menschen abzuholen. Insgesamt bleibt es aber dennoch aus den oben genannten Gründen ein gutes und wichtiges Buch.

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Veröffentlicht am 04.11.2024

Eine narzisstische Mutter und ihre beiden Töchter

Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen
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Regina, Jahrgang 1948, wird Anfang der 1980er Jahre Mutter zweier Töchter: Wanda und Antonia. Sie arbeitet als psychologische Psychotherapeutin in einer eigenen Praxis, lebt mit Edgar in einer soliden, ...

Regina, Jahrgang 1948, wird Anfang der 1980er Jahre Mutter zweier Töchter: Wanda und Antonia. Sie arbeitet als psychologische Psychotherapeutin in einer eigenen Praxis, lebt mit Edgar in einer soliden, aber eher leidenschaftslosen Ehe und definiert sich über ihre Intelligenz, ihren Erfolg und ihre schlanke Figur. Kritisch und erbarmungslos richtet sie ihren wertenden Blick auf alle Menschen in ihrem Umfeld, besonders auf andere Frauen, und auf ihre Töchter. Von der stillen, einfühlsamen und etwas pummeligen Antonia ist sie maßlos enttäuscht. Wanda hingegen ist mehr eine Tochter nach ihren Erwartungen, sehr dünn und hübsch, hochintelligent und ehrgeizig, ein Ebenbild der Mutter in allen Bereichen. Dass Wanda eine ernsthafte Essstörung entwickelt und ebenfalls an den unerfüllbaren Erwartungen an sie leidet, will die Mutter lange nicht sehen, und ihren eigenen Anteil daran leugnet sie bis zuletzt.

Das knapp 400 Seiten lange Buch ist in drei Teile geteilt. Der erste Teil, knapp 200 Seiten, beschreibt die Familie im Jahr 1998 und im Jahr danach, als erst Wanda und dann Antonia Abitur machen. Der zweite Teil, etwa 100 Seiten, spielt im Jahr 2010: die Töchter sind um die 30, die Eltern sind deutlich älter geworden. Und schließlich begleiten wir die Familie auf den letzten 100 Seiten durch die Jahre 2019 bis 2020, bis zum Beginn der Coronapandemie. Beide Töchter werden auch selbst Mütter und wir erleben auch mit, wie sie nun mit ihren eigenen Kindern umgehen.

Es ist also auch neben einer Mutter-Töchter-Erzählung auch eine weibliche Entwicklungsgeschichte und wir erleben die Hoffnungen, Träume, Ziele, Pläne, aber auch Rückschläge und Enttäuschungen der drei Frauen über mehr als zwei Jahrzehnte mit. Begleiten die beiden Mädchen von der Teenagerzeit bis in ihre 40er-Jahre und erleben mit, wie sie sich schrittweise zu eigenen Persönlichkeiten entwickeln und nach und nach auch die Kraft entwickeln, der dominanten und urteilenden Mutter zumindest ein bisschen die Stirn zu bieten und für ihre eigenen Lebensentwürfe einzustehen.

Insgesamt ist es ein sehr interessantes und psychologisch feinsinniges Buch für alle, die sich für Mütter-Töchter-Beziehungen, für Entwicklungsromane und auch für die Unterschiede zwischen verschiedenen Generationen interessieren. Ich bin etwas jünger als die beiden im Buch vorkommenden Töchter und kenne viele Frauen aus der Generation von Regina - in vielem habe ich die Spannungen vieler Frauen meiner Generation im Verhältnis zu ihren Müttern wiedererkannt.

Da wird im Buch sehr gut aufgezeigt, welche Schattenseiten gerade auch die Anspruchshaltung an Frauen, sie sollten stark sein und alles verwirklichen, sollten gleichzeitig die traditionell männlich wie die traditionell weibliche Rolle erfüllen, beruflich sehr erfolgreich, intelligent, leistungsfähig und stark sein, aber auch die Familie im Griff haben und sich niemals schwach zeigen, mit sich bringt. Wie diese Sozialisierung oft zu Lasten des Zulassens der eigenen Emotionen, aber auch des Mitfühlens mit anderen geht, und damit echte Beziehungen zu anderen, auch zu den eigenen Kindern, unmöglich macht. Solche durch die gesellschaftlichen Umstände narzisstisch geprägten Frauen wie Regina gibt es viele, und auch viele ihrer Töchter, die ähnlich darunter leiden wie Antonia und Wanda. Hier ist das Buch also sehr authentisch und wirklich gelungen.

Insbesondere die zweite Hälfte des Buches hat mich beim Lesen auch sehr gefesselt. Auf den ersten 100 bis 150 Seiten hingegen war mir das Buch etwas zu langatmig, gerade die allererste geschilderte Lebensphase, um die Abiturzeit der beiden Mädchen herum, wird ausführlichst geschildert, ohne dass die Handlung wirklich viel voranschreitet. Anfangs war ich mir deshalb gar nicht sicher, ob ich das Buch wirklich zu Ende lesen will, rückblickend bin ich aber nun froh darüber und es ist in den späteren Abschnitten deutlich spannender geworden.

Ein Detail finde ich auch eher unrealistisch bzw. möglicherweise nicht so genau recherchiert: Reginas psychotherapeutische Privatpraxis wird als der leichtere Karriereweg im Vergleich zu einer wissenschaftlichen Karriere dargestellt, als etwas, das Regina halt neben den Kindern noch schnell erreichen konnte, während ein Doktoratsstudium zu dieser Zeit nicht mehr möglich gewesen wäre. Es wird beschrieben, dass Regina als junge Frau erst jahrelang ziellos Lehramt studiert hätte, dann Jahre in Südamerika verbracht hätte und danach dann noch schnell Psychologie studiert und Psychotherapeutin geworden wäre, während sie schon Anfang 30 ihre zwei Kinder bekommen habe.

Wer sich mit dem Psychologiestudium und der darauf folgenden anspruchsvollen postgraduellen Ausbildung auch nur ein bisschen auskennt, weiß, das ist zeitlich sehr unrealistisch, auch wenn man intelligent und ehrgeizig ist wie Regina. Und selbst wenn, dann bedeutet ein Psychologiestudium samt mehrjähriger psychotherapeutischer Weiterbildung einen Aufwand, der in Summe sicher nicht geringer ist als ein Psychologiestudium plus Doktorat. Wer das gemacht hat, so wie Regina in dem Buch, der würde das wissen, insofern wirkt das etwas unrealistisch. Zur narzisstischen Persönlichkeit Reginas passt es natürlich, dass sie sich unzulänglich fühlt und das Gefühl hat, ihr überragendes Talent beruflich nicht genug verwirklicht zu haben, doch hätte sich hier vielleicht ein passenderes Beispiel finden können.

Abgesehen von diesem Detail und dem, wie gesagt, etwas langatmigen ersten Teil, ist es aber ein durchaus sehr gelungenes und psychologisch tiefgründiges, authentisches Buch, das zum Nachdenken anregt. Wohlfühlbuch ist es aber eher keines, dafür sind die vorkommenden Konflikte zu heftig und insbesondere Regina in ihrer Unbarmherzigkeit deutlich zu unsympathisch.

Es ist ein gutes Buch, aber kein sonderlich schönes. Dazu passt dann wiederum auch wieder der etwas sperrige Titel, auf den im Buch nur kurz Bezug genommen wird und der sich erst bei genauerem Darüber-Nachdenken als Metapher erschließt.

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Veröffentlicht am 22.10.2024

Anschauliche Einführung in eine spannende Transformationsmethode

NeuroGraphik
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"Neurographik - die Anleitung aus der Praxis" von Ingrid Werner ist ein sehr hochwertig und wunderschön gestaltetes Buch: das zeigt sich schon am festen Einband mit dem wunderschönen Neurographik-Bild ...

"Neurographik - die Anleitung aus der Praxis" von Ingrid Werner ist ein sehr hochwertig und wunderschön gestaltetes Buch: das zeigt sich schon am festen Einband mit dem wunderschönen Neurographik-Bild gleich als Titelbild, und zieht sich auch sonst durch das Buch, das mit vielen Farbbildern sehr anschaulich und ansprechend gestaltet ist.

Das Buch beginnt, nach einer kurzen Vorstellung der Autorin, in der wir erfahren, wie sie zu Neurographik gekommen ist, mit einer Einführung in die Methode. Offen und nahbar ermutigt die Autorin dabei dazu, die Methode einfach mal auszuprobieren und stellt gleich klar, dass dafür keinerlei Zeichenkenntnisse erforderlich sind. Es wird beschrieben, wie das neurographische Zeichnen dabei unterstützen kann, das eigene Leben zu transformieren und wie es auf das Unterbewusstsein wirkt. Auch Themen wie der innere Widerstand und der mögliche Umgang damit bekommen ihren Raum.

Und dann werden die Lesenden auch schon eingeladen, direkt in die erste Selbsterfahrung mit dieser Methode einzuzeigen und eine erste neurographische Zeichnung anzufertigen. Also dazu erst einmal ein Thema zu aktivieren, Glücksbubbles zu zeichnen, diese mit neurographischen Linien, Feldlinien und Farbe zu ergänzen, alle Ecken abzurunden und am Ende einen Bereich bewusst auszuwählen und zu fixieren. Ich habe diese Zeichnung anhand der Anleitung und ohne vorige Neuroraphik-Erfahrung angefertigt und es war leicht zu schaffen, weil die Anleitung wirklich sehr gut und detailliert ist und mich Schritt für Schritt durch den Prozess geführt hat.

Nach dieser ersten eigenen Zeichenerfahrung wird im nächsten Kapitel detailliert auf praktische Tipps und Tricks für das neurographische Zeichnen eingegangen, so gibt es z.B. Tipps für die Wahl des passenden Materials, für die Themenwahl und Aktivierung des Themas, für Feldlinien, Fixierung und WOW-Effekt. Mit diesen Tipps kann man schon sehr schöne und wohltuende erste neurographische Zeichnungen erstellen.

Schließlich beinhaltet das Buch noch zwei weitere konkrete Zeichenanleitung, eines zur Aktivierung der eigenen Ressourcen und eines zum Thema "Heilung über deine Hand".

Wer also vorab wissen möchte, wie viele konkrete Zeichenanleitungen sich in diesem Buch befinden: es sind drei.

Damit komme ich auch schon zu dem Punkt, warum ich diesem Buch, das mir grundsätzlich in vielen Bereichen sehr gut gefällt und mich inspiriert hat, vier Sterne gebe statt fünf, und das ist das letzte Kapitel "Anwendungsbereiche der Neurographik". Ich verstehe die gute Absicht der Autorin, hier die Vielfalt der unterschiedlichsten Anwendungsmöglichkeiten der Neurographik anhand von Beispielen aufzuzeigen. Wir lesen über Klientinnen und Klienten, die z.B. abnehmen oder mit dem Rauchen aufhören wollen, oder Probleme in ihrer Familie harmonisieren, ein berufliches Projekt retten, sich selbst mehr annehmen oder die eigenen Rollen im Leben besser verstehen.

Diese Beispiele sind auch an sich sehr interessant und zu vielen gibt es schöne neurographische Zeichnungen, allerdings werden jeweils viele neurographische Modelle genannt, die neugierig machen, aber nicht näher erklärt werden. Das kann speziell am Anfang des Kapitels beim Lesen auch verwirrend sein, weil zumindest mir nicht gleich klar war, dass sich auf Modelle bezogen wird, die eben im Buch nicht vorkommen und auch nicht näher erklärt werden. Um diese konkret kennen zu lernen, braucht es dann wohl den Besuch der Kurse in dieser Methode. Es ist kein Buch für das komplette Selbststudium der Neurographik oder ein umfangreiches Nachschlagewerk sämtlicher Zeichenmethoden, das war aber wohl auch nicht die Intention der Autorin.

Wem kann ich somit das Buch empfehlen? Allen, die gerne einen ersten Einblick in die Methode der Neurographik gewinnen wollen, um ein erstes Gefühl zu entwickeln, ob das für sie etwas sein könnte und ob sie gerne weitere Schritte gehen und einen Basiskurs oder eine längere weiterführende Ausbildung in diesem Bereich beginnen möchten.

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Veröffentlicht am 13.10.2024

Zauberhafte Mischung aus Coming-of-Age, Märchen und Dystopie

Im Morgenlicht
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"Im Morgenlicht" von Téa Obreht ist ein Buch, wie ich es so noch nie gelesen habe. Wir befinden uns in einer Welt unbestimmter Zeit, irgendwann in der Zukunft. Es ist eine dystopische Welt, viel ist verwüstet, ...

"Im Morgenlicht" von Téa Obreht ist ein Buch, wie ich es so noch nie gelesen habe. Wir befinden uns in einer Welt unbestimmter Zeit, irgendwann in der Zukunft. Es ist eine dystopische Welt, viel ist verwüstet, viele Tier- und Pflanzenarten gibt es nicht mehr (dafür ist Fleisch essen verboten worden), die Meeresspiegel sind angestiegen und vieles ist überschwemmt. Und doch gibt es auch zaghafte Versuche von gegenseitiger Unterstützung und Gemeinschaft.

In dieser Welt lebt die etwa 11-jährige Silvia, genannt Sil, mit ihrer Mutter und ihrer Tante Ena. Sie leben im "Morgenlicht", einem großen Wohnturm mit über 30 Stockwerken, im Rahmen eines Wiederansiedlungsprojekts für Geflüchtete in Island City, in einer größeren, weitgehend zerfallenen und überfluteten ehemaligen Stadt. Das Leben dort ist sehr karg, es gibt Lebensmittelmarken, die gerade für das allernötigste Überleben reichen, und auch ein Platz in der Schule kann Sil auf unbestimmte Zeit nicht zugewiesen werden. Sils Leben ist geprägt von offenen Fragen und Heimatlosigkeit: an die "alte Heimat", in der sie geboren wurde und aus der die Familie flüchten musste, als sie noch ein Baby war, erinnert sie sich nicht, dazwischen gab es eine Zwischenstation namens "Paraíso", die aber nicht sehr paradiesisch anmutet, und nun ist sie hier. Ihre Mutter arbeitet erst als Hausbesorgerin, später nimmt sie zusätzlich noch gefährliche, aber lukrativere, Aufträge als Bergungstaucherin an. Mit der Mutter daheim spricht Sil die Muttersprache "Unser", gleichzeitig ermahnt die Mutter sie immer wieder, dass es gefährlich sei, diese Sprache außerhalb der eigenen vier Wände zu verwenden.

Dennoch lebt Sil zumindest innerlich auch in einer Welt der alten Mythen und Märchen, die ihr insbesondere durch die Tante Ena vermittelt wird, die wesentlich lieber über die unbekannte "alte Heimat" spricht als Sils Mutter. In dieser Welt gibt es zum Beispiel Geschichten von magischen Wesen, die als "Vila" bezeichnet werden, eine Frauengestalt aus der alten slawischen Mythologie, uralt, mystisch und mit eigenen Werten und Regeln.

Und so nimmt das Mädchen Sil vieles durch diese Brille des magischen Realismus wahr, und ist zum Beispiel erpicht darauf, herauszufinden, was es mit der geheimnisvollen älteren Dame mit den Hunden auf sich hat, die im Penthouse ganz oben auf dem Wohnturm "Morgenlicht" wohnt.

Wir erleben das Buch durch Sils Augen, überwiegend durch die Perspektive der 11-jährigen Sil, mit gelegentlichen Ausblicken auf die ältere Sil ganz am Anfang und am Ende. Ich habe die besondere Szenerie des Buches sehr genossen, genauso wie die vielfältigen Bezüge auf die jüngere Geschichte, insbesondere auf die Balkankriege und die ethnischen, sprachlichen und kulturellen Herausforderungen (Bosnisch/Kroatisch/Serbisch sind sich so ähnlich... und doch erkennen viele an der Wortwahl, Betonung und Aussprache, woher jemand kommt und teilweise kann damit sogar auf die ethnische Zugehörigkeit geschlossen werden, auch darauf bezieht sich das Buch an einer Stelle) sowie auf die Mythologie des Balkans. Dazu muss ich aber ergänzen, dass mir persönlich der Balkan sprachlich und kulturell sehr vertraut ist - komplett ohne diesen Bezug wirken möglicherweise einige der Andeutungen in diese Richtung eher unverständlich bzw. brauchen genaueres Nachrecherchieren, wenn man sie verstehen möchte.

Das Buch selbst nimmt die Lesenden da ein bisschen zu wenig an die Hand und es gibt auch keine erklärenden Fußnoten dazu. Insofern verstehe ich auch andere Rezensionen von Menschen, die sich mit dem Buch da schwerer getan haben.

Es braucht schon ein Sich-Einlassen auf eine unbekannte, ganz fremdartige Welt mit ihrer ganz eigenen Logik und Mythologie und/oder ein tieferes Sich-Beschäftigen mit den Hintergründen, das aber dadurch erschwert wird, dass die Bezüge auf den Balkan niemals explizit genannt werden - man entdeckt sie nur, wenn man weiß, dass die Autorin die ersten 12 Jahre ihres Lebens in Serbien verbracht hat, und wenn man sich mit dieser Kultur schon ein bisschen beschäftigt hat.

Wenn aber diese Voraussetzungen gegeben sind bzw. man beim Lesen offen genug ist, sich einfach auf das Buch und seine Welt einzulassen, dann ist es ein ganz zauberhaftes, märchenhaftes Buch mit Elementen aus Coming-of-Age, Nachkriegsszenarien und Dystopie, das doch von seiner Grundstimmung her auch Hoffnung schenkt und gedanklich und emotional noch einige Zeit nachwirkt. Ich empfehle es allen, die mal etwas ganz anderes und Neues lesen möchten.

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Veröffentlicht am 10.10.2024

Beziehungen zwischen Schwestern überschattet von Trauer und Sucht

Blue Sisters
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Schon das Titelbild der "Blue Sisters" gibt einen guten ersten Eindruck, worum es im Buch geht: wir sehen eine Frau, die sehr traurig, verzweifelt und verschlossen wirkt. Die Blue Sisters sind die vier ...

Schon das Titelbild der "Blue Sisters" gibt einen guten ersten Eindruck, worum es im Buch geht: wir sehen eine Frau, die sehr traurig, verzweifelt und verschlossen wirkt. Die Blue Sisters sind die vier Mädchen der Familie Blue, die sich eigentlich einen Sohn gewünscht hatte, aber damit nie erfolgreich war.

Ich stelle mal die Schwestern vor, beginnend mit der ältesten: Avery, eine erfolgreiche Anwältin und mit einer Frau verheiratet, auf der die Verantwortung der Miterziehung ihrer drei jüngeren Schwestern schwer gelastet hat. Hochbegabt, sehr diszipliniert und mit einer kurzen, aber heftigen Suchtvergangenheit Anfang ihres Erwachsenenlebens, die sie aber doch überwiegend hinter sich lassen konnte. Dann Bonnie, die psychisch noch am gesündesten wirkt, Halt in ihrem Glauben findet und eine erfolgreiche Karriere im Box-Hochleistungssport verfolgt. Schließlich Nicky, die nicht mehr lebt, weil sie an zu vielen Tabletten gestorben ist. Die Endometriose hatte und dadurch chronische Schmerzen, die sie mit den Tabletten bekämpfen wollte, die aber auch eine beliebte Lehrerin war, sozial, liebenswürdig und offen, und sich so sehr eine eigene Familie mit Partner und Kindern gewünscht hat, wozu es aber nicht mehr kam. Dann die jüngste, Lucky, die als Teenager die High School abgebrochen hat, um eine erfolgreiche, aber problematische Karriere als Model zu starten, und die ebenfalls ein Suchtproblem hat.

In der Zeit ein Jahr nach Nickys Tod, aus der die meisten Szenen geschrieben sind, ist Avery 33 Jahre alt, Bonnie Anfang 30, und die beiden jüngsten in den 20ern. Die drei verbliebenen Schwestern trauern um Nicky, und das bringt manche Probleme, die sie auch davor schon in ihren Leben hatten, noch stärker zum Vorschein, bietet aber auch Gelegenheiten, wieder mehr miteinander in Kontakt zu kommen.

Dann gibt es noch die Eltern, die im Buch überraschend blass bleiben und nur gelegentlich in Erwähnungen oder kurzen Nebenszenen vorkommen.

Wir erleben das Buch - nach einer kurzen allgemeinen Vorstellung aller vier Schwestern und deren Charakteristika aus der Erzählerperspektive am Anfang - beim Lesen abwechselnd aus den Perspektiven der drei überlebenden Schwestern Avery, Bonnie und Lucky, während die verstorbene Nicky nur aus der Außenperspektive geschildert wird.

Wie schon im vorigen Absatz beschrieben, ist es den Schwestern überwiegend gelungen, jeweils extrem erfolgreiche Karrieren in ihrem Feld zu erreichen, trotz aller Probleme und Schwierigkeiten. Leistungsorientierung, Disziplin und Leidensfähigkeit sind wohl leitende Prinzipien in dieser Familie, und es scheint sich um extrem talentierte junge Frauen zu haben, die auch noch so viel Glück und passende Umstände haben, dass es mit den Karrieren klappt. Den "normalsten" Job, den als Lehrerin, hatte noch die verstorbene Nicky.

Gleichzeitig ist die Familie überschattet vom Thema Sucht, sowohl nach Alkohol als auch nach diversen Drogen und Tabletten sowie problematischem Sexualverhalten, und fast alle Schwestern kämpfen immer wieder mit einem großen Suchtproblem, das wohl auch schon mindestens den Vater und seine Herkunftslinie betroffen hat und sich durch das ganze Buch zieht. Dieses Thema nimmt auch insgesamt im Buch einen sehr großen Raum ein, einen größeren, als mir persönlich beim Lesen gut gefallen hat.

Es gab viele Szenen im Buch, die ich sehr mochte: insbesondere die, bei denen ich die Schwestern mit ihren individuellen Eigenschaften und in Beziehungen mit anderen Menschen oder miteinander näher kennen lernen konnte. Diese Teile hatten für mich Authentizität und Tiefe, die verschiedenen Persönlichkeiten kamen klar hervor, und sie waren spannend zu lesen. Gleichzeitig gab es aber auch immer wieder Stellen, die mich gelangweilt bis verärgert haben, in denen seitenweise Suchtverhalten in diversen Bars und Lokalen geschildert wurde, und die ich dann nur noch überflogen habe, um hoffentlich bald wieder zu einer interessanteren Stelle - von der es im grundsätzlich guten Buch ja viele gibt - zu kommen.

Insgesamt ist es ein Buch, das mir sehr gut gefallen hat und das auch emotional noch lange nachwirken wird. Ich finde es schön, wie differenziert die Beziehungen zwischen den Schwestern dargestellt werden und wie klar herauskommt, wie ambivalent und vielschichtig diese sein können und welche Elemente - etwa das gemeinsame Aufwachsen mit den gleichen Eltern und die Rollen, die das mit sich bringt, die ähnliche Prägung durch die Familie, die aber dann doch manches zwar vordergründig ähnlich aussehen lässt, aber die Schwestern in vielen Bereichen, kombiniert mit ihrer unterschiedlichen Persönlichkeit, wiederum doch in ganz verschiedene Richtungen gehen lässt - dazu beitragen, dass diese Beziehungen nochmal wesentlich anders sind als einfach Freundschaften zwischen Frauen. Ich habe selbst zwei Schwestern und habe so einiges wiedererkannt. Mir hat es auch gefallen, ein Buch speziell über Geschwisterbeziehungen zu lesen.

Wenn also das Suchtthema nicht dermaßen dominant und ausgebreitet worden wäre, dann wäre es für mich ein 5-Sterne-Buch. So gibt es einen Punkt Abzug dafür, insbesondere für die gefühlt zu starke Wiederholung der immer ähnlichen Suchtszenen, die ich bei Wiederholung gar nicht mehr gerne gelesen habe und die meiner Meinung nach auch nicht unbedingt dermaßen viel Raum einnehmen hätten müssen, um die grundlegende Botschaft des Buches, wie sehr diese Familie davon überschattet ist, rüberzubringen. Stattdessen hätte es mir gefallen, wenn die Beziehung zu den Eltern noch mehr Raum im Buch gekommen hätte - eine kurze Szene zwischen Avery und der Mutter ziemlich am Ende zeigt, dass dafür durchaus Potential gewesen wäre und das Buch und auch der Blick auf die vier Schwestern davon noch mehr bereichert werden hätte können.

Ich empfehle das Buch allen, die sich für Geschwisterbeziehungen, insbesondere solche zwischen Schwestern, interessieren, und die kein Problem damit haben, dass es trotz aller auch humorvollen Szenen und gelegentlicher schöner Momente über weite Teile auch ein sehr trauriges Buch ist.

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