Es ist kompliziert...
Dass alles kompliziert sein kann, macht "Anti-Christie" bewusst: Raum und Zeit, Idenitität, Geschichtsschreibung, Religion, Widerstand, freundschaftliche und familiäre Beziehung usw.: nichts ...
Dass alles kompliziert sein kann, macht "Anti-Christie" bewusst: Raum und Zeit, Idenitität, Geschichtsschreibung, Religion, Widerstand, freundschaftliche und familiäre Beziehung usw.: nichts ist eindeutig, alles weist verschiedene Facetten auf und muss aus unterschiedlichen Blickwinkeln hinterfragt werden. Aus diesem Grund war ich bei der Lektüre ziemlich gefordert, zumal vieles an geschichtlichen Fakten unbekannt war, eine Vielzahl von Protagonisten auftritt und der Roman zwischen verschiednen Zeitebenen hin und herspringt.
Hauptfigur ist "Anti-Christie" ist Durga, die als Tochter eines Inders und einer Deutschen im Deutschland aufgewachsen ist. Nun arbeitet sie in London an einer entkolonialisierten Neuverfilmung von Agatha Christie mit. Währenddessen fällt sie plötzlich aus der Zeit und findet sich im Jahr 1906 unter indischen Revoluzzionären wieder, welche zu dieser Zeit im India House in London lebten und den Widerstand gegen die britische Kolonialmacht vorbereiteten. Doch Durga ist nicht mehr Durga sondern Sanjeev, sodass sie Geschlecht, Alter und kulturellen Hintergrund komplett gewechselt hat. Ebenso wie der Leser weiß Sanjeev/Durga wenig über seine Geschichte und erfährt viel Neues über den Ablauf der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Dabei zeigt sich, dass die Geschichtsschreibung häufig subjektiv ist und sich die Vergangenheit aktiv gestalten oder verändern lässt, je nachdem wie man sie erzählt. Zugleich debattiert die Autorin, wie gewaltfrei ein Widerstand gegen das vorherrschende Regime sein kann oder darf, um zu Unabhängigkeit zu gelangen. Es zeigt sich also, dass "Anti-Christie" auf vielen Ebenen wichtige gesellschaftliche, politische und soziale Fragen aufwirft, was den Roman sehr komplex und kompliziert macht.
So manches Mal habe ich mit mir gehadert, ob ich weiterlesen will oder nicht, da aufgrund des verwirrenden Plots und der Fülle an Informationen und Personen das Buch eine wirkliche Herausforderung war. Ich hatte oft Schwierigkeiten, die verschiedenen Personen in India House auseinanderzuhalten und hatte oft das Gefühl, Szenen oder Anspielungen nicht zu verstehen, weil mir die historishen Hintergrundinformationen fehlen. Da die Autorin aber wirklich gut und unterhaltsam mit Wortwitz schreiben kann und der Roman selbst bei kontroversen Fragen z.B. zu Religion oder Identität nicht dogmatisch wirkt, bin ich dran geblieben und habe es als zusätzlichen Vorteil gesehen, dass ich so einiges über die Geschichte der kolonialen Verbindung zwischen England und Indien dazulernen konnte, was so nicht in den Geschichtsbüchern steht. Selbst die Autorin hat in einem Interview erzählt, dass sie viele Fakten bei der Recherche überrascht haben. Dadurch regt der Roman auf jeden Fall zum Nachdenken an und man hinterfragt sein westliches Geschichtsbild, das so viel anderes ausblendet.
Was mich jedoch gestört hat, ist, dass durch die Zeitreise von Sanjeev/Durga ein wenig der rote Faden verloren gegangen ist und Unplausibilitäten oft einfach durch den Umstand der Zeitreise erklärt worden sind. Wenn Sanjeev/Durga etwas nicht verstanden hat, sind ihm/ihr manchmal plötzlich Gedanken in den Kopf gekommen, die das Geschehen dann erklären konnten und Sanjeev/Durga wusste selbst nicht, woher dieses versteckte Wissen kam. In solchen Szenen hatte ich das Gefühl, die Autorin macht es sich etwas einfach, um möglichst viele Informationen und Handlungsstränge in den Roman einbringen zu können und ja kein Detail unerwähnt zu lassen.
Im Großen und Ganzen war die Lektüre kein absoluter Spaß, sondern eher eine komplizierte Angelegeheit. Da man aber viel dazulernt, kritisch reflektiert und die Autorin auch wirklich gut schreiben kann, sollte man sich trotz aller Widerstände an den Roman wagen und nicht total "anti" sein.