Bleibt wachsam - gegen das Vergessen !
Vorweggenommen : Das Buch ist erschütternd, emotional, auf Tatsachen beruhend und absolut lesenswert.
Denn diese Geschichten müssen erzählt werden, gerade jetzt, wo es nur noch wenige Zeitzeugen gibt, ...
Vorweggenommen : Das Buch ist erschütternd, emotional, auf Tatsachen beruhend und absolut lesenswert.
Denn diese Geschichten müssen erzählt werden, gerade jetzt, wo es nur noch wenige Zeitzeugen gibt, die die Verbrechen der Nazidiktatur überlebt haben.
Der Wiener Molden Verlag hat in der feinfühligen Übersetzung aus dem Englischen von Hainer Kober die umfangreichen und mitreissend erzählten Recherchen des 1961 in London geborenen Journalisten Julian Borger herausgebracht.
Erzählt wird in zwölf Kapiteln die Geschichte seines Vaters und weiterer sieben Kinder auf der Flucht vor dem Holocaust.
Diese verbürgten Einzelschicksale stehen exemplarisch für das unermessliche Leid jüdischer Kinder und ihrer Eltern auf der Flucht vor den Nazis in eine ungewisse Zukunft, sie haben im hochwertig gestalteten Buch auch durch Abbildungen ein Gesicht.
Es ist eine Mischung aus Verzweiflung und Weitsichtigkeit, wenn jüdische Eltern aus Wien im Sommer 1938 Kleinanzeigen im >>Manchester Guardian<< schalten, um ihre Kinder vor den Nazis zu retten.
Mögen sich alle Eltern gegenwärtig einmal vorstellen, ihr heranwachsendes, sich mitten in der Entwicklung befindliches und verletzliches 11-jähriges Kind in ein fremdes Land zu fremden Menschen zu verschicken, der Sprache nicht mächtig, die Kommunikation abgeschnitten.
Welche Qualen für beide Seiten - und natürlich ging es auch nicht immer gut, manche Kinder wurden aufgenommen und als zusätzliche Haushaltshilfen vereinnahmt.
Aber sie lebten - zumeist im Gegensatz zu ihren Eltern, denen eine solche Flucht oftmals verwehrt blieb, spätestens nach dem 1. September 1939, als Hitler die Wehrmacht in Polen einmarschieren ließ und Großbritannien Nazideutschland den Krieg erklärte.
Und musste eine Rettung der Kinder ins Ausland überhaupt sein ? Waren die Gräuel der Naziherrschaft voraussehbar oder war die Hoffnung grösser, es sei nur ein vorübergehendes Phänomen, eine Hoffnung, wie es an einer Stelle des Buches heisst, die aus dem tief verwurzelten Glauben an Recht und Unrecht und an Normalität erwuchs ?
Der Ursprungsinstinkt aller Eltern ist es ja, in Zeiten der Gefahr ihre Söhne und Töchter in ihrer Nähe zu behalten.
Es musste sich die bittere Erkenntnis durchsetzen, dass die Eltern nicht mehr in der Lage sein würden, ihre Familien zu beschützen.
Fassungslos wissen wir heute, was damals geschah - und ebenso fassungslos blicken wir in die Gegenwart, wo sich Rechtsextremismus in Deutschland, Österreich, Italien oder Frankreich wieder einnistet.
Die Kinder, wenn denn die achtzig im Manchester Guardian geschalteten Annoncen erfolgreich waren, trafen aber auch auf liebevolle englische >>Ersatzeltern<<, die den Wunsch hatten, den Kindern und Jugendlichen in ihrer Not zu helfen, zuweilen aber eben auch unfähig schienen, wahres Mitgefühl oder Verständnis für ihre Leiden aufzubringen, und sei es deshalb, weil sie anderen Glaubens waren oder unten der Last der Trennung nicht fröhlich genug auftraten.
Denn auch dies gehörte dazu - kaum waren die Kinder in Sicherheit, suchten sie nach einer Möglichkeit, ihre eigenen Eltern zu retten - was für eine belastende Aufgabe.
Durch die Vielzahl der im Buch aufgeführten Schicksale gelingt es Borger, ein breites Spektrum des tödlich praktizierten Antisemitismus aufzuzeigen und zugleich aufzudecken, wie unbehelligt die Täter oftmals blieben, so zum Beispiel SS-Obersturmführer Albert Gemecker, der von 1942 bis 1945 den Transport von achtzigtausend Juden in Konzentrationslager organisierte und später behauptete, er habe keine Ahnung gehabt, was an ihren Bestimmungsorten mit ihnen geschah.
Nach einer sechsjährigen Freiheitsstrafe in den Niederlanden lebte er bis zu seinem Tode 1982 unbehelligt in Deutschland.
Und es wird über Auschwitz berichtet, wo anlässlich einer Inspektion des Roten Kreuzes 1944 eine oberflächliche Normalität inszeniert wurde, nachdem man 7.500 Häftlinge in Todeslager deportiert worden waren, um die Eindruck einer Überbelegung zu vermeiden. Doch all jene, die verzweifelt als Mitwirkende in einem Propagandafilm der Nazis glaubten, so dem Tode angehen zu können, wurden dennoch in Auschwitz ermordet. Fünfzehntausend Kinder wurden durch Theresienstadt geschleust, nur eines von zehn überlebte.
Die Mehrzahl der inserierten Kinder des Guardian hingegen überlebten, ihre Eltern jedoch wurden häufig deportiert und ermordet.
Mit dieser Last mussten die Kinder fertigwerden : das Gewicht des Verlustes und die Schuld des Überlebens.
Die Vergangenheit drohte sie zu vereinnahmen, wenn sie sich zu intensiv mit ihr beschäftigten. Doch auch die Verdrängung der erlittenen Traumen birgt eine Gefahr, die im Falle des Vaters des Autors zum Suizid 1983 führte.
Borger schildert auch die Täter-Opfer-Umkehr in Österreich, ehemalige Wehrmachtssoldaten wurden als vorrangige Opfer betrachtet, deren Interessen durch Kriegsteilnehmerverbände aggressiv vertreten wurden, mehr als ein Hohn für die Opfer und Überlebenden des Holocaust und des NS-Terrors.
Geschichte wiederholt sich - Progrome von Odessa 1906, Novemberpogrome in Deutschland 1938, die Angriffe auf Israel ...
So bleibt dem Buch eine Vielzahl von Lesern zu wünschen, hoffentlich auch als Bestandteil des Geschichtsunterrichts für junge Menschen, unter denen sich schon viel zu sehr rechtsradikale Ideologien manifestierten, die das Einfallstor für weitere Verbrechen längst bereitet haben.