Nancys Entscheidung
Marie Benedict widmet den 6. Band ihrer erfolgreichen Buchreihe „Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte“ den schillernden Mitford-Schwestern. Zwischen den beiden Weltkriegen waren die sechs exzentrischen ...
Marie Benedict widmet den 6. Band ihrer erfolgreichen Buchreihe „Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte“ den schillernden Mitford-Schwestern. Zwischen den beiden Weltkriegen waren die sechs exzentrischen Töchter von David Freeman-Mitford, dem 2. Lord Redesdale, das skandalöse Zentrum der britischen High Society. Verwandt oder bekannt mit fast allen einflussreichen Größen der damaligen Gesellschaft nahmen sie keinerlei Rücksicht auf Konventionen. Heute wären sie wohl It-Girls oder Influencer. Der Roman umfasst neun Jahre aus dem Leben der Schwester, von 1932 bis 1941.
Zunächst lernen wir die drei älteren Geschwister Nancy, Diana und Unity kennen, die auch das ansprechende Cover zieren. Alle drei befinden sich in einer Umbruchsituation. Diana trennt sich gerade vom millionenschweren Guinness-Erben Bryan, um ganz offiziell als Geliebte des verheirateten englischen Faschistenführers Oswald Mosley zu leben. Nancy wird von ihrem Langzeitverlobten Hamish verlassen, den Diana zu diesem Schritt gezwungen hat. Die Debütantin Unity entdeckt den Faschismus für sich, was dramatische Folgen nach sich ziehen wird. Sie übersiedelt nach Deutschland, um akribisch Hitlers Leben in München zu verfolgen. Mit Strategie und Beharrlichkeit gelingt es ihr nicht nur den Führer kennenzulernen, nein, sie steigt in seinen engsten Kreis auf. Ihre zunehmende Faszination für Hitler bis hin zur Besessenheit verursachte Gänsehaut bei mir. Ähnlich ging es mir mit Dianas Hörigkeit gegenüber Mosley. Eine schöne, selbstbewusste Frau, die alles hat, erträgt jede Erniedrigung, um sich die Gunst ihres Lovers zu bewahren. Sie nutzt Unity und deren Nazifreunde skrupellos aus, um Mosleys Macht in Englands faschistischer Partei zu festigen und ihn so an sich zu binden. Um dieses Ziel zu erreichen, schreckt sie vor nichts zurück. Nancy lebt zunächst ein für ihre Gesellschaftsschicht typisches Leben und hat erste Erfolge als Schriftstellerin. Fatal wird für sie ihr Pech mit Männern, das zeitlebens anhält. Mit zunehmender Sorge beobachtet sie das Treiben ihrer Schwestern, da sie ahnt, dass es zum Krieg kommen wird. Im Lauf der Zeit sympathisieren immer mehr Mitfords mit den deutschen Faschisten, außer ihrer Schwester Jessica. Winston Churchill, der mit Nancys Cousine verheiratet ist und Nancys Zweifel spürt, appelliert an ihre Vaterlandsliebe.
Mit Eintritt Englands in den Krieg eskaliert die Lage. Unity unternimmt einen Selbstmordversuch in München, auf den Diana eher verärgert als mitfühlend reagiert. Nancy überwindet ihre Skrupel und spioniert undercover für Churchill. Sie schätzt Diana inzwischen als echte Gefahr für ihr Land ein. 1940 wird Mosleys Partei BUF verboten, ein Jahr später werden Diana und er interniert.
Die Idee, die einzelnen Kapitel jeweils aus der Sicht einer der Schwestern zu schildern, erweist sich als genial. Durch den Perspektivenwechsel fällt es leichter in die Geschichte hineinzufinden. Dabei ist Nancy die Haupterzählerin. Nur ihre Kapitel sind aus der Ich-Perspektive geschrieben. Der anschauliche, gute Schreibstil und die kurzen Kapitel erlauben ungestörtes Lesen. Benedict gelingt es mühelos, ihre Leser zu fesseln. Sie zeigt glaubhaft, wie sich ihre Hauptcharaktere entwickeln.
Ich finde es faszinierend, wie unterschiedlich die Schwestern waren. Schade, dass die jüngeren selten erwähnt werden. Gerade Jessica, die sich als überzeugte Kommunistin politisch sehr von ihren Schwestern unterschied und in die USA auswanderte, hätte ich mehr Raum gewünscht. Die Haltung der Eltern war für mich nicht nachvollziehbar. Der Vater entwickelt sich vom „Hunnenhasser“ zum Fürsprecher für Hitler im House of Lords. Die Mutter wird zur glühenden Nazianhängerin. Für meinen Geschmack fällt das Nachwort zu knapp aus. Ich hätte gern mehr Informationen darüber gehabt, was an dem Roman fiktiv ist, gerade, weil schon die reale Geschichte so unglaublich anmutet.
Während des Lesens habe ich mich immer wieder gefragt, wie diese gutsituierten, wohlhabenden Frauen in den Bann derart radikaler politischen Ansichten geraten konnten. Können wir daraus Schlüsse für die aktuelle politische Situation ziehen? Nicht die Altnazis und Skinheads sind die größte Gefahr für unsere Demokratie. Eher die Dianas und Unitys unserer Zeit und ihre männlichen Pendants.
Ich empfinde diesen Band nicht als den besten der erfolgreichen Reihe. Trotzdem ist er, besonders für Geschichtsinteressierte, sehr lesenswert. Ich gebe gute 4 von 5 möglichen Sternen.