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Veröffentlicht am 20.11.2024

Das Leben der kurdischen Minderheit

Zweistromland
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Dilan und Johan leben in Istanbul. Er wollte nicht nach Schweden zurück und so folgte er Dilan in die Türkei. Obwohl sich die Sprachlosigkeit zwischen sie geschlichen hat, erwarten sie ein Kind. Dilan ...

Dilan und Johan leben in Istanbul. Er wollte nicht nach Schweden zurück und so folgte er Dilan in die Türkei. Obwohl sich die Sprachlosigkeit zwischen sie geschlichen hat, erwarten sie ein Kind. Dilan fährt alleine zur Beisetzung ihrer Mutter nach Deutschland, vor allem um ihrem Vater beizustehen. Bei der Beerdigung taucht eine Frau auf, die Dilan nie zuvor gesehen zu haben glaubt, aber die Ähnlichkeit mit ihrem Vater ist unverkennbar. Als diese Frau anfängt abfällig über Dilans Mutter zu sprechen, möchte Dilan ihr das Glas Wein ins Gesicht schütten, das sie fest umklammert. Die Frau behauptet tatsächlich die Schwester Dilans Vater zu sein und dass sie an Dilans Bett gewacht habe, als die nach einem Unfall mehrere Monate im Koma gelegen habe.

Zurück in Istanbul verbringt Dilan die Abende und fast jede Nacht allein in ihrem Bett, weil Johan jetzt häufiger fern bleibt. Sie arbeitet in einiger Enfernung von Zuhause am Taksim Platz in einer Kanzlei für Wirtschaftsrecht. Ihre Kolleginnen sind hier, ganz anders als in ihrem Stadtteil, europäisch gekleidet. Dilan arbeitet gewissenhaft ihre Fälle durch, die Arbeit gefällt ihr. Doch dann bekommt sie eine Akte auf den Tisch, deren Bearbeitung sie viel Zeit kosten wird. Spontan verlässt Dilan das Gebäude und läuft durch die Stadt. Sie denkt an ihre Eltern, was weiß sie eigentlich über sie. Sie steigt in einen Bus, der nach Dijarbakir fährt, den kurdischen Teil der Türkei nahe Syrien und folgt den Spuren ihrer Eltern.

Fazit: Beliban zu Stolberg erzählt über das Leben der kurdischen Minderheit in der Türkei. Sie findet Worte darüber was verboten ist und welches Verhalten mit Folter geahndet wird. Die Geschichte ist durchgehend melancholisch, die Kindheit der Protagonistin voller Geheimnisse. Selbst in Deutschland lebend legen die Eltern die kurdische Sprache ab. Nur heimlich und wenn Dilan nicht verstehen soll wird kurdisch gesprochen. Niemand bringt ihr die Sprache bei, als sei Herkunft und Kultur ausgelöscht. Dabei hatte damals alles so gut angefangen. Beide Elternteile haben studiert und sich verliebt. Die Mutter hat sich für Aufklärung engagiert. Ganz kurz lässt die Autorin auf zwei späten Seiten aufblitzen, was Menschen passierte, die nicht ins System passen und dabei wird klar, dass das ihrer Mutter passiert ist. Eine tragische und wichtige Geschichte, die Menschen eine Stimme gibt, die niemand hören will, aber leider hat sie mich emotional nicht erreicht.

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Veröffentlicht am 29.10.2024

Spritzige neue Literatur

Schwindel
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Ava ist die junge queere Frau, die früh von ihrem Vater verlassen wurde. Sie wuchs bei ihrer Mutter auf und lebt mittlerweile allein in einer Hochhaussiedlung. Gerade ist ihr Date Robin bei ihr, die aus ...

Ava ist die junge queere Frau, die früh von ihrem Vater verlassen wurde. Sie wuchs bei ihrer Mutter auf und lebt mittlerweile allein in einer Hochhaussiedlung. Gerade ist ihr Date Robin bei ihr, die aus Avas Sicht ihre Langzeitbeziehung vorschiebt. Obwohl Ava sich mehr Nähe von Robin wünscht, macht sie die emotionale Distanz auch irgendwie an und so nimmt sie sich von Robins Körper, was sie kriegen kann.

Als es an der Tür klingelt, haben Ava und Robin es sich bequem gemacht. Die erste Tüte ist inhaliert, die zweite in Arbeit. Die Sprechanlage kündigt Delia an. Mit Delia hat Ava eine wirklich gute Zeit erlebt, bis sie Delias Trägheit nicht mehr ertragen hat. Delia dagegen hängt immer noch an Ava, weil sie die erste ist, die Delia in ihrem transgender Körper nicht abstoßend fand. Die erste, bei der Delia loslassen konnte und sich traute eigene Fantasien ins Spiel zu bringen.

Als Ava den Türöffner drückt ist sie wenig später mehr als irritiert, dass hinter Delias Rücken Silvia erscheint. Silvia ist die queere MILF, die den Schwimmkurs geleitet hat, den Ava wegen ihres Rückenleidens aufgesucht hatte. Delia glaubt ihr Handy bei Ava vergessen zu haben und Silvia will reden. Immer wollen alle zum Schluss reden, dabei sollte doch eigentlich alles klar sein. Ava reagiert nicht mehr auf Silvias Nachrichten, vermeidet die Orte, an denen die sich aufhält. Warum sollte Ava ihr sagen, dass Silvia sie einfach nicht mehr so angeturnt hat, davon abgesehen, dass Silvia Avas Mutter sein könnte.

Robin, Delia und Silvia beschnüffeln sich argwöhnisch in Avas Diele. Ava, außen vor, spürt, wie sich ihre Atmung verstärkt, legt eine Kehrtwende hin und rennt mit fliegender Jogginghose auf das Dach des Wohnhauses. Die anderen rasen behände hinterher, öffnen die Tür und finden sich auf dem menschenleeren Dach. Die Tür fällt mit einem Scheppern ins Schloss und alle wissen instinktiv, dass sie jetzt verriegelt ist.

Fazit: Hengameh Yaghoobifarah hat vier Menschen gezeichnet, die mir einen intensiven Einblick in ihre Gefühlswelt verschaffen. Alle außer Ava erleben sich als Außenseiterinnen. Ich erfahre viel über ihre Vergangenheit und die Erfahrungen, die sie gemacht haben und ihre Kompensierungsversuche. Die burschikose Robin mit der großen Klappe, die sich für eine Powerlesbe hält. Die schwermütige Delia, die ihren Alltag am besten stoned erträgt. Silvia, die sich nicht immer zu Frauen hingezogen fühlte, sich mittlerweile gefunden hat und das mit ihrem Bohemian style zu unterstreichen weiß und Ava, die Angst vor zu intensiver Nähe hat, obwohl sie sich nichts mehr wünscht, aber da sind so viele andere Mütter mit interessanten Töchtern. Es geht um Körperlichkeit, das Recht, sich in seiner Haut wohlzufühlen, das Recht zu Begehren, um Zugehörigkeit und das Aushalten von Nähe. Die Autorin gendert rigoros und ich durfte – allen Unkenrufen zum Trotz -erleben, wie schnell ich mich daran gewöhnt habe. Alle Sichtweisen sind in korrekter Grammatik geschrieben, außer Delias, hier hat sich die Autorin für ausschließliche Kleinschreibung entschieden. Vielleicht um zu unterstreichen, wie klein sie sich fühlt und macht. Schreibstil und Idee haben mir gut gefallen. Ich muss gestehen, dass ich die Kommunikation und die Hysterie überzogen und etwas nervig fand. Das mag jedoch an mir liegen, meiner Welt, meiner Sichtweise, meinen Konventionen, die ich vielleicht nicht so gerne verlasse, wie ich mir das manchmal einrede.

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Veröffentlicht am 14.10.2024

Subtile Machtspiele

Das Institut
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Thyl Osterholz hat sein Biologiestudium hinter sich und ist unschlüssig, was er als nächstes machen soll. Er bewirbt sich für einen Aushilfsjob am Institut für Soziales. Der Institutsleiter Lavetz sieht ...

Thyl Osterholz hat sein Biologiestudium hinter sich und ist unschlüssig, was er als nächstes machen soll. Er bewirbt sich für einen Aushilfsjob am Institut für Soziales. Der Institutsleiter Lavetz sieht vor, dass Thyl eine kleine Aufgabe in Seymours Abteilung übernimmt. Thyl wird markierte Zeitungsartikel in fünf Stichworten in vorgedruckten Formularen zusammenfassen. Ein Computer ermittelt dann, welche gesellschaftspolitischen Diskussionen wichtig werden.

Schon nach kurzer Zeit soll Thyl die Tagung zum Thema Fettsucht organisieren und gezielt Fachleute zu bestimmten Fragestellungen hinzuziehen. Inwiefern beeinflusst die Convenience Food Industrie Übergewicht und inwieweit profitieren Pharmaindustrien von den Adipositas begleitenden Krankheiten wie Herz-Kreislauf und Diabetes?

Seine Lebensgefährtin Isabelle versteht Thyl nicht, warum er sich keine richtige Arbeit wie eine Dozententätigkeit sucht. Wie so oft fühlt Thyl sich bevormundet. Sie treffen sich regelmäßig zum Abendessen bei seinem besten Freund Serge und dessen Frau Fania. Serges Vater hatte damals Thyls Vater, der Direktor der örtlichen Keramik Manufaktur gewesen war, vom Thron gestoßen. Sie mussten aus der Villa ausziehen und das Feld den Martons überlassen. Sie hatten sich aus den Augen verloren und waren später doch wieder aufeinandergetroffen, um die alte Freundschaft erneut zu besiegeln.

Dem Institut war klar, dass der Ölschock von 1973 allen hochrangigen Geschäftsmännern noch in den Knochen saß. Die ölproduzierenden Länder drosselten die Gewinnung, das Wachstum sank um 6,9 % und es folgten Depression, Deflation, Krise und Zerfall.

Fazit: Christian Haller hat eine klug durchdachte Geschichte geschaffen. Sein Protagonist rutscht immer tiefer in die Machenschaften des Instituts hinein. Zuerst fühlt er sich hofiert, weil ihm Verantwortung übertragen wird, doch dann merkt er, dass er benutzt wird. Es geht um den Austausch von Mitwissenden, um die Manipulation der Gesellschaft und den Erwerb von Spendengeldern durch hochrangige Industrielobbyisten. Die Geschichte liest sich spannend wie ein Krimi. Ich habe mich gut unterhalten gefühlt.

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Veröffentlicht am 14.10.2024

Feminismus in Prosa lesenwert

Verdammt wütend
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Britt ist dreiundvierzig, Mutter der achtjährigen Elise und Ehefrau. Ihre eigene Mutter ging, als sie zwölf war, verschwand einfach während sie in der Schule saß und hinterließ in Britt eine große Menge ...

Britt ist dreiundvierzig, Mutter der achtjährigen Elise und Ehefrau. Ihre eigene Mutter ging, als sie zwölf war, verschwand einfach während sie in der Schule saß und hinterließ in Britt eine große Menge Wut. Die Mutter war oft traurig, rauchte dann Kette und sah aus dem Fenster. In den Anfangsjahren ihrer Eltern hörte Britt die beiden noch oft miteinander lachen, doch dann schlich sich Resignation ins Haus.

Britt hielt sich an alle Regeln. Sie war nett, machte ihre Hausaufgaben, fehlte nie in der Schule. Sie orientierte sich an Mitschülern, versuchte sie nachzuahmen. Als Daniel, den ihre Mitschüler cool fanden mit Emilie schlief, nannten alle Emelie Hure, Daniel blieb der coole und Britt war wütend. Die Aussagen „Stell dich nicht so an, reiß dich zusammen“ machten sie wütend, aber dann riss sie sich zusammen und stellte sich nicht so an. Ihr Vater dagegen

Er war nicht besonders wütend. Nachdem Mama weg war, hatte er eigentlich aufgehört irgendetwas zu sein, er war einfach nur da. S. 25

Ihr Mann Espen war humorvoll. Unbeschwert, wenn sie schwer war, sorglos und frei. Sie war mal in ihn verliebt, weiß aber nicht mehr, wie es sich angefühlt hat. Jetzt daddelt er die meiste Zeit auf seinem Handy oder er verbringt Abende mit seinen Freunden und kommt spät nach Hause, schleicht sich ins Bett und riecht nach Alkohol, während Britt vorgibt zu schlafen.

Einer von Espens Freunden ist die selbstbewusste Niko. Wenn sie ihren Bedürfnissen Ausdruck verleiht, bittet sie einfach. Britt hasst sie dafür, gleichzeitig bewundert sie sie still.

Fazit: Linn Strømsborg hat eine Protagonistin geschaffen, die stereotyp als Mädchen erzogen wurde und sich typisch weibliche Eigenschaften angeeignet hat mit dem Ziel, allen zu gefallen und jedem gerecht zu werden. Statt ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, hat sie die anderer befriedigt. Sie lebt in einer Beziehung, in der nichts schön oder leicht ist, weicht Konflikten aus und funktioniert. Wenn sie etwas für sich einfordert, wird sie nicht ernst genommen und übergangen. Sie hat ein großes Kontrollbedürfnis und malt sich schlimmste Szenarien aus, die ihr zusätzlich schlechte Laune bereiten. Wer wäre da nicht stinkwütend? Die Autorin bringt eine Kontrahentin ins Spiel, eine Frau, wie Britt sie zuvor nicht erlebt hat. Mit ihr kommt sie in den Genuss von Integrität und Veränderung. Ich fand die Erzählart einer Icherzählerin, die wie ein allwissender Erzähler in die Köpfe der anderen Darsteller schaut ungewöhnlich und auch ein bisschen verwirrend. Grundsäzlich aber mochte ich die Stimmfarbe der Autorin und mir gefällt das Thema Feminismus in Prosa zu verpacken. Eine gelungene Geschichte, die ich gerne gelesen habe.

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Veröffentlicht am 07.10.2024

Berührende Geschichte

Und morgen wieder schön
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Nachdem Amandas Vater ihre Mutter verlassen hat, versucht die zu überleben. Sie führt ihren kleinen Friseursalon in der deutschen Provinz mit fester Hand. Ihre beiden Töchter sollen sie dabei unterstützen, ...

Nachdem Amandas Vater ihre Mutter verlassen hat, versucht die zu überleben. Sie führt ihren kleinen Friseursalon in der deutschen Provinz mit fester Hand. Ihre beiden Töchter sollen sie dabei unterstützen, doch für Amandas Ambitionen sind die Wasserstoffperoxidblondierungen und Dauerwellen der älteren Kundinnen nicht genug. Sie stielt ihrer Mutter etwas Geld und macht sich auf den Weg in die Stadt der Liebe, der Mode und des Stardesigners Karl Lagerfeld.

Amanda hat seit jeher fleißig Skizzen ihrer Frisuren angefertigt und in einem Buch gesammelt, damit will sie den Modezar überzeugen. Sie besucht die Museen mit den schönsten Barockmalereien und träumt von ihrem Leben als gefragte Hairstylistin. In einer Pension hat sie von dem Geld ihrer Mutter ein kleines Zimmer gemietet. Doch als die Concierge herausfindet, dass Amanda minderjährig ist, fliegt sie raus.

Niedergeschlagen lungert Amanda am Seineufer herum und beobachtet die Frauen, die sich Geld zustecken lassen und mit fremden Männern Tango tanzen. Sie alle träumen von einer Tanzkarriere im Moulin-Rouge erfährt sie von Cathérine, die aus Köln stammt und ihre beste Freundin wird.

Vor dem Lagerfeldatelier Cloé wartet Amanda auf eine günstige Gelegenheit zum Vorsprechen, doch als sie es endlich schafft, ist Lagerfeld wenig begeistert von der Idee, sie auszubilden und schickt sie zu dem Pariser Star des Frisurenhimmels.

Fazit: Ich muss gestehen, dass ich der Autorin gegenüber voreingenommen war, aber Marie Sand hat mich mit ihrer soliden Geschichte über Amanda von ihrer Schreibkunst überzeugt. Sie schreibt unter anderem über Paris von 1968-1972. Ihre Protagonistin beißt sich mit ihrem feinen und bodenständigen Charakter durch. Ihre Feinde sind die Arroganz der Unerreichbaren und die Alkoholabhängigkeit ihres Vorgesetzten. Nach hartem Kampf in der Unsichtbarkeit ergreift sie günstige Fügungen. Ihr Umfeld lehrt sie nicht nur fügsam zu sein, sondern auch, dass ein Wunsch sich bei genauer Betrachtung nicht mehr so erstrebenswert darstellt. Die Geschichte frei von Phrasen, ist sehr berührend, Amandas Weg bewundernswert. Das habe ich sehr gerne gelesen.

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