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Veröffentlicht am 09.09.2024

Rückzug aus dem Leben

In den Wald
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Eines Tages verschwand Silvia spurlos, nachdem sie in die Zeitung geschaut hatte. Darin war vom Tod ihrer Schülerin Giovanna zu lesen. Mit knapp zwölf Jahren war die vom Leben in der Pubertät überfordert ...

Eines Tages verschwand Silvia spurlos, nachdem sie in die Zeitung geschaut hatte. Darin war vom Tod ihrer Schülerin Giovanna zu lesen. Mit knapp zwölf Jahren war die vom Leben in der Pubertät überfordert gewesen.
„Giovanna fühlte sich, als hätte sie jemand reingelegt. Sie hatte nicht absichtlich angefangen zu wachsen; getrieben, versuchte sie, sich im Gleichgewicht zu halten, es war nicht ihre Schuld, wenn sie stolperte. An einem Tag steckte sie sich eine Kippe in den Mund, am nächsten fügte sie sich folgsam dem Nachhilfeunterricht der Lehrerin“ (Seite 41)
Silvia hatte sich dem Mädchen besonders angenommen, fühlte sich jetzt jedoch schuldig. Während die Menschen aus ihrem Heimatdorf sie erfolglos suchten,
„tat sie gar nichts, sie blieb sogar völlig reglos, sie verwandelte sich langsam in eine Pflanze, ein Stück Wald.“ (Seite 107)
Als Martino, ein aus Turin zugezogener Junge sie zufällig fand, bat sie ihn, nichts zu verraten und brachte ihn damit in schwere Gewissenskonflikte.


Der Blick ins Innenleben der Protagonisten ist die Stärke dieses ungewöhnlichen, in Piemont spielenden Debüts. Wie die Autorin am Ende anmerkt, hat sie sich von realen Geschehnissen inspirieren lassen.

Für mich war es ein ungewohntes Leseerlebnis. Die kurzen Kapitel erleichterten und erschwerten das Lesen gleichzeitig, da sie mich jedes mal in andere Situationen warfen. Doch ebenso schnell stellte sich die neuerliche Orientierung wieder ein. Die bildhafte Sprache ließ mich die Gefühle der Personen nachvollziehen und baute gleichzeitig eine diffuse Spannung auf, die es mir schwer machte, das Buch zur Seite zu legen.

Fazit: Ein Buch, das einen guten Einblick in die Köpfe von Menschen gibt, die besonderen Belastungen ausgesetzt sind und Familienbeziehungen beleuchtet. Für Leser, die neben der Natur eine poetische Sprache lieben!

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Veröffentlicht am 06.09.2024

Frauenleben in Afghanistan

Hinter dem Regenbogen
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Kürzlich hat mir eine junge afghanische Frau – sie war gerade mit ihrem ersten Kind schwanger – gesagt, dass sie sich vorstellen könnte, in ihre Heimat zurückzukehren. Aber nur, wenn sie einen Sohn bekäme. ...

Kürzlich hat mir eine junge afghanische Frau – sie war gerade mit ihrem ersten Kind schwanger – gesagt, dass sie sich vorstellen könnte, in ihre Heimat zurückzukehren. Aber nur, wenn sie einen Sohn bekäme. Verstanden habe ich diese Aussage nicht.

Doch nach der Lektüre dieses Buches hat sich meine Sicht auf das Leben in Afghanistan etwas geklärt. Denn ebenso wie Jenny Nordberg in ihrem 2015 erschienenen Reportage-Buch „Afghanistans verborgene Töchter“ erzählt Nadia Hashimi in ihrem Roman von „basha posh“. Das sind Mädchen, die von ihren Eltern als Jungen verkleidet werden, weil ihnen kein Sohn geboren wurde. Nur Jungen dürfen sich frei auf der Straße bewegen, können regelmäßig in die Schule gehen und das tun, was ihnen gefällt. Die Mädchen dagegen haben sittsam zu Hause zu sitzen, ihren Mund zu halten und der Mutter zu helfen, die traditionsgemäß das Eigentum des Mannes ist, der allein das Recht hat, über ihr Leben zu entscheiden.

Wenn man diesen Roman liest, könnte man der Meinung sein, dass dies die amerikanische Sicht auf das Land am Hindukusch ist. Denn die Autorin hat zwar einen arabisch klingenden Namen, kam aber im Dezember 1977 als Tochter afghanischer Eltern in den USA zur Welt. Mit 25 Jahren reiste sie das erste Mal in das Heimatland ihrer Eltern. Das hat die Kinderärztin auch zu diesem, ihrem Debütroman veranlasst. Inzwischen sind von ihr drei internationale Beststeller erschienen.

Sobald man sich mit der afghanischen Kultur näher beschäftigt, wird klar, dass viele Frauen dort auch heute wie vor hundert Jahren leben. Eben so, wie es hier in diesem Buch beschrieben wird. Dabei werden zwei Frauen abwechselnd betrachtet: einmal wird von Shekiba erzählt, die, nachdem ihre Eltern und Geschwister gestorben waren, durch ihre Verwandten aller Rechte beraubt wurde. Sie war die Ur-ur-Großmutter von Rahima, die selbst von ihrem Leben erzählt. Wir erfahren, weshalb sie zum „bacha posh“ gemacht wurde und wie frei sie bis zu ihrer viel zu früher Heirat aufwachsen durfte.

Fazit: Das Buch ist eine niederschmetternde Reise in eine fremde Kultur. Vor meinen Augen hat sich ein Bild von einem Land entwickelt, in dem Frauen nichts zu sagen haben. Nicht nachvollziehbar war für mich, dass Männer immer noch mehrere Frauen haben dürfen, die als primäre Aufgabe haben, möglichst viele Jungen zu gebären. Nur wenige Frauen sind in der Lage, für sich selbst zu kämpfen.
Ich habe das Buch mit großem Interesse gelesen, auch wenn mich der Schreibstil nicht sehr angesprochen hat. Aber das könnte auch an der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Rainer Schumacher liegen.

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Veröffentlicht am 26.10.2024

Blick ins ländliche Kärnten

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht
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Mit diesem ungewöhnlich langen Titel ist Julia Josts (*1982) Debütroman auf der Shortlist des österreichischen Buchpreiseses 2024 gelandet. In wenigen Wochen wird sich herausstellen, ob es zum Debütpreis ...

Mit diesem ungewöhnlich langen Titel ist Julia Josts (*1982) Debütroman auf der Shortlist des österreichischen Buchpreiseses 2024 gelandet. In wenigen Wochen wird sich herausstellen, ob es zum Debütpreis 2024 reichen wird. Als Vielleserin interessierte mich natürlich, wovon dieses Buch handelt.

Zuerst habe ich mich allerdings gefragt, wo eigentlich die in diesem ewig langen Titel erwähnten Karawanken liegen. Das Internet präsentierte mir beeindruckende Bilder von dem Gebirgszug an der Grenze zwischen Österreich und Slowenien. Beim Lesen kam später klar heraus, dass die Geschichte in Kärnten spielt.

Die ersten Seiten begeisterten mich ob der bildhaften Sprache: „Man sieht Jagdhunde im Dreisprung über den frisch gepflügten Acker einem Fasan nachsabbern“ oder „du vernimmst das heilige Trommeln eines Spechts und siehst ein Rehkitz auf seinen Stelzenbeinen hechten“ sowie „Bienen mäandern unter dem Gewicht der Blütenstaublast über die Felder wie Betrunkene“. Doch die Begeisterung ließ bald nach: Der Roman besteht aus vielen verschiedenen Geschichtchen, die einem Mädchen durch den Kopf gehen, das unter einem Lastwagen heraus dem Umzug seiner Familie zuschaut.

Diese Erinnerungen sind wie die Bergsilhouette: Mal in leuchtendem Licht, mal im dunklen Tal. Durch die beliebig angeordneten Episoden ergeben sie keinen Roman, in den man sich fallen lassen könnte. Die Autorin erzählt in dieser Welt zwischen Beichtstuhl und Stammtisch von menschlichen Abgründen und von einem Mädchen, das viel lieber ein Junge wäre. Seine Mutter strebt nach mehr, nicht erst, seit der Vater durch einen unerwarteten Deal zu viel Geld gekommen ist. Sie kauft alles ein, was ihr gefällt, so dass der Platz im ererbten Hof nicht mehr ausreicht und dieser Umzug nötig geworden ist.

Das Buch zu lesen war für mich harte Arbeit. Nicht nur, weil die Sprache oft nicht zu der Elfjährigen passt, die als Erzählerin fungiert. Sondern auch, weil unter anderem bis zum Umfallen gesoffen wird, um Widrigkeiten zu vergessen. Zum Glück lockern Seiten, die einen zum Schmunzeln bringen, die Schwere auch mal auf.

Die Personenbeschreibungen sind gelungen und ein Unfall, bei dem ein Kind ums Leben kam, bleibt im Gedächtnis. Doch vieles andere verschwindet in den Tiefen des Vergessens, trotz des lebendig erzählten Dorflebens.

Im Nachhinein kann ich für mich sagen, dass mir stringent erzählte Romane, ohne so viele Umwege und Nebengassen, besser gefallen. Aber vielleicht soll das zeigen, dass sich Literatur weiterentwickelt – ohne Rücksicht auf die Leser.


Fazit: Das Buch zu lesen hat mir wenig Freude geschenkt.

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Veröffentlicht am 11.10.2024

Zwischen Lebensfreude und Todessehnsucht

Honey
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Honey ist 82 und will ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erleben. Zu viel hat sie im Laufe ihres Lebens schon durchgemacht. Der letzte Tiefschlag war der Tod ihres Freundes, dessen Heiratsantrag sie ...

Honey ist 82 und will ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erleben. Zu viel hat sie im Laufe ihres Lebens schon durchgemacht. Der letzte Tiefschlag war der Tod ihres Freundes, dessen Heiratsantrag sie nicht mehr annehmen konnte, weil sein Tod ihre Zusage verhinderte.
In diesem Buch darf ich die dekadente Frau durch ihre Erinnerungen an ein ausgefülltes Leben begleiten. Die sind so liebevoll beschrieben, dass sie schnell mein Herz erobert – egal, ob sie über gewesene oder derzeitige Liebesbeziehungen nachdenkt oder alltägliche Begegnungen. Natürlich gab es auch dunkle Seiten in ihrem Leben. Ihr erstes und einziges Kind durfte sie nicht aufwachsen sehen, ihre Familie hatte und hat zu rigorose Vorstellungen, wie alles zu laufen habe.
Nun geht es darum, ihre Besitztümer an die Erben zu verteilen und das ist keine leichte Aufgabe:

„Honey war in einem Spiegelkabinett aufgewachsen, das ihrem Gedächtnis Streiche spielte.“

„Vom Selbstmord zum Rumpfbeugen. Vom existenziellen schwarzen Schleier zum blassrosa Gymnastikanzug. Aber sie war nicht immer so gewesen – kapriziös, überspannt, eitel bis ins Mark.“

In der Familie galt sie als >Persona non grata<, weshalb sie sich eher auf andere Kontakte konzentriert. Zum Beispiel einen jungen Maler und ihre Nachbarin; die sie abwechselnd mag und ablehnt. Der will sie ihr Mantra nahebringen:
„Man muss stark sein, um zu leben, und noch viel stärker, um zu sterben.“


Der 1968 geborene, amerikanische Dramatiker Victor Lodato hat nach eigener Aussage lange gebraucht, um diese Geschichte zu Papier zu bringen. Er hat das Buch in sechs Teile geteilt und viele unterschiedliche Aspekte des Lebens aufgegriffen. Der zu Beginn noch recht humorvolle Stil ändert sich leider im Laufe des Buches. Zumindest mir ging ab dem vierten Teil die anfängliche Freude verloren. Die Räubergeschichte hat meine Begeisterung für dieses Buch zerstört. Und die folgenden Kapitel erzählen für meinen Geschmack zu viel. Doch das muss jeder selbst erkunden.

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Veröffentlicht am 21.09.2024

Familiengeschichte aus Indien

Der Gott der kleinen Dinge
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Nachdem mir vor Jahren >Das Ministerium des äußersten Glücks< von Arundhati Roy sehr gut gefallen hatte, wollte ich unbedingt ihr Debüt lesen, das ebenfalls von vielen Lesern für gut befunden wurde. Doch ...

Nachdem mir vor Jahren >Das Ministerium des äußersten Glücks< von Arundhati Roy sehr gut gefallen hatte, wollte ich unbedingt ihr Debüt lesen, das ebenfalls von vielen Lesern für gut befunden wurde. Doch die Autorin hat es mir nicht leicht gemacht. Zu viele Zeitsprünge, Ausschmückungen und dadurch entstandene Längen erschwerten mir das Lesen. Die Struktur der gesamten Textes erinnerte mich an ein in sich verschlungenes Paisley-Muster.

Lange war mir nicht klar, worum es in der Geschichte geht, die um 1970 im ländlichen Indien spielt. Esthappen und Rahel sind zweieiige Zwillinge einer geschiedenen Mutter. Sie leben im Haus der Großmutter, ebenso wie ihr ebenfalls geschiedener Onkel Chacko. Sie bekommen Besuch von dessen, zum zweiten Mal verheirateten, englischen Exfrau und seiner Tochter Sophie Mol. Die ist mit ihren acht Jahren gerade mal ein wenig älter als ihr Cousin und die Cousine. Nachdem ein schrecklicher Unfall passiert ist, wird Esta zu seinem Vater geschickt („zurückgegeben“). Nun müssen die bisher unzertrennlichen Zwillinge die nächsten 23 Jahre ohne einander auskommen. Dieses Buch erzählt die gesamte Familiengeschichte; ehe zum Schluss klar wird, wie das Unglück zustande kam.

Auffallend ist die Lust der Autorin am Fabulieren:

„Nachdem die Stille erst einmal da war, blieb sie und breitete sich in Esta aus. Sie wucherte aus seinem Kopf heraus und nahm ihn in ihre morastigen Arme. Sie sandte ihre unsichtbaren mit Saugnäpfen versehenen Tentakeln in seinem Gehirn aus, wo sie die Kuppen und Täler seines Gedächtnisses absaugten, als Sätze entfernten, sie von seiner Zungenspitze fegte.“ (Seite 21)

Um die Fremdheit in Indien zu begreifen, sind zwar Erklärungen zum Verständnis von Land und Leuten unumgänglich, forderten mich als Leserin aber gewaltig heraus. Zu leicht verlor ich zwischendurch den Faden, weil die Autorin vom Hundertsten ins Tausendste kam. Die Personen blieben mir sehr lange merkwürdig fremd, so manches konnte ich nicht nachvollziehen.

Doch es gab auch Abschnitte, die mich fesselten und am Aufgeben hinderten. Ich lasse mich von meiner Lektüre gerne in fremde Länder mitnehmen und gerade Indien zeigte mir mit seinem Kastendenken, Aberglauben und seinen verschiedenen Göttern eine Welt, die mich fasziniert. Auch der immer wieder aufblitzende Humor der Autorin gefiel mir. Doch endgültig für sich eingenommen hat mich das ergreifende Ende des Buches. Das hat bewiesen, dass sich das Durchhalten gelohnt hat. Es trieb mir vor Entsetzen und Wut Tränen in die Augen.

Fazit: ein Buch für geduldige Leser, die an Längen nicht scheitern.

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