Lügen und Scheinheiligkeit
Die Thematik dieses Romans hat mich stark mitgenommen. Die Situation von Pflegekindern in den Siebzigerjahren auf einem abgelegenen Bauernhof in der Steiermark wird schonungslos dargestellt. Die kleine ...
Die Thematik dieses Romans hat mich stark mitgenommen. Die Situation von Pflegekindern in den Siebzigerjahren auf einem abgelegenen Bauernhof in der Steiermark wird schonungslos dargestellt. Die kleine Steffi auf dem Cover, mit dem Hof im Hintergrund, ist die Erzählerin, und sie berichtet in chronologischer Abfolge, in leicht verständlicher Diktion, von ihrem Leben seit der Geburt 1972 bis in die frühen Zweitausender.
Sie wurde unehelich, Vater Türke, aber angeblich nicht benannt, als siebtes Kind einer primitiven, eiskalten, egoistischen Mutter geboren, die ihr Neugeborenes nicht einmal sehen wollte. Danach kam sie direkt ins Heim und dann mit etwa 3 Jahren, zu einer Pflegefamilie.
Besonders die scheinheilige, angebliche Barmherzigkeit der Pflegefamilie wurde von der katholischen Kirche hochgelobt, aber niemals kontrolliert. Zwar kam jemand von der Fürsorge in längeren Abständen zur Kontrolle, jedoch nahmen sie alle Lügen der Gasteltern hin, denn sie bekamen ja jeweils einen “Fresskorb“.
Somit waren die Pflegekinder schutzlos und ohne Fürsprecher.
Die Pflegekinder auf dem Kellerknecht-Bauernhof wurden aber ausgenutzt bis aufs Blut. Sie wurden schikaniert, drangsaliert und geschlagen, oft ohne Grund. Sie waren kleine Arbeitssklaven, willenlos ausgeliefert, für die die Kellerknechts auch noch pro Kind tausend Schilling im Monat von der Fürsorge kassierten. Alle Pflegekinder waren Kinder zweiter Klasse.
Die leiblichen Kinder bekamen frisches Brot und Schinken, während die anderen Kinder Brotrinden und manchmal Abfälle essen mussten. Oft mussten sie im Stall bei den sauen und den Ferkeln schlafen , die leiblichen Kinder hatten eigene Zimmer mit Spielsachen und ein Bad mit warmen Wasser. Die Pflegekinder mussten barfuß arbeiten, ihre Kinder wurden mit Handschuhen, Schuhen und Arbeitsgeräten ausgestattet.
Leider waren alle Pflegekinder auch schlechte Schüler/innen, denn sie mussten vor der Schule und dem langen Schulweg noch harte Arbeit verrichten. Steffi mußte 50 Kühe im Morgengrauen melken und schlief danach in der Schule ein. Oftmals war die Dusche mit eiskaltem Wasser zeitlich nicht möglich, sie roch nach Stall, und sie wurde von den Mitschüler(n)*innen deswegen ausgelacht und gemobbt.
Aber das Schlimmste waren die jahrelangen Vergewaltigungen durch den Pflegevater, der sie mit äußerster Brutalität nahm. Später sagte sie ( S.437): „Wie konntest du mir das antun. Ich war ein unschuldiges kleines Mädchen. Du hast mich zerstört, kaputtgemacht, meine Seele zertrampelt.“
nachdem Steffi mit 15 Jahren selbst Mutter geworden war aufgrund ihrer naiven Gutgläubigkeit einem Verehrer gegenüber, wurde die Organisation ihres Lebens immer schwieriger. Sie landete bei Nonnen und dann mehrfach in der Psychiatrie, denn die Bewältigung ihrer Traumata wollte ihr nicht gelingen.
Es wird hier nicht verraten, wie ihr Leben weiterging. Wir erfahren aber ihre Entwicklung zu einem selbstbewussten Menschen, denn Hera Lind hat aus Steffis Berichten einen hervorragenden Tatsachenroman gemacht. Frau Lind hat ihre Protagonistin sehr authentisch dargestellt, aber auch den Pflegevater und die leibliche Mutter in ihrer Brutalität und Ignoranz sprachlich gekonnt gezeichnet. Die Lektüre dieses Werkes hat mich sehr zum Nachdenken angeregt. Ich hoffe, dass der Staat sich Pflegekindern gegenüber stark in der Verantwortung sieht und, dass jegliche Ausnutzung und jeglicher Missbrauch strafrechtlich verfolgt wird.
Wenn es mehr als 5 Punkte geben würde, wäre ich dabei.